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§ 4 Geschichte der Kriminologie
I. Anfänge und Wegbereiter kriminologischen Denkens
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Überlegungen zu den Gründen des Straffälligwerdens und zur sozialen Funktion der Strafe finden sich bereits bei den griechischen Philosophen Plato (427-347 v. Chr.), Aristoteles (384-322 v. Chr.) und Hippokrates (460-377 v. Chr.). Das Mittelalter begreift das Verbrechen als Sünde wider Gott und sperrt sich damit gegen weltliche Kriminalitätserklärungen. Immerhin stützt sich das mittelalterliche Inquisitionsverfahren auf experimentelle Techniken der Gerichtsuntersuchung. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts sind Bemühungen um eine richterliche Erforschung der materiellen Wahrheit durch Leichenöffnung und Leichenschau bekannt. Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina, 1532) schreibt bei Tötung und Kindstötung den Sachverständigenbeweis zur empirischen Abklärung der Verbrechensursache vor. Humanismus und Renaissance vermitteln ein neues säkularisiertes Weltbild, das den Menschen als konkretes Individuum in den Mittelpunkt stellt. Die Säkularisierung erfasst auch das Strafrecht, das sich nunmehr von seinen religiösen Bezügen löst und nach einer weltlichen Begründung der Strafe sucht. Spekulationen über gesellschaftliche Verbrechensursachen lösen erstmals eine Kritik der geltenden Strafpraxis aus. So stellt der Humanist Thomas Morus (1478-1535) die bezeichnende Frage nach der „Herkunft der Diebe“ und schlägt eine vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch Minderung von Armut und Elend vor.74
2 Eine systematische Befassung mit Kriminalität setzt im 18. Jahrhundert ein. Die französische Aufklärungsphilosophie bekämpft die „Unvernunft“ mythisch-religiöser Vorstellungen und postuliert die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Damit liefert die Aufklärung die methodischen Instrumente einer Kritik der diesen Idealen widersprechenden Sozialordnung des Ancien Régime. Die Verwirklichung dieser Ideale bildet die politische Rechtfertigung der Revolution von [35]1789. Indem die französische Aufklärungsphilosophie einerseits die Entfaltung säkularer Wissenschaften beflügelt und andererseits eine kritische, auf politische Veränderungen hin abzielende Gesellschaftstheorie anleitet, bildet sie die Basis für eine bipolare Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften, die alsdann in zwei Lager auseinanderdriften. Das eine Lager übernimmt die in den rasch expandierenden exakten Naturwissenschaften entwickelten Methoden empirischer Beschreibung und Erklärung in die Gesellschaftswissenschaften und unterwirft diese einem sozialtechnologischen Erkenntnisinteresse. Das andere Lager bezieht Ideale, die auf eine Gesellschaftsveränderung abzielen, in die Theoriebildung ein und verfolgt damit ein kritisches Erkenntnisinteresse.
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Beide Lager finden sich in der Folge zeitversetzt in der Kriminologie vertreten: Während die Klassische Schule der Kriminologie des 18. Jahrhunderts noch beide Erkenntnisinteressen zu verfolgen trachtet, wird im 19. Jahrhundert in der anthropologisch-positiven Schule (→ § 4 Rn 19) ein sozialtechnologischer Umgang mit Kriminalität ausgebildet.
II. Die Klassische Schule des 18. Jahrhunderts
Lektüreempfehlung: Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M., 93-132; Naucke, Wolfgang (1989): Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria. In: Deimling, Gerhard (Hrsg.): Cesare Beccaria. Die Anfänge moderner Strafrechtspflege in Europa. Heidelberg, 37-53.
4 Noch nicht 26jährig, veröffentlicht der Mailänder Graf Cesare Beccaria Bonesana (1738-1794) 1764 ein schmales Buch unter dem Titel „Dei delitti e delle pene“ („Über Verbrechen und Strafen“). Diese bald ins Französische und ins Deutsche übersetzte Schrift entfacht in wenigen Jahren europaweit eine hitzige Debatte über Strafgesetzgebung und Kriminalpolitik. So verfasst Voltaire (1694-1778) 1766 einen Kommentar zu diesem Buch, der mit den Worten beginnt:
„Ich stand mitten in der Lektüre des kleinen Buchs über Verbrechen und Strafen, das in der Moral ist, was in der Medizin die wenigen Heilmittel sind, mit denen unsere Übel erleichtert werden können. Ich schmeichelte mir, dieses Werk werde den Rest der Barbarei im Rechtswesen so vieler Nationen verringern; ich hoffte auf einige Reformen im Menschengeschlecht […].“75
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Beccarias Werk, dessen Titel bereits den Zusammenhang des Verbrechens mit der Gesellschaft betont, liest sich heute als eine humanitäre Kritik der sinnlosen Brutalität des menschenunwürdigen Strafrechts seiner Zeit und als Grundlegung eines modernen und effizienzorientierten Strafrechts. Die in einem politisch-philosophischen Räsonnement vorgetragene Kritik wendet sich gegen ein despotisches und irrationales Strafrecht, das Handlungen ohne Rücksicht auf die Verletzung sichtbarer Rechtsgüter pönalisiert. Angeprangert wird die Nutzlosigkeit und Ungerechtigkeit der Todesstrafe und der Folter. Gefordert wird ein für alle gleiches gesetzlich bestimmtes Strafrecht, das sich an der Sozialschädlichkeit von unter Strafe gestellten Handlungen ausrichtet und das von einem unabhängigen gesetzlichen Richter vollzogen wird.
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Die Grundannahme der Aufklärung, dass alle Menschen gleich und frei seien, formt das Menschenbild eines rational und autonom handelnden Individuums. Für das Kriminalitätsverständnis folgt daraus, dass prinzipiell jeder Mensch fähig ist, eine unter Strafe stehende Handlung zu begehen und es keine individuellen Ursachen des Straffälligwerdens jenseits der freien Entscheidung des Täters gibt. Damit werden mögliche täterorientierte Erklärungen des Straffälligwerdens, welche das strafbare Verhalten von Umständen jenseits des freien Willens als abhängig erscheinen lassen, verworfen.
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Die Ursachen der Kriminalität bestimmt Beccaria vor allem in einer unvernünftigen Gesetzgebung, welche die Zahl der mit Strafe bedrohten Handlungen vermehrt, anstatt sie zu vermindern, die widersprüchliche, für den Bürger unverständliche Gesetze produziert, welche die natürlichen Rechte des Individuums missachtet und die Furcht zwischen den Bürgern steigert. Weitere Ursachen sind eine korrupte Rechtsprechung, ein gesetzlich unzureichend geregeltes Strafverfahren sowie die Begünstigung des Denunziantentums durch geheime Anklagen. Damit sind für Beccaria die Ursachen der Kriminalität im Kriminaljustizsystem selbst, in seiner unvernünftigen und ungerechten Struktur, angelegt. Eine erfolgreiche Verbrechensvorbeugung erfordert deshalb einen grundlegenden Wandel des Strafrechts und seiner Anwendung, ja letztlich der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse.76 Nicht von ungefähr ist Beccarias Mailänder Lehrstuhl der „Politischen Ökonomie und Wissenschaft der Polizei“ gewidmet, wobei „Polizei“, dem griechischen politeia folgend, sich umfassend mit der Innenpolitik befasst.
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Der Erklärungsansatz Beccarias besitzt Aktualität. Indem er die Verbrechensursachen in kriminogenen Befindlichkeiten des Kriminaljustizsystems und in der gesellschaftlichen Makrostruktur sucht, deutet er die Kriminalität als ein rechtlich und gesellschaftlich produziertes Phänomen, das durch die soziale Reaktion darauf erklärbar wird.
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Für die von Beccaria geprägte Klassische Schule folgt – anders als für den philosophischen Idealismus Immanuel Kants (1724-1804) – die Notwendigkeit einer rechtsstaatlichen Mäßigung der Strafgewalt aus Nützlichkeitserwägungen. Das Übermaß der Züchtigungen wird weniger als Missbrauch denn als Regellosigkeit und fehlende Ökonomie des Strafens kritisiert. Die Klassische Schule propagiert mit ihrer humanitär motivierten Kritik keine neue Empfindsamkeit, sondern ein neues ökonomisches Kalkül des Strafens, das dessen Wirksamkeit und soziale Akzeptanz erhöhen soll. Die Strafe dient nunmehr zur differenzierten Behandlung der Gesetzwidrigkeiten. Die Willkür und Maßlosigkeit wird ersetzt durch eine proportionale Ökonomie, die nur gerade so viel bestrafen will, wie ausreicht, um Delikte zu verhindern.77 Damit wird die Grundlage für ein präventionsbezogenes und effizienzorientiertes Strafrecht gelegt, das sozialtechnisch bestimmt ist.
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Diese Entwicklungslinie der Klassischen Schule wird besonders in England weiterverfolgt. Der von Jeremy Bentham (1748-1832) geprägte britische Utilitarismus ist um höchste technologische Strafeffizienz bemüht. In diesem Sinne schlägt Bentham Gefängnisbauten in Form eines die totale Überwachung ermöglichenden Panopticons vor. Für den Utilitarismus sind menschliche Handlungen vom Streben nach persönlichem Wohlergehen und der Vermeidung von schmerzhaftem Leid motiviert. Die Aufgabe des Strafrechts besteht folglich in der Sicherstellung, dass das angedrohte Leid der Bestrafung potentielle Täter von dem mit Straftaten verbundenen persönlichen Gewinn abschrecken wird. Die Vorstellung der Strafe als eine Art ökonomische Lenkungsmaßnahme, die potentielle Täter in ihrer autonomen Entscheidung für oder gegen ein Straffälligwerden beeinflussen könne, wird in der Gegenwart von der neoklassischen ökonomischen Kriminalitätstheorie wieder aufgegriffen (→ § 12 Rn 11 ff.).
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Die Klassische Schule bildet die Kriminologie noch nicht als eigenständiges Fach aus. Die Befassung mit Kriminalität erfolgt nicht aus Expertensicht, sondern aus der Perspektive einzelner Universalgelehrter und folgt dem zwiespältigen Anliegen einer humanitären und zugleich effizienzorientierten Strafrechtskritik. Bewusst wird auf die Suche nach charakteristischen Merkmalen von Rechtsbrechern verzichtet. Ein Konzept für einen speziell auf Kriminalität bezogenen Untersuchungsansatz fehlt. Das Verbrechen wird als eine allgegenwärtige Versuchung für alle Menschen betrachtet. Differenzierende Erklärungen dafür, warum einige dem Verbrechen verfallen und andere nicht, werden nicht gegeben.
[38]III. Die Herausbildung der modernen Kriminologie im 19. Jahrhundert
Lektüreempfehlung: Becker, Peter (2002): Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen, 11-34; Crews, Angela D. (2009): Biological Theory. In : Miller, J. Mitchell (Hrsg.): 21st Century Criminology. A Reference Handbook. Thousand Oaks, 184-200; Debuyst, Christian u. a. (2008): Histoire des savoirs sur le crime et la peine. Tome 1: Des savoirs diffus à la notion de criminel-né. Bruxelles.
12 Nachdem das Bürgertum an die Macht gelangt ist, setzen sich die Vorstellungen Beccarias nur unvollkommen durch. Das ökonomische Kalkül des Strafens der Klassischen Schule ist auf eine Gesellschaft gleicher, wirtschaftlich und politisch emanzipierter Citoyens gemünzt. Mit dem Aufkommen des Industrieproletariats und der zunehmenden Verhärtung der Klassenauseinandersetzung verliert Beccarias Konzept seinen gesellschaftlichen Bezug. Die weitgehend mit Armut und Elend zusammenhängende Kriminalität wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Gefahr für das Bürgertum durch verderbte, Freiheiten missbrauchende Gauner interpretiert. Der moralisierende Diskurs über das verbreitete Gaunertum dient dem Schutz von Eigentum und Privilegien der wohlhabenden Bürger und legitimiert sicherheitspolizeiliche Interventionen.
13 Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts bestimmen zwei weitere, einander konträre Vorstellungen das Bild des Kriminellen: Der sozial verelendete und der von seiner Natur her degenerierte, krank entartete Mensch. In Abgrenzung von der Klassischen Schule verbindet sich mit beiden Vorstellungen eine Abhängigkeit der Kriminalität von determinierenden Umständen, welche das Individuum dauerhaft prägen und besonders die karrierehafte schwerwiegende Kriminalität erklären sollen.78 Erstmals in Frankreich erfolgt durch Alexandre Lacassagne (1843-1924) und Gabriel Tarde (1843-1904) eine milieubezogene Betrachtung des Verbrechens. Die frühen Studien formulieren eher Programmsätze als prüfbare Annahmen (Lacassagne: „Les sociétés ont les criminels qu’elles méritent!“) und verfolgen keine spezifischen Ziele der Kriminalitätsprävention, sondern wollen allgemeiner private karitative Bemühungen in Abstinentenverbänden und Besserungsvereinen sowie staatliche Benachteiligtenhilfe fördern.
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Eine zunächst ähnlich vorwissenschaftliche Neugier richtet sich auf die aus physikalischen Eigenheiten von Individuen erkennbare naturhafte Veranlagung zum Verbrechen. Die Physiognomie als die Lehre von der charakterlichen Bestimmung eines Menschen durch äußerliche Merkmale wird bereits von Aristoteles praktiziert [39] und erstmals 1586 von Giambattista della Porta (1535-1615) systematisch entwickelt. Ausgangs des 18. Jahrhunderts studiert der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741-1801) die Gesichtszüge hingerichteter Missetäter und leitet daraus eine „Kriminalphysiognomie“ ab.79 Wenige Jahrzehnte später schließt der badische Arzt Franz Josef Gall (1758-1828) aus der Schädelform des Menschen, die sich den je individuell ausgeprägten Hirnteilen anpasse, auf charakteristische Anlagen und begründet mit seiner „Cranioscopie“ genannten Methode die später umfassend auf Gehirn, Veranlagung und Verhalten bezogene Phrenologie.80
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Die moderne Kriminologie als Fach mit einem systematisch erlangten und wissenschaftlich akkreditierten Wissensbestand entwickelt sich, als im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts das wissenschaftliche Interesse an einer Erklärung der Ursachen von Kriminalität mit den spezifischen administrativen Bedürfnissen des Kriminaljustizsystems zusammentrifft. Die Verbindung des wissenschaftlich auf die Kriminalitätsursachen gerichteten, also ätiologischen, mit dem auf staatliche Kriminalitätsbekämpfung gerichteten gouvernementalen Anliegen erschafft die Kriminologie als Wissenschaft der Kriminalitätsursachenergründung im Dienste der staatlichen Kriminalitätskontrolle. Noch immer sind es die gesellschaftliche Umwelt und die natürliche Veranlagung, die als Kriminalitätsursachen in den Blick genommen werden. Aber nun erfolgt die Prüfung möglicher Ursachen professionalisierter und mit klarem Fokus auf die Optimierung der Kriminalitätskontrolle.
16 Seither ist die Kriminologie im Kräftefeld zwischen wissenschaftlicher Autonomie und Praxisnutzen gefangen und bewegt sich darin auf unterschiedlichen Positionen. Dies hätte sich auch anders entwickeln können: Das theoretische Projekt einer akademischen Wissenschaft der gesellschaftlichen Normabweichung ohne strafrechtlichen Themen- und Relevanzbezug wäre ebenso möglich gewesen wie eine auf die Zulieferung nützlicher Informationen gepolte instanzenabhängige Institution ohne akademischen Anspruch.81
17 Die gesellschaftliche Beeinflussung der Kriminalität wird von dem französischen Soziologen Emile Durkheim (1858-1917) auf Modernisierungsprozesse in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft bezogen und führt zu einer eigenständigen Kriminalitätserklärung aus einem „anomisch“ genannten gesellschaftlichen Zustand (→ § 9 Rn 3 ff.). Ähnlich ambitiös ist die von dem Belgier Lambert Adolphe Quételet (1796-1874) in seiner „Physique Sociale“ von 1834/35 entwickelte Politische Arithmetik.82 In dieser „Sozialen Physik“ geht es darum, menschliche Handlungen, die einzeln betrachtet willkürlich erscheinen, in ihrer Gesamtheit zu studieren und dabei statistische Gleichförmigkeiten zu erkennen. Gerade bei der mengenmäßigen [40]Betrachtung von Verbrechen, bei denen man eigentlich annehmen würde, dass sie der menschlichen Voraussicht entgehen, sei eine auffällige Beständigkeit hinsichtlich Art und Häufigkeit, die Voraussagen erlaube, erkennbar. Der Gebrauchsnutzen der Kriminalarithmetik wird ausdrücklich darin gesehen, durch die Betrachtung der Kriminalität als aggregierte Datenmenge zu einem vernunftgerechten Einsatz der Ressourcen des Kriminaljustizsystems beizutragen:
„Es gibt ein Budget, das mit erschreckender Regelmäßigkeit bezahlt wird, nämlich das der Gefängnisse, der Galeeren und Schafotte. […] Wir können im voraus aufzählen, wie viele ihre Hände mit dem Blute ihrer Mitmenschen besudeln werden, wie viele Fälscher, wie viele Giftmischer es geben wird, fast so, wie man im voraus die Geburten und Todesfälle angeben kann, die einander folgen müssen.“83
18 Das Ende des 19. Jahrhunderts ist durch einen kometenhaften Fortschritt in den medizinischen und biologischen Wissenschaften geprägt. Charles Darwins (18091882) Theorie der Evolution kraft natürlicher Selektion wird von Herbert Spencer (1820-1903) auf das Prinzip des survival of the fittest zugespitzt und auf das Lebewesen Mensch und gesellschaftliche Prozesse übertragen. Dies bildet nunmehr den theoretischen Deutungsrahmen für die Entstehung von Kriminalität. Zudem kommt die für die Psychologie folgenreiche Vorstellung auf, Menschen verrieten ihre Charaktereigenschaften unbewusst durch die Art ihres Benehmens, durch ihre Körpersprache und Mimik. Die Zurückführung der Kriminalität auf dauerhafte und vererbliche Einflüsse der menschlichen Natur verdrängt nunmehr Spekulationen über gesellschaftliche Faktoren und wird zur dominanten monokausalen Kriminalitätserklärung. Die Identifizierung und Aussonderung von Individuen mit negativ bestimmten, als dauerhaft und vererblich eingeschätzten Eigenschaften ist ein seit der Antike bekanntes Mittel staatlicher Bevölkerungskontrolle, welches nunmehr zum Programm einer naturwissenschaftlich „rationalen“ staatlichen Kriminalitätsbekämpfung gemacht wird.84
19 Das Bemühen um methodische Tatsachenerkenntnis der biologischen Einflüsse auf Kriminalität führt zur Bildung der „positiven“ biologisch-anthropologischen Schule. Diese findet in den stark belegten Gefängnissen des 19. Jahrhunderts ein Observatorium, in dem der homo criminalis in Aussehen, Konstitution und Alltagsverhalten durch Verhaltensforscher und Ärzte studiert werden kann. Die dort mögliche Beobachtung dient der Optimierung der dem Strafvollzug zugedachten Wirkungen: In der Tradition der (wörtlich zu nehmenden) Korrektur-Anstalt und des Zucht-Hauses sucht man in den Strafanstalten Arbeitsdisziplin zu vermitteln. Damit soll innerhalb der Gefängnispopulation eine Auslese getroffen werden zwischen den an die Arbeitsmoral Anpassungsfähigen, die sich alsbald in Freiheit bewähren [41] dürfen, und den Unverbesserlichen. Prägend ist die Vorstellung, dass es neben besserungsfähigen die unverbesserlichen Straftäter gebe, die unschädlich zu machen seien. Von daher ist es nur folgerichtig, dass sich das Augenmerk der Kriminologie nunmehr auf die Identifizierung jener unverbesserlichen Straftäter richtet, deren Natur zum Verbrechen drängt.85
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Gründer und Leitfigur der positiven Schule ist der Veroneser Arzt Cesare Lombroso (1836-1909). Dieser entwickelt in seinem 1876 erschienenen Buch „L’uomo delinquente“86 das biologische Verständnis der Kriminalität zu einem in sich geschlossenen Erklärungsansatz mit wissenschaftlichem Anspruch. Die klassische Prämisse rational und willensfrei handelnder Individuen wird durch die Annahme ersetzt, menschliches Verhalten sei durch angeborene Charakterzüge determiniert. Die Menschen werden nicht als gleich verstanden, sondern unterschiedlichen Typen zugeordnet, von denen jeder eine bestimmte charakteristische Neigung zur Tugend oder zum Laster besitzt. Daraus folgt, dass die Kriminalität nunmehr täterbezogen erklärbar wird durch die mit medizinisch-naturwissenschaftlichen Untersuchungen zu erlangende Erkenntnis jener Faktoren, welche die fundamentalen angeborenen Unterschiede zwischen den Kriminellen und den übrigen Menschentypen ausmachen.
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Untersuchungen an Sträflingen und teils gewagte, durch Darwins Evolutionstheorie inspirierte Mutmaßungen lassen Lombroso annehmen, Verbrecher seien an ererbten körperlichen und seelischen Anomalien wie fliehende Stirn, hohe Backenknochen, krauses Haar, Gemütlosigkeit, Grausamkeit, Hemmungslosigkeit und weitgehende Schmerzunempfindlichkeit erkennbar. Der Verbrecher verkörpere einen Rückfall in frühe Entwicklungsstadien der Menschheit, ein von tierähnlichen Trieben beherrschtes wildes, atavistisches Wesen. Aufgrund ihrer ererbten und daher unveränderlichen Anlage würde jedenfalls ein Teil der Delinquenten (bis zu 35 %) zwanghaft zum Verbrechen getrieben; diese verkörperten den anthropologischen Typus des „geborenen Verbrechers“.
„Wer uns bis hierher gefolgt ist, wird zugeben, dass viele Charaktere, welche die Wilden darbieten, sich sehr oft bei den geborenen Verbrechern finden, so z.B. die geringe Körperbehaarung, die geringe Schädelkapazität, die fliehende Stirn, die stark entwickelten Sinus frontales, die grosse Häufigkeit der Schaltknochen, die frühzeitigen Synostosen, das Vorspringen der Schläfenbogenlinie, die Einfachheit der Nähte, die grössere Dicke der Schädelknochen, die gewaltige Entwicklung der Kiefer und Jochbögen, die Prognathie, die Schiefe der Orbiten, die starke Pigmentation der Haut, das dichte krause Haar, die grossen Ohren, ferner der Lemuren-Fortsatz des Unterkiefers, die Anomalien des [42]Ohrs, das Diastem, die grosse Agilität, die Herabsetzung der Berührungs- und Schmerzempfindung, die hohe Sehschärfe, die Gleichgültigkeit gegen Verletzungen, die Gefühlsabstumpfung, die Frühzeitigkeit der sexuellen Regungen, die zahlreichen Analogien zwischen beiden Geschlechtern, die geringe Besserungsfähigkeit des Weibes (Spencer), die Faulheit, das Fehlen von Gewissensvorwürfen, die Haltlosigkeit, physisch-psychische Erregbarkeit, die Unvorsichtigkeit, welche manchmal wie Mut aussieht und der Wechsel von Wagehalsigkeit und Feigheit, die grosse Eitelkeit, die Spielleidenschaft und die Neigung zum Alkoholismus, die Gewalttätigkeit und die Flüchtigkeit ihrer Leidenschaften, der Aberglaube, die aussergewöhnliche Empfindlichkeit in Bezug auf die eigene Persönlichkeit und der besondere Begriff von Gott und von Moral.“87
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Die kriminalanthropologischen Studien Lombrosos sowie seiner Schüler Enrico Ferri (1856-1929) und Raffaele Garofalo (1851-1934) finden in der Fachwelt unterschiedliche Wertschätzung. Für die einen sind diese Studien eine Stammwurzel der empirischen täterbezogenen Kriminologie, der gerichtlichen Psychiatrie und der Rechtspsychologie.88 Für andere sind die vertretenen Annahmen grotesk und wissenschaftlich unhaltbar. Die Darstellung des geborenen Verbrechers wird verbreitet als eine zerrbildliche Kuriositätenmalerei verstanden, die den Mythos von der Bestialität des „Wilden“ in eine empirische Form zu bringen sucht. Bereits die Prämisse von der Wildheit als dem Ursprung des Bösen ist wissenschaftlich nicht begründbar, wie die Gegenposition von Friedrich Nietzsche (1844-1900) belegt, der den Gewaltüberschwang des Lebens nicht bloß als Ausdruck von Gesundheit, sondern gar von Moral versteht89. Zeitgenössische empirische Studien etwa durch den Berliner Gefängnisarzt Baer und den englischen Psychiater Goring90 bestreiten die biologische Bestimmbarkeit eines Verbrechertypus.
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Aus heutiger Sicht ist die positive Schule angreifbar. Methodisch ist sie unzulänglich: Zu kleine Untersuchungseinheiten, kaum Vergleichsgruppen, Beschränkung auf Extremgruppen von Straftätern. Ihre Rolle in der nationalsozialistischen Rassen- und Sippenforschung ließ eine Art Berührungsangst gegenüber biologischen Kriminalitätserklärungen aufkommen. Freilich erlebt derzeit der Versuch, das Verbrechen auf die menschliche Natur zurückzuführen, eine neue Blüte (→ § 7 Rn 16 ff.; § 8).91
[43]24 Die Einseitigkeit der biologischen Verbrechenserklärung ließ die Erklärung stets umstritten bleiben. Der im Umfeld der Instanzen der Kriminalitätskontrolle zwischen Medizinern und Psychiatern gegen Soziologen ausgetragene Streit um den Anlagen- oder Umwelteinfluss auf die Kriminalität erschien den Praktikern bei Polizei, Strafjustiz und Strafvollzug bald als müßig. Im Interesse konkreter Reformen drängen die Praktiker auf eine nicht wissenschaftlich begründete, sondern eher im Sinne eines pragmatischen Kompromisses zu verstehende Formel, dass das Verbrechen sowohl durch die Anlage als auch durch die Umwelt beeinflusst werde. Dieser Kompromiss wird von der 1888 gegründeten Internationalen Kriminalistischen Vereinigung beschlossen und durch den Strafrechtsreformator Franz von Liszt (1851-1919) als Vereinigungsgedanken formuliert:
„Das Verbrechen ist […] wie jede menschliche Handlung, das notwendige Ergebnis aus der teils angeborenen Eigenart des Täters einerseits, der ihn im Augenblick der Tat umgebenden gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen Verhältnisse andererseits.“92
25 Ein solches „sowohl als auch“ ist weithin konsensfähig, weil es unter Ausklammerung eines unentscheidbaren wie unergiebigen theoretischen Disputs sich den kleinsten gemeinsamen Nenner der Theorieannahmen zu Eigen macht. Dies entspricht nicht nur dem gerne bemühten „gesunden Menschenverstand“, der schon immer um das Körnchen Wahrheit wusste, das jeder Erklärungsmöglichkeit von Kriminalität eigen ist. Mehr noch bietet eine derartige sowohl-als-auch-Haltung den Vorzug, einerseits Behandlungsmaßnahmen des Rechtsbrechers zu rechtfertigen und andererseits eine Erklärung für den möglichen Fall ihres Scheiterns bereitzuhalten. Gelingt die Resozialisierung des Straffälligen, so verdankt sich dies dem glücklichen Umstand, dass der therapeutische Hebel just an der Stelle angesetzt wurde, welcher im Einzelfall für das Zustandekommen kriminellen Verhaltens ausschlaggebend war; scheitert hingegen die Therapiebemühung, so erklärt sich dies aus den notgedrungen beschränkten Möglichkeiten einer Behandlung mit den Mitteln des Strafrechts, die eine durchgreifende Beeinflussung sämtlicher vorhandener Anlage- und Umweltdefizite nicht zulassen.
26 Die von verschiedenartigen Ursachen der Kriminalität ausgehende, also: multikausale Kriminalitätserklärung (→ § 10 Rn 12 ff.) kommt verbreiteten Vorstellungen entgegen, wie sie in einem gemäßigten kriminalpolitischen Klima, das der Prävention Vorrang vor der Repression einräumt, eine gute Sozialpolitik als die beste Kriminalpolitik versteht und die Besserung des Rechtsbrechers zur vordringlichen Aufgabe des Strafrechts erklärt, vorherrschen. Mit seiner Marburger Antrittsvorlesung 1882 („Marburger Programm“93) beeinflusst von Liszt dieses Klima maßgeblich und stellt damit die Weichen für das spezialpräventive Behandlungsstrafrecht.
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Die Vermählung von wissenschaftlicher Kriminalitätsursachenforschung mit staatlicher Kriminalitätsbekämpfung, welche die moderne Kriminologie kennzeichnet, vollendet sich um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Generation der Schüler von Lacassagne und Lombroso. Die Schülergeneration entstammt verschiedenen Nationen und Berufsgruppen. Sie setzt sich aus Medizinern, Naturwissenschaftlern, Soziologen und zunehmend Juristen zusammen. Sie ist nicht auf eine bestimmte Bezugswissenschaft fixiert, sondern eher an der kriminalpolitischen Nutzbarmachung des breiten Spektrums bezugswissenschaftlicher Problemzugänge.
IV. Der Ausbau der Kriminologie in den USA
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Im 20. Jahrhundert entwickelt sich die Kriminologie in den USA zu einer vom Strafrecht institutionell unabhängigen Disziplin. Das beginnende Jahrhundert verändert die nordamerikanische Gesellschaft rasch und grundlegend. Einwanderung und Industrialisierung bewirken eine Expansion der Großstädte. Die Bevölkerung Chicagos verdoppelt sich binnen 20 Jahren. Die Einwanderer sind zumeist mittellos, finden keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit und siedeln in Elendsquartieren. Die Prohibition erlaubt Riesengewinne aus dem illegalen Verkauf von Spirituosen, über die sich rivalisierende Banden streiten.
29 1899 wird in Chicago unter dem Einfluss der religiös-moralischen Bewegung der „Kinderretter“ das erste Jugendgericht gebildet. Mit der Gründung des American Institute of Criminal Law and Criminology 1909 in Chicago setzt eine intensive, von Anbeginn an praxisnahe Forschungstätigkeit ein. Die so genannte Chicagoer Schule befasst sich soziologisch und sozialpsychologisch mit schädlichen gesellschaftlichen Einflüssen und erschließt das Praxisfeld der Sozialarbeit. Erklärungsbedarf besteht nunmehr für den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und der Kriminalität. Die aus Frankreich stammende milieubezogene Betrachtung (→ § 4 Rn 12), insbesondere die inzwischen veröffentlichten Arbeiten des französischen Soziologen Durkheim, lenken die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Strukturen und die darin enthaltenen sozialen Spannungen (→ § 9 Rn 3 ff.). Soziale Desorganisation und Chancenungleichheit werden für die Konzentration der Kriminalität in gesellschaftlich benachteiligten Kreisen als bestimmend erkannt.
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Beobachtungen zeigen, dass kriminelles Verhalten in bestimmten Kontakten „differentiell“ erlernt wird (→ § 10 Rn 25 ff.) und vom differentiell verteilten Zugang zu illegitimen Mitteln abhängt (→ § 9 Rn 23 ff.). Das Lernen erfolgt oft kollektiv, indem sozial Benachteiligte in einer „Subkultur“ zusammenfinden, welche Werte[45] pflegt, die von dem dominierenden mittelschichtbestimmten Wertesystem abweichen (→ § 10 Rn 28 ff.). Feldstudien weisen darauf hin, dass Kriminelle aus der Unterschicht sich gegenüber den Wertvorstellungen ihrer Schicht konform verhalten, diese Wertvorstellungen aber von denjenigen der maßgeblichen Mittelschicht abweichen. Der „Kulturkonflikt“ erlaubt oder verlangt sogar Rechtsbrüche, um dem Wertesystem der Unterschicht treu zu bleiben.
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Daneben werden Studien zu den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens fortgeführt. Die rein anlagebezogene, auf vererbliche biologische Defizite gerichtete Kriminalitätserklärung Lombrosos wird um andere mögliche biologische Faktoren ergänzt. Vor allem wird nunmehr angenommen, der Anlageeinfluss präge bloß eine Prädisposition, die sich erst unter bestimmten Umwelteinflüssen zu abweichendem und kriminellem Verhalten ausbilde (→ § 7 Rn 4 f.). Unter dem Einfluss der Psychologie und der Psychiatrie werden persönlichkeitsbezogene Kriminalitätserklärungen entwickelt (→ § 8), die sich auf die wiederholte Begehung schwerer Gewalt- und Sexualstraftaten konzentrieren und teils „antisoziales“ Verhalten mit einer „psychopathischen“ Persönlichkeit in Zusammenhang bringen oder, im Sinne des Mehrfaktorenansatzes (→ § 4 Rn 24 ff.; § 10 Rn 12 ff.), ein Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren annehmen.