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§ 2 Der Forschungsgegenstand und seine Erschließung: Kriminalität erklären oder verstehen?

[35] Lektüreempfehlung: Reckwitz, Andreas (2012): Die Transformation der Kulturtheorien. 3. Aufl., Weilerswist, 13-26.

I. Der Forschungsgegenstand

1 Nach konventionellem Verständnis lässt sich der Gegenstand kriminologischer Forschung als Trias darstellen und umfasst

■ die gesellschaftlich, vor allem rechtlich, als „kriminell“ gedeuteten Verhaltensweisen;

■ die Personen, die sich dergestalt verhalten oder denen solches Verhalten zugeschrieben wird;

■ die gewählten Reaktionsweisen auf dieses Verhalten, ihren Zusammenhang mit Verunsicherungsgefühlen und Punitivitätserwartungen und die gesellschaftliche Sinnbestimmung von Reaktionen auf Kriminalität.

Um es prägnant auszudrücken: Die Kriminologie ist

„a study of lawmaking, lawbreaking, and reactions to lawbreaking“31.

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Diese drei Teile des kriminologischen Forschungsgegenstandes geben eine sehr grobe Übersicht über relevante Themenbereiche.32 Einzelne Richtungen der Kriminologie konzentrieren sich in der Regel auf bestimmte Themenbereiche und betrachten diese unter einem bestimmten Blickwinkel (→ §§ 4-13). Die Themenbereiche untergliedern sich in verschiedene Forschungsfelder. So bezieht sich der Reaktionsbereich auf die Erfassung der Kriminalität als zählbares Merkmal sozialer Einheiten (→ §§ 15-18) wie auf die Wirkungen strafrechtlicher Sanktionen (→ § 20). Mitunter verlangt ein Thema eine bereichsübergreifende Betrachtung wie bei der Kriminalprävention und -prognose, wo die Möglichkeit der Beeinflussung individuellen Verhaltens (auch) mit Mitteln strafrechtlicher Sanktionen und begleitender Therapie von Interesse ist. Die kriminologischen Themenfelder sind um neue Bereiche erweiterbar. So hat sich, analog zur [36] traditionell täter:innenbezogenen Ursachenforschung strafbaren Verhaltens (→ §§ 6-13), eine gleichermaßen ätiologisch ausgerichtete, also an Ursachen interessierte, „Viktimologie“ genannte Opferforschung entwickelt (→ § 18 Rn 22 ff.). Schließlich haben die kriminologischen Themenfelder Außenbezüge etwa zur Kriminalistik (→ § 1 Rn 2) und zur Kriminalpolitik (→ § 21 Rn 3 ff.).

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Mit einer solchen Definition des Forschungsgegenstandes ist aber weniger gewonnen als auf den ersten Blick scheinen mag. Denn wie jede verallgemeinernde sprachliche Kategorie benennt „Kriminalität“ keine Sachverhalte, sondern deutet sie. Die Kategorie stellt Gemeinsamkeiten her, welche keine Gemeinsamkeiten der Sachverhalte sind, sondern Verwandtschaftsbeziehungen beim Begreifen der Sachverhalte. „Kriminalität“ schreibt die Attribution „kriminell“ im Wege des strafrechtlichen Vorwurfs zu. Freilich bezeichnet die Zuschreibung dabei nicht, wie gemeinhin angenommen, direkt und unvermittelt ein von ihr unabhängig und vorgängig existentes Verhalten an sich. Vielmehr deutet die Zuschreibung selbst das Verhalten als kriminell, gibt ihm einen hinweisend bewertenden Eindruck und bettet es darin ein. Erst das sinngebende Begreifen macht das Verhalten zum kriminellen Verhalten. Die Charakteristik des kriminellen Verhaltens liegt in seiner Charakterisierung als solches.

4 Kriminalitätsdefinitionen der Kriminaljustiz und der Gesellschaft sind stets Ergebnisse eines Bestimmungsvorganges, welcher unter konkreten historischen und sozialen Bedingungen abläuft. Damit erstreckt sich das kriminologische Erkenntnisinteresse auf die Umstände solcher Bestimmungen, ihre geschichtlichen und gesellschaftlichen Differenzen, ihre Selektivität und die damit verfolgten Interessen. Der kriminologisch relevante Themenbereich umfasst deshalb nicht nur als kriminell gedeutete Handlungen und ihre Verursachung, sondern gleichermaßen die Bedingungen der strafrechtlichen und gesellschaftlichen Bestimmung als Kriminalität. Es geht zentral um die gesellschaftliche Konstruktion von Kriminalität (→ § 13 Rn 7 ff.). Ein gesellschaftlich produzierter Gegenstand kann nur unter Mitberücksichtigung seiner sozialen Produzierenden und Produktionsbedingungen angemessen erfasst werden. Die Kriminalität ist, ihrer ursprünglichen lateinischen Bedeutung entsprechend, notwendig im Zusammenhang mit ihrer Kontrolle zu betrachten. Das Forschungsinteresse richtet sich damit auf die Regeln der gesellschaftlichen Vergabe des Etiketts Kriminalität. Da das Verständnis eines Verhaltens als Kriminalität durch Kontrollvorgänge geschaffen wird, erscheint für manche Kriminolog:innen zweifelhaft, ob daneben überhaupt noch Erklärungsbedarf für die Beschaffenheit der so getauften Verhaltenspraxis besteht.

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[37] Den Schwierigkeiten einer angemessenen Bestimmung des Forschungsgegenstandes ist die Kriminologie nicht allein ausgesetzt.33 Die Probleme spiegeln vielmehr den Zustand einer fortgeschrittenen Sozialwissenschaft wider, welche sich ihres reflexiven Charakters bewusst wird. Dieser besteht darin, dass sozialwissenschaftliche Disziplinen die Gesellschaft zum Forschungsgegenstand machen, deren Bestandteil sie selbst sind. Die angesprochenen Probleme rühren daher, dass die in naiver Annäherung gewählte Frage nach Aufgabe und Gegenstand der Kriminologie nur eindeutig zu beantworten wäre, wenn man mit dem Erklärungsmodell annehmen könnte, der Gegenstand sei der Disziplin als eine Faktizität von Sachverhalten vorgegeben und die Aufgabe bestünde darin, diese Faktizität zu bestimmen und zu beschreiben. Inwieweit diese Annahme zutrifft, ist umstritten und hat notwendigerweise Konsequenzen für das methodische Herangehen an die kriminologische Forschung.

II. Das Modell des Erklärens

6 Kriminologie ist, wie andere Sozialwissenschaften, in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verwurzelt und entfaltet sich in der Moderne, die in der Wohlstandsgesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Zenit erreicht. Prägend für die Epoche wie das Fach ist das Vertrauen auf die Macht der Vernunft, mit der sich die Natur beherrschen, das soziale Leben kontrollierend gestalten und die Geschichte zum Vorteil der Menschheit verändern lässt. Der Fortschrittsoptimismus wird vor allem durch die beeindruckenden Entwicklungen in den Naturwissenschaften und ihre technologische Umsetzung genährt. Fortan gelten die „exakten“ Naturwissenschaften als vorbildhaft für die Erkenntnis des Sozialen. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt Auguste Comte (1798-1857) die Idee, die Regeln der Naturbeobachtung auf die Wahrnehmung gesellschaftlicher Vorgänge zu übertragen. Das damit begründete einheitswissenschaftliche Modell des Erkennens nennt Comte „positivistische Philosophie“34. Er will damit die wissenschaftliche Wahrnehmung des Sozialen auf die Beobachtung von Gegebenheiten begrenzen und damit Glaubensüberzeugungen, Wertungen und überhaupt Subjektivität aus der Wissenschaft verbannen.

7 Der Positivismus geht davon aus, der Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis sei unabhängig vom methodischen Zugang und der subjektiven Einstellung [38] der oder des Erkennenden als etwas naiv und unbestreitbar Gegebenes positiv vorhanden und könne deshalb wie ein Faktum unbeteiligt, also streng wertneutral und „objektiv“ erkannt werden. Diese Annahme bestimmt die Entwicklung der Kriminologie und prägt ihren erklärenden empirischen Zweig bis heute. Demzufolge wird kriminelles Verhalten als objektive Gegebenheit verstanden, das in seinem tatsächlichen Vorkommen wahrgenommen, gezählt und auf soziale, psychologische und biologische Einflüsse zurückgeführt werden kann. Die Suche nach allgemeingültigen ursächlichen Erklärungen für Kriminalität folgt dem kriminalpolitischen Anliegen, Kriminalität kontrollieren zu können und stellt damit die Wissenschaft in den Verwendungszusammenhang der kriminalpolitischen Praxis.

8 Als Kind der Aufklärung und Schwester der Moderne ist die Kriminologie ursprünglich auf ein Erklären von kriminellem Verhalten angelegt. In dem für Natur- wie Sozialwissenschaften gültigen, also einheitswissenschaftlichen, Modell des Erklärens wird ein wahrgenommenes Geschehen aus seiner kausalen statistischen Abhängigkeit von einem anderen wahrgenommenen Geschehen bestimmt. Dabei geht es darum, eine Beobachtung hypothetisch mit anderen Beobachtungen („Randbedingungen“) zusammenzubringen (zu „korrelieren“) und zu prüfen, ob dieser unterstellte Zusammenhang einer allgemeinen statistischen Gesetzmäßigkeit folgt. Ein Geschehen („Explanandum“) gilt danach als erklärt, wenn es sich unter bestimmten Randbedingungen aus einer solchen Gesetzmäßigkeit („Explanans“) herleiten lässt. Die Erklärung erfolgt durch statistische Auswertung der Zusammenhänge innerhalb der Quantität von getroffenen Beobachtungen, folgt also einer quantitativen Methode (→ § 5 Rn 2 f.). Das Ergebnis der Erklärung ist eine Wahrscheinlichkeitsaussage. So können Gewalttaten von Jugendlichen mit frühkindlichen Misshandlungen der Täter:innen in Zusammenhang gebracht und geprüft werden, ob zwischen jugendlicher Gewaltdelinquenz und dem Erleiden von Gewalt im Kindesalter ein allgemeiner statistischer Zusammenhang besteht.

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Beim Erklären werden Geschehnisse zueinander in Bezug gesetzt, die als dinghaft gegeben und wie Naturobjekte als sinnlich wahrnehmbar verstanden werden. Das wahrgenommene Objekt prägt sich angeblich auf der Wachstafel unserer Wahrnehmung ein wie es ist und kann deshalb von jedem bzw. jeder unter den gleichen Voraussetzungen in gleicher Weise, also objektiv, erkannt werden.

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[39] In der Gegenwart sind sowohl die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen wie die forschungspraktischen Konsequenzen dieses positivistischen Zuschnitts der Kriminologie fragwürdig geworden. Vom Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften in den 1960er Jahren35 beeinflusst, entwickelte sich in der Kriminologie seit Mitte der 1970er Jahre eine Debatte darüber, ob Kriminalität nach positivistischem Muster zu erklären oder aber in einer nichtpositivistischen Weise zu verstehen sei.

III. Das Verstehensmodell

11 Die beschriebene Grundannahme, dass das äußerlich Gegebene einfach objektiv wahrgenommen werden könnte, ist bei kulturell und gesellschaftlich geprägten Gegenständen wie Kriminalität fragwürdig. Die Kultur- und Sozialwelt ist den Forschenden nicht rein äußerlich vorgegeben; wer diese Welt erforscht, ist selbst Teil von ihr und nimmt sie auf eine bestimmte Art und Weise wahr. Sozialwissenschaftliche und damit auch kriminologische Forschung ist also selbst Teil der sozialen Praxis, die erforscht wird. Das wissenschaftliche Beobachten gesellschaftlich-kulturellen Geschehens ist daher zwangsläufig auch von den eigenen Standpunkten und Perspektiven beeinflusst. Die Idee eines voraussetzungsfreien „reinen“ Erkennens ist hier Illusion, der „Mythos des Gegebenen“36, der dem Erklärungsmodell zugrunde liegt, anzuzweifeln.

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Nach dem Verstehensmodell folgt die sozialwissenschaftliche Erkenntnis deshalb anderen Regeln als das naturwissenschaftliche Erklären. Gesellschaftliche Realphänomene sind danach keine Objekte, die der Beobachtung unmittelbar zugänglich wären, sondern man kann verschiedene Bilder und Vorstellungen von ihnen haben. Die soziale Welt ist von Menschen immer schon mit Sinn verbunden, in einer bestimmten Weise mit Bedeutungen versehen. Dieser Sinn wird im gesellschaftlichen Alltag durch soziale Akteur:innen interpretiert, verstanden, mit anderen Deutungen konfrontiert und möglicherweise neu ausgehandelt. Diese Praktiken schaffen ein Verständnis der sozialen Wirklichkeit und machen diese für uns verfügbar. Alle sozialen Akteur:innen, welche die betreffende Sprache beherrschen, sind befähigt, Bedeutungen von Dingen zu verstehen, indem sie diese mit ihren eigenen Assoziationen versehen und so sich davon „ihr“ Bild machen.

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[40] Wenn wir ein Verhalten als Diebstahl wahrnehmen, mag uns dies als klar und selbstverständlich erscheinen. Diese Wahrnehmung folgt aber daraus, dass wir die Bedeutung, die wir dem beobachteten Verhalten zuschreiben, tief als Wissen verinnerlicht haben. Diebstahl ist keine natürliche Gegebenheit, sondern eine Wahrnehmung und Deutung eines bestimmten Geschehens in einer bestimmten Weise. Dabei werden juristische Voraussetzungen wie der „Diebstahlsvorsatz“ in Alltagsvorstellungen übersetzt, die wahrgenommene Handlung in ihrer nur aufgrund von Indizien deutbaren Intention – Vorsatz sieht man nicht – in ihrem Sinn bestimmt und dieser Sinn bewertet.

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Menschliches Handeln wird stets in solcher durch Bedeutung gerahmten Form wahrgenommen und ist nur so anderen vermittelbar. Wer die Handlungsbedeutung verstehen will, muss sich mit dieser Sinnsetzung auseinandersetzen, sie teilen oder ihr eine andere entgegensetzen. Daraus ergibt sich

„[…] der Leitgedanke einer symbolischen, sinnhaften Konstitution der sozialen Welt und des menschlichen Handelns“, demzufolge „die Sozialwelt und ihre Handlungsformen durch kollektive Sinnsysteme konstituiert werden“37.

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Jede Wahrnehmung der sozialen „Dinge“ beruht also auf einem von ihnen gewonnenen persönlichen Eindruck, der das Wahrgenommene wertend nach Belangvollem und Unbedeutendem strukturiert und den Dingen Sinn beimisst. Da die Wahrnehmung sozialer „Dinge“ stets mit subjektiver Sinngebung verbunden ist, kommt auch die Wissenschaft nicht ohne sie aus.38 Wo sich die soziale Welt durch diskursive Praktiken bildet und erschließt, müssen auch die Forschenden diese Praktiken rekonstruieren und dabei auf dieselben Fertigkeiten zurückgreifen, welche diejenigen ausüben, deren Verhalten sie zu analysieren versuchen. Die Sozialwissenschaft ist deshalb bei der Reinterpretation ihres durch Vor-Interpretationen sozialer Akteur:innen gebildeten Themas in den Prozess gesellschaftlicher Bedeutungs- und Identitätsstiftung eingebunden und wirkt mit ihren wissenschaftlichen Interpretationen auf den gesellschaftlichen common sense zurück.

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Dies gilt für die Kriminologie in besonderer Weise. Kriminalität ist keine natürliche Gegebenheit, kein Objekt, das ohne die Beimessung von Sinn und Bedeutung verstanden werden könnte, sondern ein Produkt des gesellschaftlichen [41] Diskurses. Kriminalität ist ein „negatives Gut“39, das mit ausgrenzender Distanz, Stigmatisierung und Beschneidung von Ressourcen assoziiert wird. Was als Kriminalität verstanden wird, ist gesellschaftlich ausgehandelt. Das Erkennen von Kriminalität verlangt deshalb, diese Aushandlungen und Assoziationen unter Einbringung des eigenen Vorverständnisses interpretierend nachzuvollziehen.40

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Die verstehende Perspektive macht deutlich, dass der Mensch und seine Handlungen nicht bloß passives Produkt externer gesellschaftlicher Kräfte sind, auch wenn die Gesellschaft ihn und sein Verhalten prägt. Die „Prägung“ ist eine durchaus wechselseitige, dialektische. Denn soziales Handeln wirkt auf eine symbolisch vermittelte gesellschaftliche Umwelt verändernd ein, die ihrerseits individuelle Reaktionen stimuliert, wobei durch reflexive Verarbeitung von Umwelteinflüssen ein neues Identitätsverständnis geformt wird. Darum muss menschliches Handeln auf der Basis des Selbstverständnisses der Akteur:innen und der Bedeutung, die sie ihrem Handeln beilegen, erschlossen werden. Anders als bei einem Naturgeschehen, das sich durch Bestimmung von Ursachen erklären lässt, geht es hier um das Verstehen menschlichen Handelns.41

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Danach geht es in den Sozialwissenschaften darum, die Bedeutungen und Sinnsetzungen, die Menschen mit ihrem Handeln verbinden, deutend zu rekonstruieren, also gleichsam Bedeutungen von Bedeutungen zu erstellen. Dies wirkt auf den gesellschaftlichen Diskurs über Bedeutungen menschlichen Handelns zurück, gibt ihm Anregungen und neue Akzente. In der kreislauf- oder besser spiralförmigen Dynamik dieser Entwicklung reproduziert sich die Gesellschaft stets aufs Neue, stiftet ihre Identität und findet so zu sich selbst.

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Die unvermeidbar zirkuläre Struktur des Verstehens der Bedeutungen menschlichen Handelns wird gemeinhin als hermeneutischer Zirkel bezeichnet. Dieser ist, um im Bilde zu bleiben, jedoch eher eine weiterführende Spirale als ein sich fruchtlos im Kreise drehendes Gebilde. Denn das anfängliche Verständnis, das Vorverständnis der Interpretierenden, wird an den vorläufig verstandenen gesellschaftlichen Sinnsetzungen geprüft, die Sinnerwartung gegebenenfalls geändert, diese neuerlich mit gesellschaftlichen Deutungen konfrontiert und so weiter. Fern einer nicht erzielbaren strengen Objektivität gelten dabei die Gebote von Sinnadäquanz und diskursiver Begründbarkeit.

[42] „Die Soziologie […] hat es mit einer Welt zu tun, die schon innerhalb von Bedeutungsrahmen durch die gesellschaftlich Handelnden selbst konstituiert ist, und sie reinterpretiert diese innerhalb ihrer eigenen Theoriekonzepte, indem sie normale und Theoriesprache vermittelt […] es gibt ein fortwährendes ‚Abrutschen‘ der in der Soziologie geschaffenen Begriffe in den Sprachschatz derer, deren Verhalten mit ihnen eigentlich analysiert werden sollte […].“42

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Da die Kriminologie, wie die Sozialwissenschaften überhaupt, in den gesellschaftlichen Prozess der Sinnstiftung menschlichen Handelns eingebunden ist, folgt auch sie dem erkenntnisleitenden Prinzip einer „doppelten Hermeneutik“43. Es gilt, sich beim kriminologischen Rückgriff auf das rechtlich und sozial vorinterpretierte Thema Kriminalität die Einbindung der Kriminologie in den nicht zum Ende kommenden Prozess der gesellschaftlichen Reinterpretation dieses Themas bewusst zu machen. Die wissenschaftlichen Interpretationen dessen haben Rückwirkung auf das gesellschaftliche Verständnis. Dieses Vorgehen lässt sich auch als Reflexivität gesellschaftsbezogenen Erkennens bestimmen, und zwar in einem doppelten Sinne. Zum einen ist die sich über Sinnsetzungen verständigende Gesellschaft reflexiv; zum anderen verdoppelt deren wissenschaftliche Beobachtung diese soziale Reflexivität.

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Angesichts der beschriebenen Prozesse befindet sich der Forschungsgegenstand in laufender Veränderung. In diesem Sinne prägt auch der Zeitgeist die wissenschaftliche Wahrnehmung und führt dazu, dass das Erkenntnisinteresse sich wandelt und neue Deutungsmodelle bevorzugt werden. So wird Kriminalität heute – anders als noch vor dreißig Jahren – weniger als sozialschädliches Verhalten verstanden, das nach Reaktionen verlangt, sondern eher als Risiko, das vor Schadenseintritt zu kalkulieren und kontrollieren ist. Dementsprechend haben sich die regulierenden Praktiken der Kriminalpolitik von der Reaktion zu präventiven Interventionen verlagert, wobei das staatliche Sicherheitsmonopol zugunsten von Eigenvorsorge und einer Marktöffnung für nichtstaatliche Sicherheitsanbieter:innen durchbrochen wurde. Die Kriminalprävention hat ihren Schwerpunkt von personenbezogenen sozialpolitischen und resozialisierenden Interventionen, mit denen man mutmaßliche Kriminalitätsursachen anzugehen glaubte, auf die situationsbezogene Erschwerung von Tatgelegenheiten in pragmatischen kleinen Schritten verlagert (→ § 22 Rn 18 ff.).

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[43] Das Verstehensmodell in der Kriminologie bestimmt damit auch seinen Forschungsgegenstand in anderer Weise. Das Interesse gilt zum einen den Regeln des Gebrauchs der Kriminalitätsdefinition im gesellschaftlichen Diskurs und durch die Instanzen der Kriminalitätskontrolle – was wird unter welchen Umständen als Kriminalität verstanden? Zum anderen wird nach Regeln geforscht, denen das damit bezeichnete Verhalten folgt – warum handeln Menschen auf diese Weise? Die Kriminologie betrachtet diese Regeln des crime talk unter dem Aspekt ihres tatsächlichen Gebrauchs: Nicht in ihrer logischen Konsistenz oder der normativen Korrektheit ihrer Anwendung, sondern in ihrer tatsächlichen Verwendung in der gesellschaftlichen Praxis.

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Die Bildung besonderer Kriminalitätserscheinungen (→ § 18) kann hier weitgehend unberücksichtigt bleiben, weil die charakteristische Besonderheit einzelner Formen von Kriminalität weniger in diesen selbst liegt, sondern in ihrer deutenden Bestimmung. Darum wäre es irreführend, „besondere Kriminalitätserscheinungen“ als gegebene Phänomene anzusehen, die durch Beobachtung in ihrer Ähnlichkeit erkannt werden könnten. Die Teile existieren nicht an sich, sondern werden erst durch Deutungen gebildet. Begriffe wie „Ausländerkriminalität“ oder „Organisierte Kriminalität“ beschreiben nicht vorrangig Phänomene, sondern sind Ausdruck gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Akzentuierungsbedürfnisse, die zu bestimmten Zeiten vorhanden sind und sich wandeln.

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In Anlehnung an die dem Erklären komplementäre Erkenntnisform des Verstehens hat sich in der empirischen Sozialwissenschaft neben der objektivierenden quantitativen Forschung eine eigenständige Richtung qualitativer Forschung herausgebildet (→ § 5 Rn 2 f.). Diese unternimmt anhand einer in der Regel geringeren Basis von Daten oder Beobachtungen Sondierungen in die Tiefe. Das Interesse gilt der möglichst authentischen Erfassung der „Sinndeutungen“ des relevanten Geschehens aus der Subjektperspektive der Betroffenen.44 Beobachtungen finden „im Feld“ einer natürlichen Situation statt, wobei die Forschenden an den situativen Interaktionen teilnehmen. So werden etwa Befragungen in dialogisch geführten und ergebnisoffenen Interviews erstellt, deren Auswertung intensiv erfolgt und nicht auf statistische Kennwerte beschränkt bleibt.45

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[44] In diesem Sinne können gewalttätige Jugendliche nach den Motiven ihres Tuns befragt, die Empfindungen der Opfer ermittelt, der prügelnde Vater auf seine „Erziehungspraxis“ und deren mögliche Spätfolgen angesprochen und daraus eine Deutung des Geschehens in seiner interaktiven Vernetzung vorgenommen werden. Auf die wissenschaftliche Deutung reagiert das Untersuchungsfeld wie die Gesellschaft insgesamt und verlangt nach neuerlicher Prüfung der Sinnadäquanz dieser Deutung. Dem Modell des Erklärens sind solche Zugänge zu den Sinngebungen menschlichen Handelns und der Praxis der gesellschaftlichen Verständigung darüber versperrt. Es reduziert in seiner Beobachtung der Gesellschaft deren sinngebende Strukturen auf buchstäblich „sinnlose“ naturhafte Gegebenheiten.46