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IV. Der Ausbau der Kriminologie in den USA

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Im 20. Jahrhundert entwickelt sich die Kriminologie in den USA zu einer vom Strafrecht institutionell unabhängigen Disziplin. Das beginnende Jahrhundert verändert die nordamerikanische Gesellschaft rasch und grundlegend. Einwanderung und Industrialisierung bewirken eine Expansion der Großstädte. Die Bevölkerung Chicagos verdoppelt sich binnen 20 Jahren. Die Eingewanderten sind zumeist mittellos, finden keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit und siedeln in Elendsquartieren. Die Prohibition erlaubt Riesengewinne aus dem illegalen Verkauf von Spirituosen, über die sich rivalisierende Banden streiten.

29 1899 wird in Chicago unter dem Einfluss der religiös-moralischen Bewegung der „Kinderretter“ das erste Jugendgericht gebildet. Mit der Gründung des American Institute of Criminal Law and Criminology 1909 in Chicago setzt eine intensive, von Anbeginn an praxisnahe Forschungstätigkeit ein. Die sogenannte Chicagoer Schule befasst sich soziologisch und sozialpsychologisch mit schädlichen gesellschaftlichen Einflüssen und erschließt das Praxisfeld der Sozialarbeit. Erklärungsbedarf besteht nunmehr für den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und der Kriminalität. Die aus Frankreich stammende milieubezogene Betrachtung (→ § 4 Rn 13), insbesondere die inzwischen veröffentlichten Arbeiten des französischen Soziologen Durkheim, lenken die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Strukturen und die darin enthaltenen sozialen Spannungen (→ § 9 Rn 3 ff.). Soziale Desorganisation und Chancenungleichheit werden für die Konzentration der Kriminalität in gesellschaftlich benachteiligten Kreisen als bestimmend erkannt.

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[65] Beobachtungen zeigen, dass kriminelles Verhalten in bestimmten Kontakten „differentiell“ erlernt wird (→ § 10 Rn 13 ff.) und vom differentiell verteilten Zugang zu illegitimen Mitteln abhängt (→ § 9 Rn 24 ff.). Das Lernen erfolgt oft kollektiv, indem sich sozial Benachteiligte in einer „Subkultur“ zusammenfinden, welche Werte pflegt, die von dem dominierenden mittelschichtbestimmten Wertesystem abweichen (→ § 10 Rn 16 ff.). Feldstudien weisen darauf hin, dass Kriminelle aus der Unterschicht sich gegenüber den Wertvorstellungen ihrer Schicht konform verhalten, diese Wertvorstellungen aber von denjenigen der maßgeblichen Mittelschicht abweichen. Der „Kulturkonflikt“ erlaubt oder verlangt sogar Rechtsbrüche, um dem Wertesystem der Unterschicht treu zu bleiben.

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Daneben werden Studien zu den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens fortgeführt. Die rein anlagenbezogene, auf vererbliche biologische Defizite gerichtete Kriminalitätserklärung Lombrosos wird um andere mögliche biologische Faktoren ergänzt. Vor allem wird nunmehr angenommen, der Anlageneinfluss präge bloß eine Prädisposition, die sich erst unter bestimmten Umwelteinflüssen zu abweichendem und kriminellem Verhalten ausbilde (→ § 7 Rn 4 f.). Unter dem Einfluss der Psychologie und der Psychiatrie werden persönlichkeitsbezogene Kriminalitätserklärungen entwickelt (→ § 8), die sich auf die wiederholte Begehung schwerer Gewalt- und Sexualstraftaten konzentrieren und teils „antisoziales“ Verhalten mit einer „psychopathischen“ Persönlichkeit in Zusammenhang bringen oder, im Sinne des Mehrfaktorenansatzes (→ § 4 Rn 24 ff.; § 10 Rn 24 ff.), ein Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren annehmen.

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In der Mitte des 20. Jahrhunderts interessiert sich die nordamerikanische Kriminologie in einem vorwiegend theoretischen Diskurs für die Prozesse, welche die gesellschaftliche Konstruktion von Kriminalität bestimmen (→ § 2 Rn 4). Der Labeling Approach rückt den Kriminalisierungsprozess und seine Akteur:innen ins Blickfeld (→ § 13 Rn 7 ff.). Seit den 1980er Jahren gewinnen, unter dem gesellschaftspolitischen Vorzeichen des Neoliberalismus, spätmoderne Theorien an Einfluss, die eine soziale Geprägtheit von Kriminalität bestreiten und sich wieder unverblümt den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens zuwenden (→ § 12).

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Neben Forschungen über das Zustandekommen „klassischer“ Kriminalität werden Konzepte zur Erfassung der Kriminalität in Wirtschaft und Oberschicht (white collar crime, → § 18 Rn 12 ff.) entwickelt und dabei die Strategien [66] analysiert, mit denen es den Träger:innen weißer Kragen gelingt, nicht nur dem strafrechtlichen Kontrollnetz zu entschlüpfen, sondern sogar zu verhindern, dass strafrechtliche Verbote gegen ihr sozialschädliches Verhalten zustande kommen. Landesweit periodisch wiederholte Opferbefragungen haben die Entwicklung einer systematischen Opferforschung (Viktimologie) ermöglicht (→ § 18 Rn 22 ff.). Die Frage, welche Maßnahmen der Kriminalprävention gleichermaßen realisierbar, kostengünstig und erfolgversprechend sind, ist ein nachhaltiges Thema der nordamerikanischen Kriminologie. Die überaus harte Sanktionierungsstrategie in den USA (→ § 20 Rn 53 ff.) ist Gegenstand kritischer Studien. In der jüngeren Vergangenheit steht die verbreitete gesellschaftliche Verunsicherung über kriminelle Ereignisse (→ § 23 Rn 21 ff.; § 24 Rn 18 ff.) sowie die Prävention besonders „brennender“ Kriminalitätsprobleme in den Bereichen der Straßengewalt, des Drogenhandels, der organisierten Kriminalität und des Terrorismus im Blickfeld.

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Angesichts all dieser Entwicklungen bildet sich der Eindruck eines komplexen Forschungsrepertoires, das in seiner Reichhaltigkeit, aber auch Disparität weltweit einzigartig ist, ein Sammelbecken sämtlicher aktueller Perspektiven der Kriminologie bildet und als Steinbruch für jegliche kriminalpolitische Argumentation dienen kann. Die Kriminologie in den USA ist weltweit prägend und richtungsweisend.

§ 5 Kriminologische Forschungsmethoden

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[66] Als Erfahrungswissenschaft liegt ein Schwerpunkt kriminologischer Forschung neben theoretischen Arbeiten auf der empirischen Forschung. Anders als normative Wissenschaften, wie etwa die Rechtswissenschaft, untersucht die Kriminologie die Lebenswirklichkeit – so unverstellt wie möglich. Dabei sollen in der Theorie entwickelte Annahmen überprüft und/oder weiterentwickelt werden, die sowohl die Entstehung von abweichendem Verhalten als auch die Praxis des Kriminalisierungsprozesses betreffen können. Solches Vorgehen nennt man „empirisch“, „erfahrungswissenschaftlich“ oder, mit einem Modewort ausgedrückt, evidence-based. Für diese Forschung greift die Kriminologie auf die Methoden verschiedener Bezugswissenschaften zurück, im Besonderen auf die der empirischen Sozialforschung. Diesen kommt die Aufgabe zu, den Forschungsprozess [67] möglichst frei von unerwünschten Einflüssen zu strukturieren und so allgemein gültige Erkenntnisse zu erlangen.86

I. Grundlagen

2 Innerhalb der Methoden der empirischen Sozialforschung besteht die Wahl zwischen quantitativen und qualitativen Methoden. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung und können methodisch gültige empirische Erkenntnisse erbringen. Allerdings sind sie für verschiedene Fragestellungen in unterschiedlichem Maße geeignet.87 Welche Methoden man wählt hängt also nicht nur von der Weltsicht der Forschenden ab (→ § 2 Rn 6 ff.), sondern auch von der jeweiligen Forschungsintention und Forschungsfrage. Quantitative Methoden messen zählbare Eigenschaften und versuchen anhand der Häufigkeit ihres Vorkommens und des Zusammentreffens mit anderen Elementen Aussagen über Kausalzusammenhänge zu treffen. So kann beispielsweise gefragt werden, ob eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit zu einer höheren Gewaltbereitschaft im Erwachsenenalter führen. Für die Aussagekraft solcher Untersuchungen kommt es darauf an, dass eine repräsentative Stichprobe aus der jeweiligen Gesamtheit untersucht wird.

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Qualitative Methoden der Sozialforschung verfolgen als sinnverstehende, interpretative Herangehensweise eine Perspektive des Verstehens anstelle des Erklärens (→ § 2 Rn 11 f.).88 Dabei bemühen sie sich um ein tieferes Verständnis der sozialen Zusammenhänge im Sinne eines Nachvollziehens.89 So können z. B. Täter:innen gefragt werden, wie und warum es zu bestimmten Handlungen gekommen ist, welchen Sinn sie diesen beigemessen haben und wie sie ihr Verhalten heute betrachten. Qualitative Methoden wurden aus der Erkenntnis entwickelt, dass quantitative Verfahren sich im Bemühen um Objektivität den Zugang zu einem intersubjektiv gebildeten sozialen Forschungsgegenstand verstellen. Zugleich sind quantitative Verfahren angesichts ihres geplanten Forschungsablaufs der Gefahr ausgesetzt, weniger offensichtliche Umstände und Zusammenhänge, die vom Forschungsdesign nicht erfasst worden sind, im Laufe des Forschungsprozesses zu übersehen und so zu einer selektiven Wahrnehmung [68] zu gelangen.90 Demgegenüber handelt es sich bei qualitativen Methoden oft um Verfahren, die bemüht sind, möglichst frühzeitig und unvoreingenommen mit dem praktischen Forschungsprozess zu beginnen, um aus dem empirischen Material heraus das konkrete Vorgehen zu entwickeln. Dies kann die Gefahr bergen, das eigene Vorverständnis unhinterfragt als allgemein gültig zu unterstellen.

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Unabhängig von der methodischen Herangehensweise stellt sich weiterhin die Frage, ob die für das Forschungsvorhaben notwendigen Daten selbst erhoben werden sollen (Primärdaten) oder ob bereits für einen anderen Zweck erhobene Daten ausgewertet werden können (Sekundärdaten).91 Auswertungen von Sekundärdaten haben den Vorteil, dass die meist ressourcenintensive eigene Datenerhebung entfällt. Zugleich ergeben sich auch Nachteile, da Sekundärdaten ein durch das spezifische Interesse bei der Datenerhebung und die gewählte Erhebungstechnik verzerrtes Bild der Wirklichkeit liefern.

II. Einzelne Methoden der Datenerhebung

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Wichtige Quellen im Bereich der Kriminologie sind zum einen die amtlichen Statistiken (Polizeiliche Kriminalstatistik, Staatsanwaltschafts-, Strafverfolgungs- und Strafvollzugsstatistik) sowie die durch Strafverfolgungsbehörden angelegten Akten. Insbesondere amtliche Quellen, wie aktenmäßige Erfassungen und Statistiken, betreffen nur das amtlich bekannt gewordene Hellfeld der Kriminalität; zudem dürfen sie nicht als Abbild der Wirklichkeit missverstanden werden (→ § 15 Rn 6).

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Aus der empirischen Sozialforschung sind für kriminologische Forschungsvorhaben sodann vor allem die verschiedenen Formen der Befragung, der Beobachtung und des Experiments von Bedeutung. Diese können jeweils quantitativ bzw. qualitativ ausgestaltet werden oder es können beide Aspekte kombiniert werden, was als Triangulation oder mixed-method-Forschung bezeichnet wird.92 Die Methodenwahl ist von der angestrebten Erkenntnis abhängig. Besondere Problemstellungen hinsichtlich der Methoden ergeben sich bei der Dunkelfeldforschung, die daher gesondert behandelt wird (→ § 17 Rn 19 ff.).

7 [69] Befragungen können in Form von Fragebögen (von den Befragten selbst auszufüllen) oder von Interviews (Befragung durch Interviewende) durchgeführt werden. Fragebögen, die online oder in Papierform zur Verfügung gestellt werden, sind das Standardinstrument in vielen quantitativen kriminologischen Forschungen und in sehr unterschiedlicher Form möglich.93 Sie sind kostengünstig, weshalb große Stichproben realisierbar sind. Anonymität und die Abwesenheit von Interviewenden ermöglichen auch die Abfrage sensibler Daten, z. B. hinsichtlich eigener Viktimisierungs- oder Täter:innenerfahrung. Allerdings sind bei Befragungen mit Fragebögen die Rücklaufquoten meist niedrig, was die Aussagekraft erheblich einschränken kann. Werden die Befragungen unmittelbar durch Interviewende geführt, ist der Anteil abgeschlossener Befragungen deutlich höher und eventuell auftretende Missverständnisse können direkt beseitigt werden.94 Allerdings ist dieses Vorgehen kostenintensiver und mit Möglichkeiten der subjektiv verzerrten Datenerfassung belastet.

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Bei Fragebögen sind die Fragen meist geschlossen formuliert, d. h. mit der Frage wird den Befragten gleichzeitig eine begrenzte Anzahl möglicher Antworten vorgegeben.95 Auf diesem Weg lassen sich die erhobenen Daten vergleichsweise einfach statistisch und sogar automatisiert auswerten. Im Gegenzug begründet die Vorstrukturierung der Antwortmöglichkeiten durch die Forschenden die Gefahr, dass von diesen übersehene, aber relevante Antwortmöglichkeiten in der Untersuchung nicht erfasst werden.96

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Bei Interviews können verschiedene methodische Herangehensweisen unterschieden werden, die zu erheblichen Divergenzen bei den sichtbar gemachten Daten führen. Die Unterschiede bestehen insbesondere in einer unterschiedlich starken Strukturierung der Interviews. Bei strukturierten (standardisierten) Interviews stehen Inhalt, Anzahl und Reihenfolge der Fragen schon vor der Befragung fest. Ein solches Vorgehen dient in der Regel dazu, mit geschlossenen Fragen vor allem quantitativ auswertbare Daten zu erzeugen. Demgegenüber werden freie Interviews mit offenen Fragen für ethnografische und andere qualitative Studien eingesetzt. Dazwischen gibt es zahlreiche Möglichkeiten eines semi-strukturierten Interviews, etwa anhand von Leitfäden, in denen die interviewende Person die Möglichkeit hat, die Interaktion zu beeinflussen und so [70] auch außerhalb der ursprünglichen Fragen liegende Aspekte aufzunehmen, die sich erst im Laufe der Befragung ergeben.97

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Bei jeglicher Form der Befragung ist die Datenerhebung durch das Erinnerungsvermögen der Befragten begrenzt. Dies kann zu Verzerrungen führen, da kürzlich als einschneidend empfundene Erlebnisse und Erfahrungen besser erinnert werden als solche, die als üblich oder bagatellhaft empfunden werden und schon länger zurückliegen. Durch die Formulierung der Fragen haben die Forschenden großen Einfluss auf das Antwortverhalten, z. B. durch Suggestivfragen, die Art der Formulierung und die Reihenfolge der Fragen. Dies kann zu einer Beeinflussung der Ergebnisse führen.98

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Eine weitere Methode zur Gewinnung qualitativer Daten sind moderierte Gruppendiskussionen oder focus groups, bei denen Expert:innen oder Akteur:innen eines bestimmten sozialen Feldes über vorgegebene Fragestellungen diskutieren.99 Die Diskussion zwischen den zumeist sechs bis acht Teilnehmenden wird von diesen selbständig geführt, um eine dynamische Gruppeninteraktion zu erreichen, die möglichst ohne Einmischung der forschenden Personen viele inhaltliche Aspekte zu dem jeweiligen Thema hervorbringt. Der Einsatz von focus groups eignet sich vor allem für explorative Studien, mittels derer ein Überblick über das Forschungsfeld gewonnen werden soll.100

12 Die Beobachtung ist überwiegend ein Verfahren zur Gewinnung qualitativer Daten. Sie kann offen oder verdeckt erfolgen, die beobachtende Person kann sich als solche zu erkennen geben oder nicht. Eine weitere Unterscheidung wird vorgenommen zwischen teilnehmenden Beobachtungen, also solchen, bei denen die Beobachtenden durch bloße Anwesenheit oder aktive Teilnahme Teil des Interaktionsgeschehens sind, und nicht-teilnehmenden Beobachtungen. Während ethnografische Studien auf Grundlage von Beobachtungen im angloamerikanischen Raum häufiger vorkommen, sind sie in der deutschsprachigen kriminologischen Forschung eher selten. Aus der Nähe der Forschenden zum Feld ergibt sich einerseits die Möglichkeit, menschliche Interaktionen direkt und nicht vermittelt über die Aussagen Dritter wahrzunehmen und den nonverbalen Kontext des Verhaltens zu beobachten. Andererseits hat die Anwesenheit von Beobachtenden einen Einfluss auf die Situation, in der sich die Beobachtung [71] vollzieht. Eine neutrale Beobachtung ohne Interaktion mit dem sozialen Beobachteten ist nicht möglich.101 Dies wird als reaktiver Effekt bezeichnet und kann dazu führen, dass die Testpersonen ein anderes Verhalten an den Tag legen, als sie dies ohne (offene) Beobachtung tun würden.102

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Bei der Methode des Experiments wird ein Verhalten oder Geschehen untersucht, dessen Bedingungen durch die forschende Person vorab festgelegt sind.103 Das zu untersuchende Geschehen wird dabei unter verschiedenen Bedingungen wiederholt, um so die Abhängigkeit einer Variable von einer anderen festzustellen, z. B. den Einfluss einer Interventionsart auf das generelle Ausmaß an Straffälligkeit.104

III. Ablauf eines Forschungsprojekts

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Eine empirische Untersuchung kann in Konzipierungs-, Durchführungs- und Auswertungsphase eingeteilt werden. In der Konzipierungsphase wird festgelegt, was erforscht wird und wie dies passieren soll. Hierfür wird eine Forschungsfrage formuliert und eine Forschungsstrategie entwickelt.105 Dabei reflektieren die Forschenden idealerweise auch ihre ontologischen und erkenntnistheoretischen Positionen. Ontologische Positionen betreffen die eigenen Vorstellungen über die „Natur“ der Wirklichkeit, erkenntnistheoretische die Frage nach der „Natur“ von Wissen und die Zugänglichkeit der Wirklichkeit. Hierbei lassen sich zwei Grundpositionen unterscheiden: Eine konstruktivistische, die Wirklichkeit als soziales Konstrukt versteht, das nur subjektiv erfassbar ist, und eine positivistische, die die Wirklichkeit als unabhängig existierenden und objektiv erfassbaren Gegenstand auffasst, der erklärt werden kann (→ § 2 Rn 6 ff.).106 Ebenfalls entscheidend sind die eigenen Vorannahmen über den Forschungsgegenstand Kriminalität. Dieser kann eher aus einer ätiologisch-erklärenden Perspektive oder aus einer interaktionistischen Perspektive untersucht werden, wobei bei letzterer die Kriminalisierung das primäre Erkenntnisinteresse ausmacht.

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[72] Auf dieser Basis wird dann das Forschungsdesign entwickelt. Hier ist zu klären, welche Daten mit welchen Methoden wie erhoben und ausgewertet werden sollen, um die jeweilige Fragestellung möglichst optimal zu untersuchen.107 Dabei kann zwischen Längsschnitt- und Querschnitt-Design unterschieden werden. Bei Längsschnitt-Studien gibt es wiederholte Erhebungen zu mindestens zwei unterschiedlichen Zeitpunkten, um so prozesshafte Entwicklungen nachzuzeichnen. Die wiederholten Erhebungen können entweder bei unterschiedlichen Stichproben (Trenddesign) oder bei ein und derselben Stichprobe erfolgen (Paneldesign). Bei Querschnitt-Forschungen werden hingegen nur einmalig Daten erhoben, sodass keine Aussagen über Veränderungen im Zeitverlauf möglich sind.108

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Generelle theoretische Kategorien und Konzepte wie Kriminalität oder das Klima einer Strafanstalt können mit den beschriebenen Methoden nicht direkt gemessen werden. Sie müssen hierfür operationalisiert, also die Operationen beschrieben werden, die zur Messung des jeweiligen Konzepts erforderlich sind.109 Dies bedeutet, Kriterien zu entwickeln, anhand derer die jeweilige Kategorie bzw. das Konzept mit den gewählten Methoden messbar ist. Um z. B. Kriminalität zu messen, muss festgelegt werden, anhand welcher messbaren Kriterien bestimmt werden soll, was als Kriminalität im Sinne des Forschungsprojektes gilt, beispielsweise ein angezeigter Fall oder verurteilte Tatverdächtige.

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Bei der Datenerhebung muss zunächst über deren Umfang entschieden werden. Dies ist bei quantitativen Methoden von besonderer Relevanz. Da eine Totalerhebung, bei der die interessierenden Aspekte der Wirklichkeit umfassend untersucht werden, nur selten möglich und ökonomisch sinnvoll ist, wird in der Regel eine Teilerhebung vorgenommen. Um z. B. Aussagen über eine Großstadt treffen zu können, müssen nicht all deren Einwohner:innen befragt werden, sondern es genügt die Befragung eines Teils der Bevölkerung – sogenannte Stichprobe –, um Aussagen über die Gesamtbevölkerung der Stadt treffen zu können. Damit die Aussagen über die Stichprobe auf die Gesamtheit übertragen werden können, ist es wesentlich, dass die Stichprobe (sample) repräsentativ ist. Dies erfolgt in Form einer Zufallsstichprobe und damit in der Weise, dass alle Einheiten der Grundgesamtheit die gleiche Wahrscheinlichkeit haben, Teil der Stichprobe zu werden.110 Allerdings sind die Stichproben nicht bei allen empirischen [73] Untersuchungen repräsentativ. Vielmehr gibt es auch viele quantitative Studien, die nicht repräsentativ sind, etwa weil es methodisch nicht möglich oder zu teuer wäre, eine repräsentative Stichprobe zu bilden. Auch solche Untersuchungen erbringen wissenschaftliche Erkenntnis. Ihre Ergebnisse können aber nicht einfach verallgemeinert und auf die Grundgesamtheit bezogen werden.

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Auf die Konzipierung folgt die Durchführungsphase, in der die Datenerhebung vorgenommen wird. In der daran anschließenden Auswertungsphase werden die erhobenen Daten eingehend analysiert und bewertet, um das so gewonnene Wissen mit den Ausgangshypothesen abzugleichen. Dabei lassen sich quantitative Daten statistisch auswerten. Auf diesem Weg sind Aussagen über die Häufigkeitsverteilung bestimmter Merkmale in einer Gruppe oder über Beziehungen (Korrelationen) zwischen zwei oder mehreren Variablen möglich.111 So kann in einer Studie z. B. untersucht werden, ob die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, gleichmäßig nach Geschlecht, Alter oder ethnischer Zugehörigkeit verteilt ist oder ob zwischen den Variablen Alter und strafrechtliche Registrierung eine Korrelation besteht. Qualitative Verfahren erfordern hingegen andere Auswertungsmethoden, die je nach dem gewählten Forschungsdesign variieren. Neben freieren Formen der Interpretation ist die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring112 mit einer systematischen Vorgehensweise eine häufig genutzte Methode.113

1 Garofalo 1885.

2 Lautmann 2014.

3 In Deutschland bestehen solche Dienste beim Bundeskriminalamt (BKA), beim Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) sowie bei der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ). Daneben sind in den Landesjustizministerien sogenannte Kriminologische Dienste eingerichtet.

4 So etwa Sack 1990, 15.

5 „Unified body of knowledge“, so Fattah 1997, 173; ähnlich Göppinger 2008, § 1 Rn. 5, § 3 Rn. 13 ff.; Schneider 1993, 3.

6 Zur Frage der Eigenständigkeit der Kriminologie s. Kunz 2014.

7 Walter 1982.

8 Rusche/Kirchheimer 1981.

9 Platt 1984, 153; skeptisch Steinert/Treiber 1978.

10 Melossi 1976, 29; Wächter 1984, 168.

11 Sutherland 1983.

12 Pearce 1976.

13 Foucault 1976b; zum Stellenwert von Foucault in der Kriminologie Althoff/Leppelt 1991; Krasmann/Volkmer 2007.

14 Foucault 1976b, 328.

15 Taylor/Walton/Young 1975, 26.

16 Mathiesen 1979.

17 Christie 1986, 84 ff., 134 ff.

18 Cremer-Schäfer 2015.

19 Sessar 1986, 381.

20 Michalowski 2016.

21 Ferrell 2009; Hayward/Young 2012.

22 Fabricius 2015, 117 ff.; Göppinger 2008, § 1 Rn. 6.

23 Zur Kritik am legalistischen Verbrechensbegriff Lamnek 2018, 49 f.

24 Insofern differenzierend Fabricius 2015, 119 ff.

25 Dazu auch Lamnek 2018, 52 ff.

26 Weber 1905.

27 Weber 1976, 1. Teil Kap. III.

28 Kunz 2013.

29 Jakobs 2003.

30 Bauman 2009.

31 Sutherland/Cressey 1978, 21.

32 Einen genaueren Überblick bietet Kinzig 2020.

33 Ausführlich Eisenberg/Kölbel 2017, § 1 Rn. 4 f.

34 Comte 1975.

35 Habermas 1967.

36 Sellars 1997, 117, sect. 63: „The myth of the given“.

37 Reckwitz 2012, 15, 32.

38 Göppinger 2008, § 4 Rn. 4 ff.

39 Sack 1968, 469.

40 Ferrell/Hayward/Young 2015, 1 ff.

41 So das „interpretative Paradigma” in der Sozialforschung, das Interaktion als interpretativen Prozess versteht,s. Lamnek/Krell 2016, 46; ausführlich Keller 2012.

42 Giddens 1984, 199.

43 Giddens 1984, 199.

44 Ferrell/Hayward/Young 2015, 209 ff.

45 Diekmann 2020, 531 ff.; Flick 2019; Mayring 2016.

46 Sack 2003, 87.

47 Sack 1996, 297 ff.

48 Feyerabend 1986.

49 Nagel 1986.

50 Bauman/May 2019, 16 f.

51 Popper 1971, 257.

52 Giddens 1984, 16 f.

53 Kaiser 1997, 1.

54 Kaiser 1997, 9.

55 Killias 2007, 315, 329.

56 Foucault 1976a, 41.

57 Kunz 1990, 92.

58 Sartre 1952, 545: „Durch ihre wissenschaftliche Wahrnehmung gewinnt die Gesellschaft von selbst ein reflexives Bewusstsein: sie beobachtet sich, sie beschreibt sich, sie erkennt im Dieb eines ihrer unzähligen Werke; sie erklärt sich durch generelle Umstände. Wenn sie ihre Arbeit beendet hat, bleibt von ihm nichts mehr übrig.“ Diese brillante Analyse aus dem Standpunkt eines „Zuchthäuslers“ war ursprünglich als Einführung zu den gesammelten Werken des wegen Raubes und Päderastie mehrfach inhaftierten Dichters Jean Genet gedacht.

59 Vgl. den Bildband Schild 1985.

60 Dazu Ruggiero 2003.

61 Dostojewskij 1994; Genet 1982.

62 Baudelaire 1979.

63 Sling (alias Paul Schlesinger) 1929.

64 Gramsci 1988; Havel 1984.

65 Morus/Campanella/Bacon 1960.

66 Zitiert nach Alff 1989, 85 f.

67 Deimling 1989, 171.

68 Foucault 1976b, 93 ff.; Newburn 2017, 126.

69 Becker 2002, 11 ff.

70 Sinngemäß: „Jede Gesellschaft hat die Kriminellen, die sie verdient“.

71 Lavater 1775-1779, 490.

72 Gall/Spurzheim 1809.

73 Garland 2002, 8 f.

74 Quételet 1914; Quételet 1921.

75 Quételet 1914, 104 f., 107.

76 Crews 2009.

77 Debuyst u. a. 2008.

78 Lombroso 1887.

79 Lombroso 1902, 326 f.

80 Kürzinger 1977.

81 Strasser 2005, 47.

82 Goring bei Vold 1958, 58.

83 Gebhardt/Heinz/Knöbl 1996.

84 von Liszt 1905, 65.

85 von Liszt 1883.

86 Bock 2019, Rn. 56 ff.

87 Fuchs/Hofinger/Pilgram 2016.

88 S. Bohnsack 2014, 13 ff.

89 Dazu Flick 2019, 28 f., 95; Meier 2021, § 4 Rn. 7 f.

90 S. Eisenberg/Kölbel 2017, § 13 Rn. 5.

91 Wincup 2013, 103.

92 Bock 2019, Rn. 74; Neubacher/Oelsner/Schmidt 2013, 675.

93 Wittenberg 2014, 96 ff.

94 Newburn 2017, 996.

95 Wincup 2013, 104.

96 Eisenberg/Kölbel 2017, § 13 Rn. 18.

97 Göppinger 2008, § 5 Rn. 32 f.; Wincup 2013, 105.

98 Eisenberg/Kölbel 2017, § 13 Rn. 20; § 16 Rn. 13.

99 Häder 2019, 285 ff.

100 Wincup 2013, 106.

101 Kromrey/Roose/Strübing 2016, 326 f.

102 Eisenberg/Kölbel 2017, § 13 Rn. 24; Schneider 2007, 226.

103 Kromrey/Roose/Strübing 2016, 359 ff.

104 Schneider 2007, 219; ebenso Meier 2021, § 4 Rn. 19.

105 Eisenberg/Kölbel 2017, § 13 Rn. 1; Meier 2021, § 4 Rn. 10 ff.

106 Coomber u. a. 2014, 35.

107 Kromrey/Roose/Strübing 2016, 77 ff.

108 Häder 2019, 117 ff.; Meier 2021, § 4 Rn. 22b.

109 Meier 2021, § 4 Rn. 24; Schneider 2007, 231 f.

110 Kromrey/Roose/Strübing 2016, 375.

111 Hierzu Meier 2021, § 4 Rn. 38 ff.

112 Mayring 2016.

113 Bock 2019, Rn. 87.