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Kitabı oku: «Am Jenseits», sayfa 17

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Es ist unmöglich, die Stimmung zu beschreiben, in welcher ich mich jetzt befand. Über uns der mit einem nicht eigentlich sicht aber doch wahrnehmbaren Schleier bedeckte Himmel, an weichem nur die Sterne bis mit vierter Größe zu sehen waren, um uns die im unzureichenden Scheine dieser Sterne liegende Wüste mit ihrer geheimnisvollen Verschwiegenheit, vor uns der rätselhafte Mann, der für das Diesseits blind war, aber für das Jenseits sehend zu sein behauptete, und in uns die Ahnung der Enthüllung und Beleuchtung einer bisher unerforschten Dunkelheit! Aber wo lag dieser »Ort der Sichtung«, von welchem wir gehört hatten? Wirklich und wahrhaftig im Jenseits, oder in der Einbildung eines phantastischen, vielleicht gar geisteskranken Menschen? Worauf würden wir die versprochene Aufklärung zu beziehen haben? Auf einen der höchsten und wichtigsten unserer Glaubenssätze oder auf die Träumereien und Truggebilde eines hirn— und nervenleidenden Muhammedaners? Ich war im höchsten Grade gespannt, und Halef und der Perser waren dies nicht weniger als ich, denn ihnen als Orientalen war für solche Situationen wohl mehr Empfänglichkeit gegeben als mir, dem weniger glühend fühlenden und kälter denkenden Europäer.

»So komm! Ich führe dich!« hörten wir jetzt den Münedschi mit der bisherigen, fremdartigen Stimme sagen und mit seiner eigenen, ganz anders klingenden, antwortete er hierauf: »Ich folge dir, Ben Nur, der du ein Engel Allahs und der Lehrer meiner Seele bist!«

Es sei mir, um das nun Folgende leichter verständlich zu machen, erlaubt, diesen von mir nur in der Einbildung existierend gehaltenen Ben Nur von dem Münedschi zu unterscheiden. Zwar war es natürlich nur der Blinde, weicher sprach, aber das, was wir hörten, war ein Gespräch zwischen zwei Personen, deren Stimmen so verschieden klangen, daß wir bei geschlossenen Augen auf die Anwesenheit zweier Menschen außer uns geschworen hätten, wenn die Gewißheit nicht dagewesen wäre, daß es nur allein der Münedschi sei.

Es verging eine Zeit, während welcher wir, um das sich vor uns Entwickelnde ja durch keinen Hauch zu stören, nur leise zu atmen wagten. Einmal hörten wir den Blinden mit seiner eigenen, ängstlich klingenden Stimme »Halte mich, oh, halte mich!« sagen; dann war es wieder still. Er stand, wie von Anfang an, hoch aufgerichtet da, die eine Hand nach der Seite erhoben, als ob er an ihr geleitet werde. Da ließ er sie sinken, als ob niemand mehr sie halte, strich sich mit der andern über das Gesicht und bewegte den Kopf, wie jemand, der staunend um sich blickt.

»Wir sind angekommen. Nun bleib an meiner Seite stehen, und sag, was du erblickst! Fürchte dich vor nichts, denn ich bin bei dir, und niemand darf sich uns nahen!«

Das sagte der Blinde mit Ben Nurs Stimme, worauf er mit seiner eigenen erwiderte:

»Ich fürchte mich nicht, denn du hast mir schon oft Furchtbares gezeigt, ohne daß es mir schadete. Ich weiß also, daß ich bei dir sicher bin.«

Er schaute wieder mit zwar geschlossenen Augen aber sehr lebhaften Kopfbewegungen um sich und sagte dann:

»Welch ein Wunder! Wohin hast du mich geführt! Ich sehe Gegenstände und Menschen, die doch keine Gegenstände und Menschen sind. Es ist alles so gestaltet, und es bewegt sich alles so, wie auf der Erde, und doch bin ich der vollen Überzeugung, daß nichts hier irdisch ist!«

»Sag nur, was du siehst, dann werde ich es dir erklären!« gebot die andere Stimme, also der sogenannte Ben Nur.«

Hierauf erhob der Münedschi die Arme, um alles, was wir nun hörten, mit verdeutlichenden Bewegungen derselben zu begleiten, und fuhr fort:

»Ich stehe auf einem hohen, breiten Steine, ganz allein mit dir«, sagte er. »Hinter uns dehnt sich eine Mauer, deren Höhe und deren Enden ich nicht erkennen kann. Sie hat viele, viele enge, niedrige Öffnungen, durch weiche immerfort Menschen erscheinen und auf uns zukommen, um sich vor uns zu einem breiten Heereszuge zu vereinen.«

»Das ist El Widah, die Mauer, an deren andern Seite das Erdenleben endet, indem es zu einer dieser Türen führt, vor denen kein Sterblicher stehenbleiben oder gar umkehren kann, außer Gott erlaubt es ihm. Sprich weiter!«

»Es liegt ein weites, ebenes, ödes Land vor mir«, folgte der Blinde dieser Aufforderung, »von einem tief und schwarz gähnenden Abgrund begrenzt, über den eine Brücke hinüberführt, deren Breite kaum die Schärfe eines Rasiermessers beträgt.«

»Das ist Es Ssiret, die Brücke des Todes«, erklärte Ben Nur. »Sie geht über El Halahk, den Abgrund des Unterganges, des Verderbens. Erkennst du, wo sie endet?«

»Ja, ich sehe es, doch nicht so deutlich, wie ich möchte. Es ist ein Tor, weiches ich wohl bestimmter sehen würde, wenn nicht darüber die Flammeninschrift leuchtete Zur Seligkeit!‘ Auch die Fortsetzungen seiner Seiten, welche sich aus dem Abgrunde erheben, sind mir dunkel; darüber aber leuchtet eine Klarheit, weiche von keinem irdischen und von keinem Sonnenlichte stammen kann. Indem ich sie erblicke, steigt eine unbeschreibliche Wonne und Sehnsucht in mir auf, die mich emporheben und hinübertragen will; aber mein Fuß klebt fest an diesem Steine; ich kann nicht fort; ich bin zu schwer!«

»Du bist so schwer, weil du noch zur Erde gehörst, auf der das Gesetz der Schwere gilt, welches ich für dich für diese kurze Stunde überwand. Ich sage Stunde, denn hier, wo wir uns befinden, gibt es noch Zeit. Die Ewigkeit beginnt dort an der Brücke. Du stehst hier am Jenseits, nicht in demselben; das ist der äußerste Punkt, wohin ich deine unsterbliche Seele führen durfte, weil sie noch das irdische Gewand zu tragen hat. Du siehst dich hier also zwischen Zeit und Ewigkeit, nicht vor dem Tode und nicht nach dem Tode, sondern mitten in demselben, und alles, was du hier erblickst, geschieht mit der Seele während der Zeit des Sterbens. Was siehst du noch?«

»Ich sehe die Scharen der Seelen, welche durch die stille, unheimlich lautlose Öde des Todes nach der Brücke wallen. Allah, Allah, beschütze und bewahre mich!«

Diesen letzten Satz schrie er laut auf, als ob eine plötzliche, große Gefahr über ihn hereingebrochen sei. Dabei breitete er, wie nach einem Halte suchend, ängstlich beide Arme aus. Hierauf ließ er sie beruhigt wieder sinken und antwortete dann sich selbst mit der Stimme Ben Nurs:

»Sei getrost; ich halte dich! Du nanntest die Zeit des Sterbens, in welcher du dich befindest, still und lautlos. Jetzt erfährst du, daß es auch ein anderes als still ergebenes Scheiden gibt. Sprich!«

»Es erhob sich ein Sturm, in welchem mein Felsen zitterte; finstere Wolkenschwaden wurden über mich hingepeitscht; Donner rollte; Blitze zuckten. Ich hörte Schlachtengeschrei und das Krachen der Schüsse. Nun ist alles vorbei, jetzt sind die grauenvollen Schatten gewichen – doch noch breiten sich düstere Schemen in meiner Seele aus. Ich sehe zwar nichts mehr; aber ich höre die Stimmen der Sterbenden. Mütter jammern um ihre Kinder; Frauen winseln nach ihren Männern; Geizige schreien nach den Reichtümern, die sie verlassen müssen, Herrscher nach ihren Thronen, Ehrsüchtige nach ihrem Ruhme. Es ist ein Brüllen, Zetern, Klagen und Weinen um mich her, weiches mich selbst zum Sterben bringen wird, wenn ich es noch länger hören muß! . . , Allah sei Dank! Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!‘ rief die Stimme eines gläubig sich Ergebenden, und sofort ward alles still. Die Nebel weichen, und ich sehe die Scharen wieder ohne Laut und ruhig wallen. Auf der Mitte des Weges sehe ich einen Steg, zu dessen Seiten lichte Engel stehen. Er ist beweglich und so schmal, daß man ihn nur einzeln betreten kann; aber keiner darf ihm ausweichen; alle müssen darüber!«

»Das ist El Mizan, die entscheidende Waage der Gerechtigkeit. Sie mißt jede Tat, jedes Wort und jeden einzelnen Gedanken. Lege das leiseste, kürzeste deiner Gefühle darauf, so wird sie dir sagen, wie schwer es vor dem allwissenden Erforscher deines Innern wiegt! Siehst du, was die Engel an diesem Stege, an dieser Waage, tun?«

»Soeben tritt einer aus ihren Reihen hervor und nimmt die über die Waage gegangene Seele an der Hand, um sie nach der Brücke zu leiten.«

»Nicht nur nach der Brücke, sondern über sie hinüber! Diese Seele ist gewogen und der Gnade Gottes wert befunden worden. Darum wird sie an der Hand ihres lichten Führers glücklich über Es Ssiret gelangen. Aber die zu leicht Gefundenen, welche hier auf Erden stolz auf ihre Vorzüge pochten oder, ihrer Trägheit frönend, sich nur auf ihre vermeintliche Sündlosigkeit verließen und darum versäumten, wirkliche Arbeit zu vollbringen, anstatt in bequemer Sorglosigkeit kommen zu lassen, was da kommen werde, diese finden hier keinen Beschützer, sondern bleiben auch hier ihrem gewohnten Selbstvertrauen überlassen. Ei Halahk, der Abgrund des Verderbens, steht für sie offen; denn schon hier, in der Stunde des Todes, nicht erst im, sondern bereits am Jenseits, tritt das große Gesetz der ewigen Gerechtigkeit in Kraft, daß der Mensch genau mit dem bestraft wird, womit er auf Erden sündigte. Trau ja den friedlichen, still lächelnden Zügen einer Leiche nicht! Sie ist ein abgelegtes Gewand, dem du nicht anzusehen vermagst, unter welchen Qualen die Besitzerin, die Seele, von ihm schied. Der Tod tritt nicht mit dem letzten Worte ein, welches der Sterbende spricht, auch nicht mit der letzten Bewegung, die man an ihm bemerkt, und kein Irdischer vermag zu ergründen, was zwischen diesem Worte oder dieser Bewegung und dem wirklichen Schritte hinüber für eine Folterpein zu überstehen ist! Nun richte deine Augen auf die vorübergehenden Scharen selbst! Du siehst, wie sie sich zusammenfinden und sich ordnen, um, zueinander passend, in Gruppen den Entscheidungsweg zurückzulegen. Sag mir, was du erblickst! Was du nicht weißt, das werde ich dir erklären.«

Der Münedschi berichtete:

»Es versammelt sich soeben eine große, große Menge von Leuten, welche fromm die Hände falten und still ergeben ihre Köpfe senken. Ihre Lippen bewegen sich im Gebete. Ihnen vorangetragen wird eine Standarte, auf weicher das Wort Dijanet (Frömmigkeit, Gottesfurcht) zu lesen ist. Das sind gute Menschen, welche gewiß glücklich über die Brücke hinüberkommen!«

»Du irrst. Du lässest dich von ihrer zur Schau getragenen Frömmigkeit ebenso täuschen, wie die Genossen ihres Erdenlebens von ihnen betrogen worden sind. Das sind die Gewohnheitsbesucher der Kirchen und Moscheen. Sie versäumten keinen Gottesdienst und saßen da auf ihren mit Geld bezahlten, wohlnummerierten Plätzen, auf welche sich ja kein anderer setzen durfte, wenn er nicht zu seiner öffentlichen Beschämung von ihnen hinweggestoßen werden wollte. Sie gingen zur bestimmten Zeit und in dem dazu bestimmten Rocke nach dem Gotteshause, gesenkten Blickes, wie auch jetzt, und die Fatha oder das Gesangbuch von den Händen innig umschlungen. Dabei aber blickten sie verstohlen nach rechts und links, ob man sie denn auch gehen sehe. Sie sprachen ihre Gebete oder sangen die vorgeschriebenen Lieder, sie hörten die Worte des Predigers, und wurde ihnen das zu langweilig, so ließen sie sich andachtsvoll in das süße Schläfchen des Bewußtseins fallen, daß sie das alles wohl schon tausendmal gehört hätten und es also ebensogut wüßten, wie der Mann dort auf der Kanzel. Dann gingen sie erhobenen Hauptes heim, denn sie hatten jetzt für diese Woche ihre Pflicht getan und dadurch Gott gezwungen, ihnen nun auch eine Woche lang dafür dankbar zu sein. Sie forderten von diesem Gotte, daß die Nummer des Platzes, den sie für sich gelöst und nur höchst seiten leer gelassen hatten, in das Buch des Lebens eingetragen werde, weil nur ihnen, und ja keinem andern, das wohlerworbene Recht zustehe, auf ganz derselben Nummer der Seligkeit auch im Himmel zu sitzen. Dieser Himmel aber ist unnummeriert und hat also nicht den auf der Erde bezahlten Platz für sie; sie werden alle, alle von der Brücke in den Abgrund stürzen. Weiter!«

»Ich sehe freundliche Menschen sich um ein Banner scharen, welches das Wort Kerem (Güte) trägt. Auf ihren Gesichtern glänzt das Lächeln der Sanftmut, der Milde, der Güte, der Weichherzigkeit. Sie sind in Liebe vereint; sie drücken sich die Hände und scheinen so froh darüber zu sein, daß sie sich hier zusammengefunden haben. Die leitet ein Engel hinüber, ganz gewiß!«

»Nein! Das sind die sogenannten guten Menschen, die Sanften, die Angenehmen, die stets Friedlichen, die Wohltäter, die Barmherzigen, die wegen ihrer Menschenfreundlichkeit so oft und viel Gepriesenen. Du nennst ihr Lächeln sanft und mild; aber die Waage dort wird es als Selbstgefälligkeit bezeichnen. Diese edlen Menschen waren nur freundlich, um gerühmt zu werden. Ihre Nächstenliebe, ihre Sanftmut besaß einen verborgenen Skorpionenstachel. Es war ihnen eine Lust, bei dem freundlichsten Gesichte und während der gütigsten Rede ein tief und schwerverletzendes Wort in die Seele ihres Nächsten zu bohren und dadurch sein Leben zu vergiften. Sie wußten, daß der Glanz ihrer Wohltaten auf sie selbst zurückfallen werde; sie erwiesen sie also nicht andern, sondern sich selbst. Ihre stete, rücksichtsvolle Höflichkeit war nur Schein, war berechnet, denn sie wußten, daß man einer solchen Liebenswürdigkeit nicht leicht einen Wunsch abschlagen könne. Diese stets nach außen strahlende Huld— und Leutseligkeit war innerlich ein Vampyr, welcher die von dieser Huld Getäuschten möglichst auszusaugen wußte. Siehst du, wie ihre Schar sich mehr und mehr vergrößert? Wundere dich ja nicht darüber, denn zu ihnen gehören alle jene guten Freunde und Freundinnen, deren gleißende Anhänglichkeit nichts als Selbstsucht war. Sie benutzten dich selbst und deinen Einfluß, deine Güter, sie forschten mit Begierde nach allen deinen Schwächen und Fehlern, um sie sich dienstbar zu machen oder sie mit ihresgleichen zu belachen. Sie nisten sich bei dir ein wie Flöhe der Wüste, deren Stich erst ein wohltuendes Jucken, dann aber schmerzende und gefährliche Geschwüre erzeugt. Sie freuten sich lauter als du, wenn du dich freutest, barsten dabei aber heimlich fast vor Neid; sie nahmen scheinbar tief betrübt an deiner Trauer teil, fühlten sich aber im Herzen glücklich darüber. Sie gaben dir in inniger Teilnahme und scheinbar gut meinend, einen schlechten Rat, und kamst du durch die Befolgung desselben zu Schaden, so wußten sie die Schuld auf dich zu schieben und höhnten dich innerlich aus. Schau jetzt hinüber zu ihnen! Ja, sie drücken sich innig die Hände, und ihre Gesichter glänzen in Freundschaftswonne; aber dabei denkt ein jeder in seinem Innern, daß er hinüberkomme, die andern aber nicht. Denen, welche unter dem Zeichen Kerem stehen, ist der Himmel verschlossen! Sprich weiter!«

»Es naht eine unabsehbare Menge, welcher ein Panier mit dem Worte Hakk (Das Recht) vorangetragen wird. In ihr scheinen alle Stände vertreten zu sein, denn ich sehe unter ihnen Hoch und Niedrig, Reich und Arm, Gelehrt und Ungelehrt, Fürsten, Beamte, Krieger, Kaufleute, Bauern, Handwerker und sogar auch Bettler. Sie kommen getrost und wohlgemut heran, mit festen, sicheren Schritten und unbeirrten Blicken. Die Gewißheit, daß sie die Brücke in kräftigem Marsche überschreiten werden, ist ihnen allen anzusehen. »

»Warte, bis sie an die Waage kommen, wie sie da so ganz anders blicken und angstvoll weiterschleichen werden«, sagte die Stimme Ben Nurs. »Sie folgen dem Banner ihrer venneintlichen Rechte; aber sie meinen damit nicht die Menschenrechte, die ihnen von Gott für die Erde verliehen waren, sondern die von ihnen selbst erfundenen. Sie sind nicht das, wofür sie sich ausgeben, sondern das genaue Gegenteil davon, nämlich Aufrührer und Empörer. Mit diesem Worte Aufruhr meine ich nicht die Verschwörung gegen irdische Herrscherthrone, sondern die Auflehnung gegen göttliche und von Gott geheiligte menschliche Gesetze. Es geht über die Erde eine ununterbrochene Revolution gegen diese Gebote, hier in stillwühlender Verborgenheit, da in sichtbarer, immer weitergreifender Gärung und dort in offener, gewalttätiger Angriffsweise. Die Menschen haben verlernt, zu gehorchen; sie wollen alle befehlen. Der Reiche verlangt von Goldes Gnaden und der Bettler auf Befehl der Mildtätigkeit Gehorsam. Der Arbeitgeber stützt sich auf das Recht seines Unternehmergeistes, seines kaufmännischen Talentes, und der Arbeiter auf den Wert seiner Geschicktheit und seiner Fäuste. Die Großen der Erde betonen die Vorrechte der Geburt, und die andern heben dagegen ihre persönlichen Errungenschaften hoch empor. Hier dieser fordert in seinem eigenen Interesse Gehorsam für im Laufe von Jahrhunderten bewährte Einrichtungen, und dort jener verlangt aus demselben Grunde, daß man den Anforderungen der Neuzeit folgsam sei. Es werden neue Rechte und neue Pflichten angefertigt, denen man wohlklingende Namen gibt. Da wird von einem Rechte auf Gleichheit in den verschiedensten Beziehungen gesprochen, von einem Rechte des freien Denkens, der Arbeit, des Lohnes, der Verbindung und Verbrüderung. Jeder stellt sich kampfbereit, um grad das Recht, weiches er für das seinige hält, zu verteidigen, und erkennt dabei nicht, daß in dieser Verteidigung schon der Angriff gegen andere Rechte liegt. So wirkt einer gegen den andern, und die eigentliche, wirkliche Wahrheit ist doch, daß sie alle unrecht haben. Denn nach Gottes Ratschluß besitzt der Mensch nur ein einziges Recht und nur eine einzige Pflicht, nämlich das Recht und die Pflicht der Liebe. Wie aber steht es bei euch damit im Erden[eben? Gibt es einen einzigen Menschen, welcher auf dieses Recht der Liebe verzichtet? Und wie viele aber sind es, welche, wie Gott es doch gebietet, ihr ganzes Leben der Pflicht der Liebe weihen? Schau sie an, die da vorüberziehen. Sie alle haben nach Gerechtigkeit geschrieen, aber keine Gerechtigkeit gegeben, weil sie keine Liebe besaßen. Sie haben gesprochen und geschrieben, gestritten und gebrüllt für ihre einander widerstreitenden, einander aufhebenden Rechte; sie haben gehadert gegen die Menschen und gegen Gott, von welchem sie mit erhöhter Stimme Gerechtigkeit verlangten, wobei sie sogar hier mit derselben Forderung herangeschritten: Sie verlangen die Seligkeit als ihr Recht; sie bringen das große Ausrufungszeichen nach Gottes Gerechtigkeit getragen und ahnen nicht, daß sie dort an der Waage nach der ihrigen gewogen werden. Sie haben sich gegen sein großes Gesetz der Liebe empört, ihm den Gehorsam verweigert, ihm den Glauben versagt, ihn verleugnet und aus ihrem Leben gestrichen, und nun übt er dasselbe Recht wie bisher sie, nämlich, sie ebenso nicht zu kennen, wie sie ihn nicht gekannt haben. Sie sind vorüber. Wer kommt jetzt?«

»Ich sehe die schöne Inschrift Muhabba (Liebe). Die, welche hinter ihr schreiten, sind sicher für die Seligkeit bestimmt; denn du hast ja soeben Liebe gefordert. Ich unterscheide – – —«

»Schweig! Schweig von ihnen!« unterbrach ihn Ben Nur streng. »Die,welche jetzt an dir vorüberziehen, sind entweder Abgötter oder Götzendiener gewesen, eins von beiden, weiter nichts! Das sind die Väter, die Mütter, welche nur einen einzigen Gegenstand für ihre Liebe, ihren Sohn oder ihre Tochter, kannten. Das sind die Männer, welche ihre Frauen vergötterten, und die Frauen, welche ihre Manner anbeteten. Die Liebe, welche nur auf eine einzige Person gerichtet ist, ist keine Liebe, sondern das häßliche, abstoßende Narrbild derselben. Schau die Mütter, weiche als Sklavinnen vor den Füßen ihrer Töchter knieen, und die Gatten, weiche sich von den heißgeliebten, angebeteten Füßen in den Staub treten lassen! Der nichtigste Wunsch der vergötterten Lippen setzt sie in Galopp, während sie zur Erfüllung göttlicher Gebote oder für das Wohl ihres Nächsten kaum einen langsamen Schritt übrig haben. Wie sie auf jedes Wörtchen lauschen und sich bei der geringsten Trennung sehnen! Wie sie arbeiten und sich sorgen, sich ganz hingeben, sich aufopfern, bis sie am Charakter vollständig zum Schatten geworden sind! Für den aber, dem sie alles, alles verdanken, was ihnen gegeben worden ist, und dem sie dafür gehören für Zeit und Ewigkeit, für den haben sie keine Handreichung! Und wenn er dann in seinem heiligen Zorne, um diesem Götzendienste ein Ende zu machen, den Gegenstand dieser Narretei aus dem Leben nimmt, welch ein Stöhnen und Jammern ist da zu hören und welche Verzweiflung, die sich selbst Vernichtung wünscht, zu sehen! Wer in dieser Weise einen Menschen höher setzt als Gott, der wird sich dort an der Waage und dann an der Brücke auch nur auf diesen Menschen, nicht aber auf Gott zu verlassen haben; das ist die unerschütterliche Gerechtigkeit, welche den Gegenstand der Sünde zum Mittel der Bestrafung macht! Nun schau auch zu den so heiß angebeteten Idolen. Sie wurden so lange verehrt und bedient, bis ihnen das als ganz selbstverständlich vorkam, und so ließen sie sich in dem Bewußtsein, ganz erstaunliche Vorzüge zu besitzen, weiter bedienen und weiter bewundern. So wurden sie zum Hochmute und zur Selbstüberhebung geführt. Da sie nichts zu tun hatten, als sich lieben und anbeten zu lassen, wurden sie körperlich und geistig träge, und waren je länger desto weniger imstande, ihre irdischen Pflichten zu erfüllen und sich gar noch mit Gedanken über das Jenseits zu befassen. Sie wurden geistig totgeliebt und geistig totgepflegt; ihre Kräfte schwanden immer mehr und mehr, bis von ihnen nichts übrig blieb als nur auch ein Schatten ihrer selbst, der aber immer noch angebetet sein wollte und jetzt in der stolzen Überzeugung hier vorüberschreitet, daß ihm ein Sitz ersten Ranges im Himmel sicher sei. Sie haben aber ihr Gutes schon auf Erden genossen, und Götzenbilder kennt das Jenseits nicht! Weiter!«

Der Blinde fuhr fort:

»Es kommt ein stolzer Zug daher, dem die Inschrift Hanahhn!‘ (Wir sind es!) hoch und weithin sichtbar vorangetragen wird. Diese Leute gehen stolz, mit majestätischen Schritten und sieghaften Mienen. Über ihre Gesichter breitet sich das Bewußtsein der Würde und Erhabenheit. Auch sie scheinen verschiedenen Ständen anzugehören, und obwohl sie langsam schreiten, sehe ich doch, daß jeder von ihnen bemüht ist, den andern voranzukommen. Das müssen hohe Herren sein, die sicher nicht erwarten, zu leicht befunden zu werden.«

»Ja, sie waren Herrscher auf Erden, Herrscher auf verschiedenen Gebieten, haben sich aber auf dem Wege zur Waage der Gerechtigkeit zusammenfinden müssen. Da sind Fürsten, welche über Länder und Völker regierten, aber nicht einmal sich selbst beherrschen konnten. Da sind allerlei Würdenträger, weiche der ihnen von Gott anvertrauten Würde nicht würdig waren. Da sind hohe Gelehrte, Koryphäen der Wissenschaft, welche sich für Erb und Gerichtsherren der Weisheit hielten und sich gegen die Einsicht sträubten, daß alles irdische Wissen und Erkennen Stückwerk ist und nur der Glaube zur Wahrheit und Vollkommenheit führt. Da sind die Paschas und Sultane des Mammons, welche von ihren protzenden Thronen aus die Unbemittelten knechteten und in Fesseln schlugen, ohne zu ahnen, daß sie selbst die Fesseln der niedrigsten Knechtschaft trugen, die es auf Erden gibt: die aus Goldbarren geschmiedeten Handschellen, die erwürgenden Zugstricke des Geldsackes. Da sind die Genies, welche ihre herrlichen Geistesgaben nur brauchten, um gegen den zu kämpfen, der sie ihnen lieh, auch die Künstler, denen die Mahnung, daß die wahre, echte Kunst himmelan zu streben hat, nur lächerlich war. Da sind die Herren der Feder, der Literatur, die Zeitungsmonarchen, welche unter ihrer sechsten Weltmacht die Macht ihres eigenen Einflusses, die Wirkungskraft nur ihrer Zwecke verstanden. Da sind die Helden der Phrase, die Redner des Volkes, die Sprecher der Parlamente, die ihre Schlagworte wie platzende Bomben, das Göttliche verneinend, zerstörend in die Versammlungen warfen, unbekümmert darum, daß sie dafür dereinst das zermalmende Richterwort treffen werde, von welchem geschrieben steht: denn das Wort Gottes ist wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert!‘ Sie alle, alle, die ich dir jetzt bezeichnete, haben ihre eigene, zufällige oder angemaßte Macht an die Stelle der Macht der Liebe gesetzt und werden nun dort an der Waage zu ihrem Schrecken erfahren, daß alle diese von ihnen mißbrauchte Gewalt nicht imstande ist, die ewige Gerechtigkeit auch nur um das Tausendstel eines Haares breit zu ihren Gunsten zu neigen. Fahre fort in deinem Berichte!«

»Die jetzt kommen, folgen einem Banner, auf welchem Schatahra (Klugheit) zu lesen ist.«

»Sprich nicht weiter von ihnen; ich sehe sie! Das sind die irdisch Klugen, welche sich hüteten, mit ihrem Glauben offen hervorzutreten; ihr Vorteil verbot ihnen dies. Auch sind die Schamvollen dabei, weiche befürchteten, sich lächerlich zu machen. Ich sage dir, es gibt sogar Menschen, weiche wohl beten möchten, aber dies nicht fertigbringen, weil sie sich dabei nicht nur vor sich selbst, sondern sogar vor Gott genieren. Sie sahen den Säemann der göttlichen Liebe über die Felder schreiten, und sie sahen, daß die Krähendes Unglaubens hinter ihm den Samen wegfraßen; sie sind untätig nebenhergegangen; sie ließen ihn ungestört säen, und sie hinderten die Vögel nicht, diese Arbeit der Liebe um den Erfolg zu bringen. Die einen haben sich vor Gott versteckt; die andern sind weder für noch gegen ihn gewesen; nur werden die ersteren ihn jetzt auch nicht sehen, und die letzteren erwartet ganz dieselbe Gleichgültigkeit. Sie mögen sehen, wie sie hinüberkommen. Weiter!«

»Es kommen jetzt weißgekleidete, fleckenlose Gestalten, an deren Spitze ich den Wahlspruch Nadahfa! (Reinheit) lese. Ihr Gang ist sehr vorsichtig, damit ihr Fuß nichts Unsauberes berühre, und ihre Hände sind unausgesetzt bemüht, die Stäubchen zu entfernen, welche ihren Gewändern angeflogen sind.«

»Ja, das sind die Reinen, die Unbefleckten, deren einziges Bestreben war, auch nicht die allergeringste Unsauberkeit an sich sehen zu lassen. Sie gingen in Beziehung auf ihren äußerlich moralischen Lebenswandel auf den Zehenspitzen, um ihre Füße ja nicht zu beschmutzen; sie taten die lächerlichsten Schritte und Sprünge, um sich die sittlich trockenen Stellen auszusuchen; sie hielten sich stets allein, und setzte sich ja einmal ein anderer neben sie, so rückten sie erschrocken von ihm ab. Sie kamen niemals mit der Polizei, niemals mit einem Paragraphen des Strafgesetzes in Berührung, sie hüteten sich auch vor jeder andern Sünde, die nicht von diesem Gesetz getroffen wird. Schon der Gedanke, daß etwas von ihnen falsch gedeutet werden könne, versetzte sie in Schreck, denn der gute Leumund war ihr allerhöchstes Gut im Leben und im Sterben. So war ihr ganzes Bestreben nur auf ein gutes Aussehen nach außen, auf ihren Ruf bei den Mitmenschen gerichtet; an ihrer innern Reinheit aber arbeiteten sie nicht. So ein Fleckenloser war gewiß keines Diebstahls fähig, aber dem Herrgott hat er den größten Teil seines Lebens abgestohlen! Eines strafbaren Betruges machte er sich niemals schuldig, aber sein Weib hat er um das Lebensglück und seine Kinder um den frohen, schönen Glanz ihrer Jugend gebracht! Ein Mörder, ein Totschläger, ein Unmensch war er nie, aber für seine Wissenschaft konnte er Tausenden von Pferden, Hunden, Katzen und andern armen, tief beklagenswerten Tieren die entsetzlichsten Martern und den qualvollsten Tod bereiten! Ein Hochverrat, eine Majestätsbeleidigung wäre ihm unmöglich gewesen, aber die himmlische Majestät Gottes hat er in seinem Innern unzähligemal geschändet! Meineid und Fahnenflucht verachtete er, aber vom Militär hat er sich lossimuliert! Raub und Erpressung hielt er für die schändlichsten der Taten, aber Bücher hat er unter anderm Titel und unter vorsichtiger Veränderung der Namen nachgedruckt und seine Arbeiter gezwungen, sich für ihn für geringeren Lohn zu schinden, weil sie nur von ihm abhängig waren! Falschmünzerei oder falsches Gewicht war bei ihm nicht zu finden, aber die .Geschäftsgeheimnisse seines Mitbewerbers hat er ausgespürt, und seinen Kunden verkaufte er Wasser in der Milch und das Fleisch verendeter oder krank gewesener Tiere! Bestechung gab es nicht in seinem Amte, doch die Stelle, welche er zu vergeben hatte, bekam der Schützling seines Freundes, aber nicht der ihrer Würdige! So waren diese alle äußerlich rein, aber innerlich voll Schmutz. Nun mißt die Waage dort nicht den äußern, sondern den innern Menschen. Denkst du auch jetzt noch, daß diese Reinen glücklich über die Brücke kommen werden?«

Der Münedschi antwortete:

»Mir ist das Herz zum Brechen schwer! So viele, viele, viele ich bisher gesehen habe, es war kein einziger unter ihnen, den du der Gnade Allahs für wert gehalten hast. Soll denn der Abgrund alle, alle verschlingen? Soll ich mich denn nicht wenigstens über einen, nur einen einzigen freuen, der drüben an das Tor der Seligkeit gelangt?«

»Sie waren der Gnade Gottes nicht würdig, weil sie nicht nach ihr gestrebt haben. Wer auf seine vermeintlichen Verdienste pocht und dafür den verdienten Lohn, aber keine Gnade fordert, der wird auch keine finden. Aber ich bemerke, daß dein Wunsch in Erfüllung geht. Sag mir, was du jetzt siehst!«

»Es kommen zwei Frauen, ganz allein, nebeneinander; die eine ist sehr schön, die andere sehr einfach gekleidet. Dann eine Strecke hinter ihnen folgt eine unabsehbare Schar von Männern und Frauen, denen aber kein Panier vorausgetragen wird. Es sind auch viele, viele Kinder dabei. Und nun flammt es plötzlich dort drüben über dem Tore der Seligkeit hell leuchtend auf, so daß hier bei uns die bisherige Düsterkeit wie ein heller, schöner Tag erscheint. Ich sehe, daß die Engel diesem Zuge in freudiger Erwartung entgegenblicken. Sollte er aus Glücklichen bestehen, denen es beschieden ist, den Himmel zu erreichen!«

ja; ihnen ist er bestimmt! Du hast gehört, daß du dich hier mitten in der Zeit des Sterbens befindest. Das helle Licht des Jenseits dringt plötzlich zu uns herüber; die Todesstunde derer, die jetzt kommen, ist eine glückverheißende; sie wird von der Morgenröte des ewigen HimmeIstages überflutet. Die, weiche sich Standarten vorantragen ließen, stellten Forderungen an Gott; sie verlangen hier den himmlischen Lohn für ihre eingebildeten irdischen Vorzüge und Tugenden. Die aber jetzt erscheinen, sind solcher Selbsttäuschung und Überhebung fern. In der Erkenntnis. ihrer Mangelhaftigkeit nähern sie sich in zagender Demut der Waage der Gerechtigkeit, und den Demütigen gibt Gott Gnade. Für sie ist die ihnen entgegenleuchtende Freude der Engel schon im Sterben der Beginn der Seligkeit.«

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
30 ağustos 2016
Hacim:
590 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain