Kitabı oku: «Gommer Winter», sayfa 3
Samstag, 8. Dezember
Zwei Tage lang war es ordentlich kalt gewesen, die Sonne schien, und es lag knöchelhoch Schnee. Jetzt schlug es wieder um. Es schneite zwar den ganzen Tag, aber nur ganz sanft. Ein Temperaturanstieg war angesagt, bald würde der Niederschlag als Regen fallen, und dann war es mit der Winterpracht wohl wieder vorbei.
Im Langlaufen machte Kauz rasche Fortschritte.
»Prima, Kauz! Sehr gut! Du kannst es!«, rief ihm Claire zu. »Es ist wie Velofahren: So was verlernst du nie, wenn du es mal gekonnt hast.« Schonungsvoll benannte sie ab und an Mängel seiner Lauftechnik, die es zu korrigieren galt.
Claire war eine der Üsserschwiizer Instruktorinnen, die Carlo für die Saison angeheuert hatte. Die Hälfte der Skilehrer an der Langlaufschule Steffen waren Gommer, die andere Hälfte stammte aus dem Unterland. Anders als Nik, der die Technik seiner Schüler trocken kommentierte, lobte Claire immerzu, wenn sie mit ihren Kursteilnehmern sprach. Kauz vermutete, dass sie im Hauptberuf Heilpädagogin war. Meist begann sie den Unterricht mit Aufwärmübungen, die an Ringelreihetänzchen erinnerten. Auch Ballzuwerfen zur Schulung von Gleichgewicht und Beweglichkeit sowie Merkspielchen, darauf angelegt, sich die Namen aller Teilnehmer einzuprägen, gehörten in ihr Programm. Kauz war leicht genervt davon. Aber er hatte in den zwei Tagen trotzdem eine Menge von Claire gelernt.
»Ihr habt gaaanz tolle Fortschritte gemacht!«, lobte Claire am Schluss des zweistündigen Unterrichts überschwänglich. »Ich bin echt stolz auf euch! Morgen ist Kursende. Übt heute Nachmittag also fleißig weiter! Ihr seid die beste Klasse, die ich je hatte!« Sie klatschte der Klasse mit behandschuhten Händen Beifall.
Als die Teilnehmer auseinandergegangen waren, blieb Kauz neben ihr stehen und fragte: »Weiß man etwas von Fabienne?«
»Leider nicht«, murmelte Claire.
Kauz spürte, dass sie gern mehr gesagt hätte, aber nicht recht wusste, ob sie durfte. Vor und nach dem Unterricht wurde bei den Skilehrern über das Thema Fabienne rege getuschelt. Es war durchgesickert, dass es zwischen Fabienne und Björn Zoff gegeben hatte und dass Fabienne im Zorn – einige wussten zu berichten: in tiefer Verzweiflung – davongelaufen sei. Es war nicht mehr auszuschließen, dass Fabienne nicht bloß schmollte, sondern dass ihr etwas zugestoßen war. Oder dass sie sich etwas angetan hatte.
»Will Carlo nicht, dass ihr darüber sprecht?«, fragte Kauz.
»Na ja«, wand sich Claire. »Er will halt nicht, dass man es an die große Glocke hängt.«
»Verständlich«, meinte Kauz. »Wann hat man Fabienne denn das letzte Mal gesehen?«
»Am Mittwochnachmittag. Auf dem Weg zum Bahnhof, heißt es.«
»Ach so«, sagte Kauz, »vielleicht ist sie ja bloß weggefahren.« Aber er glaubte seinen Worten selbst nicht.
Schon am Mittwochabend war ein Streifenwagen der Walliser Kantonspolizei vor Steffen Sport vorgefahren. Zwar war alles diskret abgelaufen, aber dennoch bekamen einige mit, dass tags darauf der Skischulleiter Carlo Steffen, die Kursadministratorin Zara und der Skilehrer Björn von der Polizei befragt wurden. Die Gerüchteküche brodelte demzufolge, wenn auch auf kleiner Flamme.
Kauz nahm sich Claires Empfehlung, weiter zu üben, zu Herzen und lief nach dem Unterricht auf den Skiern nach Münster zurück. Er nahm einen Imbiss und machte sich für die Hundeloipe bereit. Die war jenseits von Reckingen angelegt, und so nahm er den Zug. Auf dem Rückweg ging er mit Max in der Langlaufschule Steffen vorbei, um sich für einen weiteren Kurs einzuschreiben. Er wollte seine frisch gemachten Fortschritte vertiefen.
»Okay, Kauz«, sagte Zara, als er im Kursbüro an der Theke stand. »Wenn du nahtlos anschließen willst, dann wäre das ein Dreitages-Kurs, Beginn am Montag. Oder willst du eine ganze Woche buchen?«
»Drei weitere Tage, fürs Erste«, sagte Kauz und versuchte, Zara wenigstens zu einem Blickwechsel zu bewegen. Doch sie sah konstant auf den Bildschirm oder blätterte in ihren Papieren.
»Viel zu tun?«, fragte er.
»Ja«, antwortete sie knapp und hämmerte auf die Tastatur. »Die Kurse sind recht busy«, ergänzte sie, vielleicht um nicht unhöflich zu sein. »Du wirst sehen, die Klassen sind nächste Woche eher größer.«
»Sind dann auch mehr Instruktoren da?«
»Nein«, erwiderte sie. »Das nicht, außer …«
»Außer Fabienne taucht wieder auf, meinst du?«
Zara nickte und beschäftigte sich wieder mit ihren Papieren.
»Weiß man …?«
»Nein«, unterbrach sie ihn, ohne aufzusehen. »Aber Carlo gibt heute vor dem Abendessen ein kurzes Communiqué heraus.«
»Ein Communiqué? Schriftlich?«
»Nein, er sagt einfach ein paar Worte zu den Teilnehmern, die im Galenblick logieren. Damit die Gerüchte nicht überkochen. Und damit man Björn in Ruhe lässt.«
»Verstehe. Aber ich wohne nicht hier im Hotel.«
»Ach so, stimmt. Na dann«, sagte sie, die Augen fest auf den Bildschirm geheftet.
Zicke!, dachte Kauz.
Doch noch ehe er sich abwandte, sah sie plötzlich doch noch auf, blickte ihn aus ihren braunen, etwas eng stehenden Augen intensiv an, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und fügte, dann aber ohne den Hauch eines Lächelns, hinzu: »Mach’s gut.«
Sonntag, 9. Dezember
In der Nacht vom Samstag auf den Sonntag fiel mehr Schnee, der nach und nach in Regen überging. Am Sonntagnachmittag, die Temperatur war mittlerweile auf über zehn Wärmegrade gestiegen, regnete es in Strömen. Im Unterland blies der Fön. Der Schnee verwandelte sich in unappetitlichen Matsch. Schneepflüge waren unterwegs, schoben den Matsch beiseite, damit das Regenwasser von den Straßen abfließen konnte und nicht die Keller der Wohnhäuser überschwemmte. Die Bäume, die vor zwei Tagen noch wunderschön verschneit dagestanden hatten, waren nun wieder schäbig und braun anzusehen.
Der Langlaufkurs konnte am Sonntagvormittag nur noch schlecht und recht beendet werden. Eilig lösten sich die Klassen nach der letzten Unterrichtsstunde auf. Niemand hatte Lust, noch lange im Regen herumzustehen. Wer an diesem Tag abreiste, verabschiedete sich von Claire und den anderen Teilnehmern mit dem Versprechen, nächstes Jahr wiederzukommen. Diejenigen, die noch etwas länger blieben, wünschten sich gegenseitig besseres Wetter.
Ein Tag zum Vergessen!, dachte Kauz, als er nach dem Unterricht, die Skier geschultert, durch die Lange Gasse watete. Vor seinem Speicher stand der Schneematsch knöcheltief. Er ließ Max aus dem Speicher, holte die Schneeschaufel aus dem gegenüberliegenden Ziegenstall und schob den Matsch beiseite, damit das Wasser abfließen konnte. Indem er Max mit der Hand Regenwasser ins Gesicht spritzte, brachte er den Hund dazu, sich draußen energisch zu schütteln. Sonst hätte der das in der Küche getan, und diese Dusche wollte Kauz sich und dem Mobiliar ersparen.
Er holte den Schlüssel für den Oberbau, stieg über die Außentreppe nach oben, entledigte sich vor der Schlafkammer seiner nassen Sportklamotten und zog trockene Kleider an. Das tropfnasse Zeug hängte er in der Nähe des Heizstrahlers auf und stieg wieder nach unten. Kauz überlegte, ob er für einen Sonntagnachmittagskaffee und ein Stück Kuchen in die Kaffemili einkehren sollte, aber ein Blick aus dem Küchenfenster ernüchterte ihn. So machte er es sich in seinem Speicher so gemütlich wie möglich. Um den Ofen, in dem ein kleines Feuer prasselte, war er nun richtig froh. Er braute sich einen Instantkaffee, tat etwas Milch hinein, stellte die dampfende Tasse auf den Küchentisch und holte eine Packung ältlicher Butterbiskuits aus der Küchenschublade. Zusammen mit dem Kaffee schmeckte das trockene Gebäck immer noch köstlich, oder jedenfalls redete er sich das ein.
Dann holte er seine Kamera und prüfte ein weiteres Mal die Bilder, die er kürzlich geschossen hatte. Er pflegte alle Aufnahmen mehrmals anzusehen und jedes Mal ein paar zu löschen. So hatte er zu Haus am Computer nicht mehr allzu viele Bilder zu verarbeiten. Er nahm sich die Fotos vom abendlichen Galenstock und von der nebligen Rottenebene vor. Welches von einigen nahezu identischen Bildern sollte er behalten?
»Wollen Sie dieses Bild wirklich löschen?«
Mit dieser Suggestivfrage verunsicherte das Display Kauz immer wieder. Zur Sicherheit klickte er auf »Nein« und schaute sich die Aufnahme noch einmal genau an, dann auch die vorhergehende und schließlich die zuvor geknipste. Auf welchem Bild wirkte der Nebel über den Bäumen und Sträuchern am Rottenufer am geheimnisvollsten? Wo war die Abendstimmung über der frisch verschneiten Ebene, der einsamen Loipe und den verlassenen Wanderwegen am besten eingefangen?
Schade, dachte Kauz. Ich hätte für die letzten Aufnahmen noch warten sollen, bis keine Langläufer und keine Spaziergänger mehr unterwegs waren. Auf den drei Bildern, auf denen der Nebel besonders gut zur Geltung kam, fielen ihm jetzt plötzlich menschliche Figuren auf. Sie waren in weiter Ferne und eigentlich kaum erkennbar, aber auf den Bildern störten sie. Kauz blätterte auf dem Display vor und zurück.
»Wollen Sie dieses Bild wirklich löschen?«
Kauz war nahe daran, auf »OK« zu drücken und das Bild zu löschen, da stutzte er.
Moment mal!, dachte er.
Er blätterte zurück. Und wieder vor. Und wieder zurück.
Da! Ohne wirklich darauf geachtet zu haben – er hatte sich ja auf anderes konzentriert –, hatte er etwas wahrgenommen, was ihm erst jetzt ins Auge stach. Er zoomte die Bildmitte der Aufnahme heran: Rottenebene, Wanderweg und Langlaufloipe, beide menschenleer. Kauz bewegte den Bildausschnitt seitwärts: im Hintergrund der Waldrand, davor eine schmale Holzbrücke. Zwischen Brücke und Winterwanderweg, auf einem Trampelpfad mitten im Schneefeld, eine menschliche Gestalt. Kauz wählte das vorherige Bild an, dann das noch frühere: Auf diesem waren, wiederum in der Mitte zwischen Winterwanderweg und Brücke, zwei Gestalten zu sehen. Sie stapften durch die unberührte Schneelandschaft, eine frische Spur hinter sich lassend. Das Bild dazwischen zeigte dieselben Gestalten, wobei die vordere der beiden gerade die Brücke betrat. Jetzt klickte Kauz wieder das letzte der drei Bilder an: Eine einzelne Figur, die in umgekehrter Richtung, also von der Brücke zum Winterwanderweg unterwegs war.
Was hat das zu bedeuten?, dachte er.
Beim Fotografieren hatte er die zwei Menschen nicht wahrgenommen. Schon wegen der großen Distanz von vier-, fünfhundert Metern nicht. An zwei Langläufer auf der Loipe und an drei Spaziergänger, die auf dem Winterwanderweg unterwegs gewesen waren, konnte er sich gut erinnern. Denn er hatte warten müssen, bis sie aus dem Bild verschwanden, ehe er abdrückte. Diese beiden aber hatten ihn während der Aufnahme entweder nicht gestört oder er hatte sie einfach übersehen.
Jetzt bedauerte er, die übrigen Aufnahmen schon gelöscht zu haben. Er stellte auf »Bildinformationen«. Diesmal interessierten ihn nicht die verwendete Blende oder Belichtungszeit, sondern nur eins: Wann hatte er die Aufnahmen gemacht?
Die Fotos waren vor vier Tagen, am Mittwoch, den fünften Dezember, aufgenommen worden. Das erste der drei Bilder um sechzehn Uhr dreiundzwanzig, das zweite vier Minuten später, das dritte wiederum achtzehn Minuten später. Auf der dritten Aufnahme war schon deutlich weniger Licht. Wenig später war die Sonne untergegangen, und es war rasch dunkel geworden. Er war am Mittwoch etwa um fünf Uhr nachmittags in den Speicher zurückgekehrt. Kauz erinnerte sich, wie er, am Fensterbrett seiner Schlafkammer sitzend, den Himmel über dem Weisshorn beobachtet hatte. Kurz nach sechs war er dann zum Bahnhof aufgebrochen, um am Apéro im Hotel Galenblick teilzunehmen.
Kauz zoomte die menschlichen Gestalten so nah wie möglich heran. Aber je näher er heranzoomte, desto verpixelter wurden sie. Er konnte nicht einmal erkennen, ob es große oder kleine Menschen waren, ob Männlein oder Weiblein. Kleidungsstücke waren kaum zu identifizieren, die Bilder vermittelten, wenn man die Augen zusammenkniff, lediglich den Eindruck, dass diese Menschen dicke, helle Jacken und Schneestiefel, vielleicht Moon Boots, trugen. Gesichtszüge oder andere Einzelheiten zu erkennen war völlig unmöglich.
Der Kriminalist in ihm gab jetzt keine Ruhe.
Was hatte er schon zu verlieren? Entweder gab es etwas zu entdecken, was irgendwie Klarheit schaffte, dann wäre es ein Riesenfehler, daheim zu bleiben. Bald würde sicher wieder haufenweise Schnee fallen und die Spuren ganz beseitigen. Oder es gab nichts zu entdecken, dann war er eben einfach nochmals an der frischen Luft gewesen.
Als Kauz aufstand und zur Leine griff, sprang sein Hund augenblicklich aus dem Korb. Er streckte sich, gähnte, ging dann aber erfreut zur Speichertür. Kauz nahm seine wetterfeste Jacke vom Haken und stieg in die alten Gummistiefel, die ihm jetzt endlich einmal nützlich waren.
»Komm«, sagte er zu Max, öffnete die Tür und zog die Kapuze hoch. Dann machte er noch mal kehrt und packte sein Smartphone ein, das auf dem Küchentisch gelegen hatte.
Max stand schon ungeduldig auf der Langen Gasse und wartete auf sein Herrchen. Kauz lief dorfauswärts, Max stürmte voraus, bis er ihn zurückpfiff.
Kauz nahm den Winterwanderweg zur Rottenebene.
Nach zehn Minuten stand er an der Stelle, wo er zur Enggä Briggä abzweigen musste. Im Sommer führte ein Wanderweg über die schmale Brücke, die am Waldrand den Rotten überspannte. Im Winter aber lag die Enggi Briggä abseits von Winterwanderweg und Loipe, kaum jemand nahm den beschwerlichen Weg durch den Tiefschnee auf sich.
Von dem Trampelpfad, den Kauz auf den Bildern erkannte hatte, war nur noch eine kaum sichtbare langgezogene Delle zu erkennen. Kauz stapfte dieser Vertiefung entlang durch den matschigen Schnee auf die Brücke zu. Ein Stück vor der Brücke blieb er stehen. Mittlerweile regnete es in Strömen. Kauz pfiff Hund Max herbei und nahm ihn an die Leine. Dann stieg er über den kleinen Rest des Schneewalls, der die Ebene von der Brücke trennte. Auch auf der Brücke lag glitschiger Matsch. Für Max war das kein Problem, aber Kauz musste sich in Acht nehmen, um auf den schlüpfrigen Holzbrettern nicht auszurutschen. Vorsichtig ging er über die Brücke bis ans andere Ende.
Sehr weit können die zwei Menschen nicht in den Wald hineingegangen sein, dachte Kauz. Am vergangenen Mittwoch lag hier kein Schneematsch, sondern frischer Schnee, und zwar mindestens knöchelhoch. In der Nacht auf Donnerstag fiel dann richtig viel Schnee und deckte alles, was auf dem Boden lag, zu.
Kauz ging den verschneiten Wanderweg entlang, den er vom Sommer her kannte. Der führte in den Wald. Dort, wo sich der Weg gabelte, blieb er stehen. Max wurde unruhig und zerrte an der Leine, offenbar hatte er genug und wollte nach Hause. Kauz hielt nach unnatürlichen Bodenerhebungen unter der Schneedecke Ausschau oder nach etwas, das aus dem Schneematsch ragte. Aber da war nichts. Die beiden Menschen waren nur etwa eine Viertelstunde hier gewesen, weit konnten sie also nicht gekommen sein. So stapfte er nur noch ein kleines Stück in die andere Richtung. Auch hier war nichts zu sehen.
Wahrscheinlich sind es doch bloß zwei harmlose Spaziergänger gewesen, dachte Kauz. Vielleicht musste der eine nur mal pinkeln und ließ drum den anderen vorausgehen.
Kauz kehrte zur Brücke zurück und sah sich das Rottenufer beim waldseitigen Ende der Brücke an. Nichts Besonderes. Er inspizierte den Brückenkopf und den Flusslauf unter der Brücke ganz genau. Auch nichts. Kauz betrat wieder die Brücke und beugte sich weit über das Brückengeländer. In Ufernähe lag Schnee, und an einzelnen Stellen waren sich ablösende Eisplatten zu sehen. Die großen Steinbrocken im Fluss, die Kauz von seinen Sommerwanderungen kannte, waren mit schäbigen Schneeresten bedeckt. Er richtete sich auf, ging auf die andere Seite und lehnte sich auch dort über die Brüstung. Aber flussabwärts wie flussaufwärts das gleiche Bild.
»Komm, wir gehen jetzt heim«, sagte Kauz zu seinem Hund.
Max war da anderer Meinung. Er schnupperte intensiv am Brückengeländer.
»Was gibt’s denn da? Hundepippi? Jetzt komm schon, Max!«
Doch Max bockte, er leistete dem Zug an der Leine ganz ungewohnten Widerstand und schnupperte weiter intensiv am Geländer. Kauz beugte sich zu Max herunter und betrachtete sich das Geländer genauer: Da waren Blutspuren! Ein großer bräunlicher Fleck war am zweitobersten und am obersten Geländerbrett zu sehen. Kauz wischte mit dem Handschuh vorsichtig Schnee vom Geländer. Jetzt sah er, dass sich auf dem Deckbrett der Brüstung eine Blutspur bis zum Brückenkopf auf der Minstiger Seite zog. Er nahm sich den Bretterboden vor, schob die oberste Schneeschicht mit dem Fuß beiseite. Er entdeckte weitere Flecken, die sich von der Mitte bis ans Ende der Brücke zogen.
Kauz ging jetzt geradewegs zum Minstiger Ende der Brücke. Über die Brüstung gelehnt erkannte er eine eigenartige Erhebung in der Schneedecke, einen langgestreckten Hügel, aus dem ein Stecken ragte. Jetzt sah er etwas Stoffartiges unter der ausgebuchteten, verregneten Schneedecke hervorlugen. Er stieg zum Rottenufer hinunter, schoss schnell ein paar Fotos, machte ein, zwei Schritte ins Wasser und schob mit einem aufgehobenen Ast vorsichtig den Schnee von dem verdächtigen Hügel. Als am einen Ende der Erhebung der blutverschmierte Kragen einer Daunenjacke, am andern ein Moon Boot sichtbar wurde, ließ er alles liegen, nahm Max straff an die Leine und trat so schnell er konnte den Rückweg an.
»Ich weiß, dass Sonntag ist, Ria«, sagte Kauz in sein Handy, als er am Küchentisch saß. »Aber das ist ein agT.« Denn dass es um einen außergewöhnlichen Todesfall ging, stand fest, auch wenn man nicht voreilig von einem Mordfall sprechen konnte. »Ihr könnt die Suchaktion einstellen«, beschied er der Chefin des Polizeipostens Fiesch. »Wenn das dort unten nicht die vermisste Fabienne Bacher ist, dann fress ich einen Besen. Alarmiere am besten gleich das ganze Karussell: Staatsanwalt, Gerichtsmedizin, na, du weißt schon.«
Aber Ria hatte Einwände.
»Einverstanden, Ria: Es ist nicht sicher, dass es um ein Tötungsdelikt geht. Ein Unfall ist nicht ausgeschlossen, ein Suizid auch nicht. Aber vergiss nicht: Zwei Menschen gingen auf die Brücke, eine Viertelstunde später kam nur eine Person zurück.«
Er erklärte ihr noch einmal, was er auf seinen Schwarz-Weiß-Fotos entdeckt hatte.
»Meiner Meinung nach muss die ganze Bande her, Kriminalpolizei, Spurensicherung, alles«, lautete sein Schluss. »Ja, gut. Ich schicke dir die Bilder. Aber nur die von meinem Handy, die von heute. Die andern kann ich dir erst zeigen, wenn wir uns sehen. – Ja, bis morgen. Tschau.«
Später am Abend machte Kauz einen Dorfspaziergang mit Max. Bei den Gleisen parkten zwei Streifenwagen und zwei auffällig unauffällige Personenwagen. Und ein Leichenwagen. Der Bestatter saß hinter dem Steuer und machte ein Nickerchen. Kauz überquerte die Gleise und ging ein Stück auf dem Winterwanderweg Richtung Rottenebene. Von Weitem schon nahm er den Rummel im Raum Enggi Briggä wahr: Snowmobile waren zu hören, Scheinwerfer wanderten über die Rottenebene. Die Gegend bei der Brücke war ausgeleuchtet, Blitzlichter zuckten in der Dunkelheit, Menschen mit Taschen- und Stirnlampen irrlichterten hin und her. Kauz vermutete mindestens ein Dutzend Polizisten, Kriminalisten und anderes Personal bei der Arbeit.
Auf halbem Weg vertrat ihm ein Uniformierter den Weg.
»Ihr könnt da nicht durch, der Weg ist gesperrt«, sagte er.
»Was ist denn los?«, fragte Kauz.
»Ein Unfall. Gehen Sie bitte wieder zurück«, forderte der Polizist ihn auf, von der Ihr-, zur Sie-Form wechselnd. Er hatte wohl erkannt, dass es sich bei dem Spaziergänger um einen Üsserschwiizer handelte.
Na, dann eben nicht, dachte Kauz. Er kehrte in den Speicher zurück und bereitete sich in aller Ruhe ein feines Abendessen zu. Dazu eine Flasche Walliser Syrah, von einem Winzer in Salgesch, den er noch nicht kannte.
Gegen halb neun wurde energisch an die Speichertür geklopft. Kauz hatte nicht mehr damit gerechnet, dass die Kollegen noch kämen. Er öffnete und ließ Ria Ritz, Alain Gsponer und Lara Stockalper eintreten. Als die Staatsanwältin gerade die Tür schließen wollte, kam von gegenüber, wo er beim Ziegenstall Schutz vor dem Regen gesucht hatte, der pummelige Rechtsmediziner Bivinelli angerannt.
»Permesso?«, fragte er und drängte sich auch noch hinein.
»Ich bringe die ganze Bande mit«, grinste Ria Ritz, »die wolltest du doch, oder?«
»Nur herein in die gute Stube«, witzelte Kauz. »Platz ist in der kleinsten Hütte.«
Ria mit ihrem Mann und Alain Gsponer hatte er im August schon zu Gast gehabt, aber da hatte er bei schönstem Sommerwetter draußen auftischen können. Lara Stockalper und Bivinelli waren noch nie in seinem Speicher gewesen. Die vier schüttelten unter der Tür ihre Regenjacken aus, derweil Kauz aus der Schlafkammer im Oberbau einen Schemel und die zwei Holzstühle holte, über die er sonst seine Kleider legte.
»Du schuldest uns einen Kaffee, Chüzz …«, sagte Ria.
»Mindestens!«, frotzelte Gsponer, der Kriminalinspektor, und rieb sich das vernarbte Gesicht. Er hatte sich eben eine Zigarette zwischen die Lippen gesteckt, besann sich dann aber anders und schob sie ins Päckchen zurück.
»Ist mir klar«, meinte Kauz und mimte den Zerknirschten.
Mittlerweile hatten sich alle um den Küchentisch gesetzt.
»Dir haben wir es zu verdanken«, fuhr Ria Ritz fort, »dass wir am Sonntagabend in Wind und Wetter ausrücken dürfen. Ist doch so, oder?«, fragte sie in die Runde.
Die blutjunge Staatsanwältin Lara Stockalper, die in dieser Runde sozusagen das Küken war, aber offiziell die Führung hatte, rieb die Gläser ihrer modischen Brille trocken, nickte zustimmend und lächelte. Sie hatte es faustdick hinter den Ohren und hatte sich im Sommer Kauz’ ganzen Respekt erworben.
Bivinelli, der sich ziemlich neugierig im Speicher umblickte, wollte nicht unhöflich sein und hob, quasi zur Entschuldigung, die Hände.
»Du kriegst jetzt Gomsverbot, Kauz«, nahm ihn Gsponer auf die Schippe. »Jedes Mal, wenn du hierherkommst, gibt’s Ärger. Und einen Haufen Arbeit. Jedes Mal …«
»… finde ich eine Leiche, ich weiß«, kam ihm Kauz zuvor.
»… oder zwei oder drei.«
»Sag bloß das nicht, Alain!«, rief Ria.
Kauz kannte das: Sie hatten ihre Arbeit fürs Erste getan, jetzt mussten sie sich mit ein paar flapsigen Sprüchen das Belastende von der Seele reden.
»Darf ich fragen, was …?«
»Fragen schon«, unterbrach ihn der Kriminalinspektor. »Aber du kriegst keine Antwort, Kauz. Diesmal bist du nur Auskunftsperson. Die Fragen stellen diesmal wir.«
Kauz wusste nicht recht, ob Gsponer ihn auf den Arm nahm. In der Sache hatte er natürlich recht: Er, Kauz, hatte hier gar nichts zu bestimmen. Nicht einmal in Frageform.
»Aber das verschieben wir auf morgen, Kauz«, lachte Gsponer. »Morgen nehmen wir dich in die Mangel. Dann kannst du auspacken, deinen Fotoapparat und deine ganze Geschichte. – Gibt’s jetzt Kaffee?«
Kauz hatte längst seinen Wasserkessel auf den Campinggasherd gestellt. Jetzt holte er die vier Henkeltassen, die er im Speicher hatte, und ein paar Gläser und stellte sie auf den Tisch.
»Ihr habt bestimmt noch nichts gegessen«, sagte er und tischte die angeschnittene Paillasse, den Viertellaib Roggenbrot, das Stück Käse und den Brocken Trockenfleisch auf, eben alles, was er noch im Kühlschrank und auf dem Vorratsregal hatte. Dann brachte er ein Holzbrett und ein Messer.
»Nit neetig«, »Ach, komm! Lass das!«, wehrten seine Gäste ab. Aber dann griffen sie doch zu.
Es war nicht gerade üblich, dass die Mannschaft, die einen agT zu untersuchen hatte, eine Auskunftsperson heimsuchte und sich von ihr bewirten ließ. Aber Kauz war mit Ria und mit Gsponer befreundet, und sowohl die Staatsanwältin Lara Stockalper wie der Rechtsmediziner Bivinelli kannten ihn von ihrer Zusammenarbeit im Mordfall Imfang her.
»So viel dürfen Sie wissen, Herr Walpen«, eröffnete ihm die Staatanwältin: »Vorläufig besteht noch Informationssperre. Aber morgen oder übermorgen informieren wir die Presse: Wir haben bei der Enggä Briggä eine weibliche Leiche gefunden. Sie weist schwere Verletzungen an Hals und Brust auf. Ob es sich bei der Frau um die Vermisste Fabienne Bacher handelt, wissen wir noch nicht. Die Todesursache und ob es sich um Unfall, Suizid oder Tötung handelt, muss erst untersucht werden. – Ihnen, Herr Walpen, danken wir für die wertvolle Information. Und für die Vorarbeit«, fuhr sie fort und verbiss sich ein Lachen.
Das ist jetzt der Rüffel, dachte Kauz, dafür dass ich mich auf eigene Faust auf die Suche gemacht und im Schnee herumgestochert habe, statt einfach mit den Fotos zur Polizei zu gehen.
Er machte ein schuldbewusstes Gesicht.
»Na ja«, sagte er. »Gern geschehen. Ich war auf einem Spaziergang. Und bin dabei zufällig auf eine Leiche gestoßen. Das kommt vor, oder nicht? – Ein Glas Wein?«, fragte er dann in die Runde. Natürlich war er darauf gefasst, dass alle ablehnten, sie waren ja im Dienst.
So war es auch, nur Bivinelli sagte: »Gern, wenn ich darf. Mein Einsatz ist ja für heute vorbei. Die Leiche nehme ich mir morgen vor. Und chauffiert werde ich auch«, schob er nach und deutete mit dem Daumen auf Kriminalinspektor Gsponer.
»Wir hoffen, dass nichts durchsickert, jedenfalls bis morgen nicht«, nahm Gsponer den Faden der Staatsanwältin auf. »Wir wollen die Bezugspersonen der Vermissten noch einmal befragen. Bevor bekannt wird, dass sie tot ist – wenn es denn wirklich sie ist. Ich fürchte nur, dass wir weitherum sichtbar waren. Aber es ging nicht anders. Die Kriminaltechniker sind übrigens immer noch bei der Spurensicherung«, fuhr er fort, wie um Kauz auch noch einen Informationsbrocken hinzuwerfen.
Danach wurde nicht mehr über den agT Enggi Briggä gesprochen. Doorffä war jetzt angesagt: Man plauderte über dies und das, auch über die Wetterkapriolen, den Fönsturm, der am Nachmittag über dem Urnersee getobt haben sollte, tätschelte Hund Max den Kopf und gab, da man ja unter sich war, Erinnerungen an den Mordfall Imfang zum besten.
Kauz schenkte Kaffee nach, und nach eineinhalb Stunden stand die ganze Bande wieder draußen vor dem gastlichen Schpiichär auf der Langen Gasse.
Es hatte aufgehört zu regnen.
Gsponer steckte sich sofort seine Zigarette an.
Ria Ritz schaute in den Nachthimmel. »Seht mal!«, rief sie. »Es ist ja plötzlich sternenklar! Brrr, das könnte eine kalte Nacht werden. Morgen früh ist bestimmt Glatteis auf den Straßen. Seid also bitte vorsichtig!«