Kitabı oku: «Träume nicht dein Leben», sayfa 2
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Die nächsten Tage verliefen relativ ereignislos. Ich besuchte weiterhin die Sommerkurse an meiner alten Schule, die dafür da waren, dass wir uns für das richtige Studienfach entschieden. Geschichte war mein Favorit, aber meinem Vater zuliebe probierte ich auch Wirtschaft aus. Zusätzlich besuchte ich die Literaturklassen, um meinen Horizont kulturtechnisch noch ein wenig zu erweitern. Wahrscheinlich hatte ich wegen all der Bücher, die ich mir bereits aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, eine so blühende Fantasie.
Was zur Zeit nicht allzu gut war, da ich mir ständig ausmalte, dass mein Name gezogen werden würde. Irgendwo in der Stadt warteten all die Bewerbungen darauf, abgeholt zu werden. Wie ich aus den Nachrichten erfuhr, passierte das, während die Prinzen durch die Reiche reisten. In jeder Großstadt wurde Halt gemacht, die Prinzen begrüßten ihre Völker und jemand nahm die Unterlagen aus dem Rathaus mit. Der letzte Halt war stets die Hauptstadt eines Bezirks, wo auch die Ziehung stattfinden würde. Diese wurde live im ganzen Reich übertragen. Was danach mit dem ausgewählten Mädchen passierte, verrieten sie nicht. Aber es würde wohl einen ganz schönen Rummel geben, sodass man sie vermutlich schnell zum Palast der Einheit bringen würde. Dieses neutrale Gebiet befand sich im Süden des Zentralreiches, beinahe an der Grenze zum Südreich. Es entsprach in etwa dem ehemaligen Land Liechtenstein, wie ich aus dem Geschichtsunterricht wusste. Ich war nie auch nur in die Nähe dieser Zone gekommen, wusste jedoch, dass dort regelmäßig die königlichen Konferenzen stattfanden.
Gespannt verfolgte ich die Berichte, die über die Reise von Prinz Stephan gesendet wurden. Zum Glück ging das von unserer Wohnung aus, da heutzutage jeder Haushalt mit einem speziellen Fernsehgerät ausgestattet worden war, das neben dem königlichen Sender nur zwei weitere Programme empfangen konnte: Nachrichten und Dokumentationen. Damit konnte man natürlich keine ganzen Tage füllen, darum war der Apparat oft nur Zierde. Aber in den nächsten Wochen würde sich das dank des Connectings wohl schnell ändern.
Die ersten Berichte über unseren Thronfolger waren noch ziemlich unspektakulär, man sah ihn meistens auf den Marktplätzen, wo er Ansprachen hielt oder ein paar Worte mit dem jeweiligen Bürgermeister wechselte. Manchmal wurde auch sein Zug durch die Stadt gezeigt, wo ihn die Menschen bejubelten. Ich war gespannt, ob er auch zu uns kam. Bis ich das erfahren würde, mussten allerdings noch einige Tage vergehen. Schließlich war unser Bezirk erst der dritte, wenn man von Norden nach Süden durchs Zentralreich reiste.
Auf den Bericht aus Kopenhagen, der Hauptstadt von Bezirk A, war ich besonders neugierig. Dort fand die erste Ziehung statt. Man sah den Mädchen auf dem Marktplatz die Nervosität an, wobei es ja noch nicht einmal sicher war, ob die Kandidatin des Bezirks wirklich in der Menge gefunden werden würde – obwohl die Chance natürlich groß war, denn in den Hauptstädten waren vermutlich die meisten Bewerbungen eingegangen.
Darum wunderte es mich nicht, als ein Kreischen erklang, kaum dass Prinz Stephan einen Zettel aus der Kristallschale gezogen und den Namen darauf vorgelesen hatte. Ein Mädchen mit rotblonden Locken bahnte sich seinen Weg durch die Menge und wurde schließlich vom Thronfolger auf der Bühne in Empfang genommen.
Liva – so hieß sie – wirkte regelrecht überwältigt, als Prinz Stephan ihre Hand nahm und gen Himmel streckte. Man hörte Jubel, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Schließlich hatte Liva all diesen anderen Mädchen gerade die Chance auf ein Kennenlernen mit den Prinzen genommen. Offenbar gönnten manche Menschen anderen doch noch Erfolge – auch wenn meine Erfahrung etwas anderes sagte.
Im Bezirk B lief es zu Beginn ähnlich ab. Auch dort fand man die Kandidatin direkt in der Menge. Sie war ein wenig pummelig, hatte dazu kurze Haare. Prinz Stephan begrüßte Jessica genauso herzlich im Wettbewerb wie Liva – im Gegensatz zum Publikum, das eher verhalten reagierte. Anscheinend war das rothaarige Mädchen aus Kopenhagen eine lokale Berühmtheit oder Ähnliches.
Stephan schien das allerdings nicht zu kümmern, da er beide Kandidatinnen gleich behandelte. Das Connecting mochte ja eine Art Brautschau sein, aber Äußerlichkeiten spielten dabei keine so große Rolle, wie man es für eine Fernsehshow erwartet hätte. Hier hatte jeder die gleiche Chance. Und vielleicht bekam ich meine in wenigen Tagen.
Doch zuvor würde der Thronfolger des Zentralreiches auch bei uns Halt machen, wie ich schließlich aus dem Radio erfuhr. Zwei Tage danach sollte die Ziehung unseres Bezirks stattfinden. Und dann würde ich endlich wissen, ob ich meine Träume begraben und stattdessen meine Ziele weiterverfolgen musste.
Ich stand am Fenster meines Zimmers im zweiten Stock, um vielleicht einen Blick auf den Prinzen zu erhaschen. Wir wohnten nicht weit vom Marktplatz entfernt, die Chance, dass er unsere Straße durchquerte, stand nicht schlecht. Wobei jede der Zugangsstraßen blockiert war, jeder einzelne Bewohner schien heute hinausgekommen zu sein. Nur ich blieb lieber drinnen. Die Stadtversammlungen ließ ich über mich ergehen, weil ich wusste, dass es kein Drängen und Schubsen gab. Dort passierte schließlich nie etwas Aufregendes – von der Verkündung mal abgesehen.
»Ganz schön laut da draußen«, stellte meine Mutter fest, die schräg hinter mir stand. »Ich frage mich, was es für einen Tumult geben wird, wenn der Prinz erst mal auftaucht.«
»Die Leute rennen sich über den Haufen«, murmelte ich und ließ meinen Blick über die überfüllte Straße schweifen.
»Gut, dass du hierbleibst. Ich hätte wirklich Angst um dich da unten.« Meine Mama legte mir eine Hand auf die Schulter und streckte ihren Kopf ebenfalls aus dem Fenster. »Wobei es bei der Ziehung bestimmt auch nicht viel anders zugehen wird.«
Ich spannte automatisch meine Schultern an. Sie hatte recht. Bei der Übertragung der Ziehung auf dem Marktplatz würde ich mich in die Masse stellen müssen. Schließlich wurde die ausgewählte Kandidatin sofort mit einer Kamera eingefangen. Also würde ich meinen inneren Schweinehund überwinden müssen.
»Übrigens denke ich, dass du gute Chancen hast.«
Erstaunt drehte ich mich zu meiner Mutter um. Aus vielen tausend Mädchen gezogen zu werden, würde ich nicht gerade als gute Chance bezeichnen.
»Ich meine, den Prinzen zu sehen«, erklärte sie lächelnd, als sie meinen überraschten Gesichtsausdruck bemerkte. »Der Weg vom E-Bahn-Halt zum Marktplatz führt direkt durch unsere Straße.«
»Hoffentlich gehen sie auch den direkten Weg.« Ich spähte über die wartenden Menschen hinweg zum Anfang der Straße, den ich jedoch von meiner Position aus nur vage erkennen konnte. Ich wünschte mir fast, ich könnte auch die E-Bahn-Station sehen, aber die war zu weit weg. Die Ankunft des Gefährts würde ich auch nicht hören können, denn im Gegensatz zu den Bahnen von früher fuhren die elektrischen heutzutage beinahe lautlos. Die Solarzellen, die überall angebracht waren, sorgten dafür, dass sie sich auf den Schienen bewegten. Strom war unerlässlich in unserer Gesellschaft, da alle anderen Ressourcen entweder aufgebraucht oder verboten waren. Zu viel Schaden war vor allem durch die Atomkraft angerichtet worden.
Als in der Ferne tosender Jubel aufbrandete, begann Aufregung in mir hochzusteigen. »Er ist angekommen, oder?«
»Ja, ich glaube schon.« Meine Mutter tätschelte mir noch einmal die Schulter, dann ließ sie mich alleine.
In meinem Kopf wirbelten die Gedanken nur so umher. Ich malte mir aus, welche Wege von der E-Bahn-Station bis zum Marktplatz führten. Es waren nicht viele. Und unsere Straße war eine der breiteren, also vielleicht entschieden sie sich wirklich dafür. Nur wie sollten sie sich einen Weg durch die Menge bahnen?
Einige Minuten später bekam ich eine Antwort. Um die Kurve am Anfang der Straße bogen bewaffnete Männer, die ein Rechteck bildeten. In dessen Mitte machte ich kurz darauf einen Rollwagen aus, der mit Sicherheit auch elektrisch betrieben wurde. Er besaß eine Art Plattform in erhöhter Position. An deren Rand hatten sich weitere Soldaten positioniert. Und mittendrin erspähte ich noch eine Person – die zu winken schien.
Es sah ähnlich aus wie bei den Aufzeichnungen, die ich bis jetzt im Fernsehen verfolgt hatte. Nur passierte das hier direkt vor meiner Nase.
Mein Herz pochte immer stärker, je näher der Tross kam. Ich erkannte die typischen Uniformen der Soldaten des Zentralreiches, die in der gleichen dunkelroten Farbe leuchteten wie unser Banner. Die Männer sorgten dafür, dass niemand zu nah an den Wagen, der nicht einmal in Schrittgeschwindigkeit fahren konnte, herantrat. Ich wusste, wie uneben der Weg war, also holperte es bestimmt ganz schön stark. Umso verwunderlicher war, dass der Thronfolger scheinbar mühelos dort oben stehen blieb. Er drehte sich in verschiedene Richtungen und winkte den Leuten zu, die seinen Namen riefen, klatschten oder kreischten.
Ich beugte mich weiter aus dem Fenster, um ihn noch genauer erkennen zu können. Meter für Meter rollte er auf seinem Wagen auf unser Wohnhaus zu. Irgendwann konnte ich sogar Prinz Stephans Gesichtsausdruck ausmachen. Er lächelte und es wirkte absolut ehrlich. Genau wie bei seinen Eltern, als ich sie erstmals im Fernsehen gesehen hatte. Seine Abstammung war eindeutig, sein Auftreten wirkte professionell, obwohl er bis jetzt kaum Erfahrung mit der Öffentlichkeit gemacht hatte.
Ich beobachtete mit trockenem Mund, wie der Wagen mit dem Prinzen langsam unter mir vorbeirollte. Sein Fokus lag natürlich auf den Menschen, die ihn auf der Straße anhimmelten. Darum versprach ich mir auch nicht sehr viel mehr von diesem Besuch, als ihn von oben sehen zu können. Doch das war schon Ehre genug für mich. Womöglich kam ich ihm nie näher als in diesem Moment.
Wobei es anscheinend unmöglich war, ihm überhaupt näher zu kommen. War das ein Plastikkasten um ihn herum? Wozu sollte der denn gut sein?
Noch während ich darüber nachdachte, flog die erste Tomate gegen den Kasten und prallte mit einem dumpfen Pochen daran ab. Vor Schreck stieß ich einen spitzen Schrei aus. Keine Sekunde später war es mir, als würde der Blick des Thronfolgers ganz kurz an der Hauswand entlang zu mir hinauf schweifen. Als würde er mich einen Wimpernschlag lang direkt ansehen. Und mich als Individuum erkennen, trotz all der Leute um ihn herum. Trotz der Tatsache, dass weiteres Gemüse und dazu rohe Eier in seine Richtung geschmissen wurden – was ihn überhaupt nicht zu kümmern schien.
Aber vermutlich war dieser Blickkontakt reines Wunschdenken, denn seine ganze Aufmerksamkeit wurde von der Masse um ihn herum vereinnahmt, aus der sich einzelne wütende Rufe abhoben.
»Sie machen unser Reich lächerlich!«
»Diese Show ist doch nur Farce!«
»Kümmern Sie sich lieber um Wichtigeres!«
War das etwa in den anderen Bezirken, in den anderen Städten, auch schon passiert und aus den Übertragungen herausgeschnitten worden? Wie konnte eine Veranstaltung im Namen der Liebe und des Friedens nur so großen Unmut in der Bevölkerung auslösen?
Während ich dem Prinzen hinterher sah, wie er in Richtung Marktplatz verschwand, fragte ich mich erstmals, ob ich wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Womöglich hatte mein Vater ja recht. Ich träumte von einem Leben voller Bewunderung – aber konnte ich auch mit Hass und Ablehnung umgehen?
Die Ansprache des Prinzen wurde live in der ganzen Stadt übertragen, doch es gab keine weiteren Zwischenfälle. Ich schaute sie mir zusammen mit meinen Eltern vor dem Fernseher an. Die meiste Zeit konnte ich mich überhaupt nicht auf die Worte von Prinz Stephan konzentrieren, da ich mir vorstellte, wie es war, in der ersten Reihe vor der Bühne zu stehen. So nah an unserem Thronfolger, dass er einen bemerken musste. Wie würde er mich wohl ansehen, wenn ich dort unten stünde?
Vermutlich würde sein Blick über mich hinwegschweifen. Ich war keine sehr auffällige Erscheinung mit meinen schulterlangen, dunkelbraunen Haaren. Vielleicht fiel ihm meine zu hohe Stirn auf, die ich früher durch einen seitlichen Pony verborgen hatte. Inzwischen war dieser herausgewachsen, sodass ich ihn mir hinters Ohr streifen konnte – wobei ich mich lieber hinter den Strähnen versteckte.
Als plötzlich Jubel aus dem Fernsehgerät drang, zuckte ich zusammen. Prinz Stephan grüßte noch einmal zum Abschied, bevor er das Podest verließ. Man sah noch für einige Minuten die jubelnde Menge auf dem Bildschirm, dann tauchte der Thronfolger wieder auf seinem Rollwagen auf und fuhr auf die nächste Straße zu. Diese würde ihn auf anderem Wege zurück zum E-Bahn-Halt bringen als bei seiner Ankunft.
Mir entfuhr ein leises Seufzen, als der Bildschirm schwarz wurde. Mein Vater kommentierte das lediglich mit einem Stirnrunzeln, meine Mutter lächelte vor sich hin. Keiner von ihnen konnte verstehen, was ich gerade empfand.
»Zwei Tage also«, sagte mein Vater auf einmal. Als ich ihn nur still von der Seite ansah, fügte er hinzu: »Danach ist das ganze Theater vorbei.«
»Eigentlich fängt es dann erst richtig an«, korrigierte ihn meine Mutter und sprach damit genau aus, was auch mir im Kopf herumschwirrte. »Das Connecting wird mehr Wirbel verursachen als jede Reise, die unser Prinz in seinem Leben unternehmen wird. Schließlich geht es um fünf Thronerben auf Brautschau.«
»Fünf Männer und fünfundzwanzig Mädchen, wer tut sich denn so was an?« Er schüttelte den Kopf. »Die müssen wahnsinnig sein.«
Oder verzweifelt, kam es mir in den Sinn. Doch ich schob den Gedanken beiseite. Es konnte doch nicht sein, dass unter den Töchtern der anderen Königshäuser keine passende dabei war. Oder doch? Sonst würden sie sich kaum der Gefahr aussetzen, dass die Show den guten Ruf der Königsfamilien ruinierte.
»Ich denke, sie sind clever«, unterbrach meine Mutter meine Überlegungen. »Auf diese Weise lernen die Königsfamilien das einfache Volk besser kennen. Und umgekehrt ist es genauso. Das Connecting ist viel mehr als nur ein Fernsehspektakel. Es ist eine Chance.« Als mein Vater sie daraufhin nur fragend ansah, erklärte sie: »Es ist eine Chance, uns alle miteinander zu verbinden. Eine Chance, unseren Frieden weiterhin zu bewahren.«
3
Die inspirierenden Worte meiner Mutter hallten auch in den nächsten Tagen in meinen Gedanken nach. Denn sie hatte absolut recht. Dieses einzigartige Event diente nicht nur dazu, die Menschen zu unterhalten. Auch nicht dazu, die Thronfolger auf Brautschau zu schicken. Wir sollten uns alle besser kennenlernen.
Unsere Kulturen klafften zwar nicht mehr so weit auseinander wie in der alten Welt, aber ich musste zugeben, dass ich mit den anderen Königreichen wenig anfangen konnte. Zwar lebten wir nicht weit entfernt von der Grenze zum Ostreich, aber ich hatte sie noch nie gesehen. Es war für uns alle ungewöhnlich, sie zu passieren.
Kurz nach dem Großen Krieg musste das noch anders gewesen sein. Immerhin war meine Großmutter mütterlicherseits den ganzen Weg aus dem Nordreich hierher gekommen. Sie war quasi unserer heutigen Königin gefolgt, ohne diese überhaupt zu kennen. Vermutlich hatte ich die Begeisterung für das royale Leben von ihr geerbt. Zu schade, dass sie kurz nach meiner Geburt gestorben war. Sie wäre bestimmt auf meiner Seite gewesen, hätte mich sogar ermutigt, mich für das Connecting zu bewerben. Nun stand ich mit meiner Entscheidung ziemlich allein da.
Als der Tag der Ziehung von Bezirk C endlich gekommen war, war ich so nervös, dass ich beim Frühstück kaum etwas hinunter bekam. Gestern war ein Zettel in den Briefkasten geflattert, auf dem alle Details zum heutigen Tag zusammengefasst waren. Die Ziehung sollte nachmittags um zwei Uhr stattfinden. Auf den Marktplatz unserer Stadt durften nur die Mädchen, die sich beworben hatten, damit es nicht zu voll wurde. Alle anderen, die die Übertragung verfolgen wollten, mussten sie sich entweder zu Hause angucken oder aus der Entfernung beobachten.
Ich sah meinem Vater an, dass es ihm überhaupt nicht gefiel, mich nicht begleiten – und gleichzeitig wohl auch nicht beschützen – zu können. Meine Mutter beruhigte ihn damit, dass ich ja bald wiederkommen würde. Ob sie damit meinte, dass ich sowieso nicht gezogen werden würde, konnte ich aus ihrem Gesicht nicht herauslesen.
Ich verabschiedete mich bereits um die Mittagszeit von den beiden, um keinen allzu schlechten Platz zu bekommen. Ich ließ meinen Namen auf der Liste eines Helfers abhaken, erst danach durfte ich den abgesperrten Versammlungsort betreten.
Obwohl ich viel zu früh dran war, hatten sich schon mehrere Reihen von schwatzenden Mädchen vor der Bühne platziert. Die Banner standen noch immer dort, die Leinwand hing ebenfalls bereits da. Dieses Mal fiel mir auch sofort der Projektor auf, der die Bilder live aus unserer Hauptstadt übertragen würde. Hoffentlich klappte das mit der Technik, es gab häufiger Störungen des Netzwerkes, weshalb wir recht selten Live-Sendungen aus den anderen Königreichen empfingen.
Ich hätte mir auch zu gerne die weiteren Verkündungen angeschaut, aber die waren bloß innerhalb der jeweiligen Grenzen ausgestrahlt worden. Die restlichen Thronfolger sowie die gezogenen Kandidatinnen sollten wohl eine Überraschung für die anderen Reiche werden. Der erste Schritt, um Spannung aufzubauen.
Diese hatte sich wegen der Ziehung auch in mir breitgemacht, schlug jedoch mit jeder Minute mehr in Nervosität um. Die Wartezeit überbrückte ich dieses Mal nicht damit, den Gesprächen anderer zu lauschen. Stattdessen ließ ich den Blick über die Kleidung der Bewerberinnen schweifen. Viele hatten Kleider angezogen, manchmal sah ich auch den ein oder anderen viel zu kurzen Rock. Überall glitzerten Pailletten, Stoff fiel wasserfallartig oder rüschte sich. Außerdem waren viele Ausschnitte zu tief und mit glänzenden Ketten behängt.
Ich fühlte mich wieder einmal wie eine Außenseiterin mit meinem langen weißen Rock und dem in unterschiedlichen Blauschattierungen leuchtenden, eher züchtigen Top. Das einzige Schmuckstück, das ich trug, war eine dünne Silberkette mit einem Diamantanhänger, die ich von meiner Großmutter geerbt hatte.
Manche der Mädchen sahen mich gerade wegen meiner unspektakulären Erscheinung an. Da ich wie immer aus der Reihe fiel, waren ihre Blicke abschätzig, bevor sie dazu übergingen, mich zu ignorieren.
Als der Bürgermeister endlich das Podium betrat, verspürte ich nicht nur Erleichterung. Mir war auch ein wenig übel. Ich versuchte, mich auf die Worte des Mannes zu konzentrieren, um das unangenehme Gefühl auszublenden.
»Meine sehr geehrten jungen Damen, ich begrüße Sie recht herzlich an diesem schönen Tag«, fing er an, wobei seine Stimme ein wenig zitterte. »Die Übertragung wird gleich beginnen. Viel Glück Ihnen allen.«
Wir klatschten, während er sich an den Rand der Bühne zurückzog, um nicht im Bild zu stehen. Es dauerte keine Minute, bis dieses auf der Leinwand erschien. Ich erkannte den Marktplatz unserer Hauptstadt Thuringia – benannt nach dem alten Bundesland Thüringen – und sah auch die riesige Menge vor der Bühne. Dort standen bestimmt fünfmal so viele Mädchen wie bei uns. Wahrscheinlich würde es also wieder auf eine Hauptstadt-Kandidatin hinauslaufen ...
Als Prinz Stephan mit dem Mikrofon auf das Podium trat, musste ich trocken schlucken. Er sah so perfekt aus wie bei jedem seiner bisherigen Auftritte. Die grauen Wolken, die über Thuringia hingen, konnten seinem Strahlen nichts anhaben. Wie sehr wünschte ich mir, ich könnte auch so positiv sein wie er!
»Liebe Bürger, liebe Mädchen des Bezirks C«, begann er und ließ seinen Blick über die Menge vor ihm schweifen, bevor er in die Kamera sah. »Dies ist der Tag, auf den viele von euch lange gewartet haben. Das Leben einer von euch wird sich heute verändern. Und ich bin sehr froh, dass ich derjenige sein darf, der diese frohe Nachricht verkündet.«
Sowohl aus den Lautsprechern als auch um mich herum brandete Jubel auf. Ich klatschte ebenfalls, jedoch verhalten, weil mich die Nervosität zu lähmen drohte.
»Wir wollen nun keine Zeit mehr verlieren«, fuhr der Thronfolger fort. »Ich kann es ja nicht riskieren, dass eine von euch wegen der Spannung umkippt.«
Sein Zwinkern, auch wenn es nicht in das Aufnahmegerät gerichtet war, ließ mein Herz höherschlagen. Sollte ich nicht gezogen werden, würde ich dieses nie in Realität zu Gesicht bekommen. Stattdessen müsste ich im Fernsehen dabei zuschauen, wie er es einer anderen schenkte ...
Prinz Stephan trat an die Kristallschale, in der bestimmt tausend winzig zusammengefaltete Zettel mit den Namen der Bewerberinnen ruhten. Er tauchte seine freie Hand tief hinein, wühlte ein wenig darin herum, hielt einen Moment inne und holte schließlich einen an die Oberfläche. Dieses Stück Papier entschied über mein Schicksal.
»Ich halte nun den Namen derjenigen in der Hand, die in wenigen Tagen zur Reise in den Palast der Einheit aufbrechen wird.« Prinz Stephan hob den Zettel hoch. »Sie wird nicht nur mich, sondern vier weitere Prinzen kennenlernen und so die Möglichkeit erhalten, die wahre Liebe zu finden. Genauso wird sie ihrem Volk dabei helfen, die Beziehungen zwischen den Reichen zu vertiefen.«
Er nahm das Stück Papier in die gleiche Hand wie das Mikrofon und faltete es mit der anderen auf. Die Sekunden zogen sich hin, sein Mund öffnete sich, um den Namen der Glücklichen zu verkünden. Ich konnte nicht atmen, hatte das Gefühl, gleich zusammenzubrechen. Und wieso lief auf einmal alles in Zeitlupe ab?
»Die Kandidatin des Bezirks C des Zentralreiches heißt«, er guckte in die Kamera, »Jillian Haas.«
Mir schien der Boden unter den Füßen wegzubrechen. Wie erstarrt guckte ich auf die Leinwand, wo Prinz Stephan zu sehen war, wie er sich fragend umschaute. Als nach mehreren Sekunden immer noch Stille herrschte, wanderte sein Blick zurück zur Kamera.
»Jillian, wo auch immer du dich gerade aufhältst, ich freue mich schon sehr darauf, dich kennenzulernen«, sagte er. »Herzlichen Glückwunsch!«
Ich war noch immer zur Salzsäule erstarrt, bemerkte jedoch, wie die Mädchen vor mir zurückzuweichen begannen. Einige schienen zu wissen, wer ich war. Dass es mein Name war, den der Thronfolger gerade genannt hatte. Irgendwann lag auch der Blick des Bürgermeisters, der plötzlich wieder in der Bühnenmitte stand, auf mir.
»Offenbar haben wir hier die glückliche Gewinnerin«, stellte er fest und wischte sich über die Stirn. »Komm doch zu uns nach oben.«
Aber ich konnte nicht. Ich spürte die Feindseligkeit um mich herum, sie schien mich zurückzuhalten. Wenn ich jetzt dort hochging, würde man mich so verächtlich ansehen wie nie zuvor.
»Du bist doch Jillian Haas, oder nicht?«, erkundigte sich Bürgermeister Berger, der eigentlich genau wissen müsste, wer ich war. Ich war mit seiner Tochter Becky in derselben Klasse gewesen, wir hatten erst kürzlich zusammen unseren Abschluss gemacht.
Je länger ich nicht reagierte, desto unangenehmer schien ihm die Situation zu werden. Er wischte sich erneut über die glänzende Stirn.
Sollte er erst einmal in meiner Haut stecken.
Schließlich schaffte ich es, zu nicken, woraufhin er mir einen hektischen Wink gab. »Dann komm doch bitte zu mir auf die Bühne. Wir wollen dein Gesicht für die Prinzen ganz genau einfangen.«
Als er die Thronfolger erwähnte, stieg auf einmal Entschlossenheit in mir auf. Ich war gezogen worden. Prinz Stephan hatte meinen Namen unter vielen Hunderten aus dieser Kristallschale gefischt. Ausgerechnet meinen! Das musste einfach Schicksal sein. Und niemand würde mich davon abhalten können, diese Chance zu nutzen.
Ich straffte meine Schultern und machte den ersten Schritt vorwärts. Die Mädchen wichen vor mir zurück, ihre Blicke spürte ich mit jeder Faser meines Körpers. Als ich die Stufen zum Podium erreichte, richtete ein Mann eine Kamera auf mich. Ich hatte keine Ahnung, wo die auf einmal hergekommen war. Doch ich versuchte sie auszublenden, und konzentrierte mich darauf, mit meinen Keilabsätzen nicht umzuknicken. Sie waren zwar keine drei Zentimeter hoch, auf ihnen zu laufen, erschien mir jedoch auf einmal wie eine gigantische Herausforderung.
Als ich schließlich neben dem Bürgermeister stand, wandte ich mich für einen Moment all den Mädchen zu, die nicht mein Glück hatten. Ihre Missbilligung war ihnen anzusehen, es ertönte kein Jubel, niemand klatschte. Entweder kannte man mich nicht oder man hielt nichts von mir. Ich musste infolgedessen dankbar dafür sein, dass ich nicht gar ausgebuht wurde. Einigen Mädchen, mit denen ich vor ein paar Jahren Probleme gehabt hatte, hätte ich das durchaus zugetraut.
Um mich von den wenig erfreulichen Erinnerungen abzulenken, schaute ich in die Zukunft – und damit direkt in die Kamera. Das ganze Königreich würde in Kürze diese Bilder sehen. Prinz Stephan würde sie sehen. Sehr wahrscheinlich auch die anderen vier Thronfolger. Darum riss ich mich zusammen, guckte genau in die Linse und lächelte. Es war ein ehrliches Lächeln trotz der Feindseligkeit vor mir. Endlich war ich mal diejenige, die etwas hatte, was alle wollten. Ich war in einer besseren Position als sie. Und diesmal würde ich es mir nicht nehmen lassen. Denn ich konnte eine Prinzessin werden, eine Königin.
Ich konnte meine Träume leben.