Kitabı oku: «Kreuzfeuer», sayfa 4
5. Kapitel
Ein wenig von der Straße zurückgesetzt und knapp über Gehsteighöhe hatte Venetio’s ein halbes Dutzend Tischchen auf eine verwitterte graue Bretterplattform gestellt, von der man die Autos auf dem Santa Monica Boulevard und die vorübergehenden Fußgänger betrachten konnte. Es war ruhig in diesem Restaurant in West Hollywood; die Mittagsgäste waren schon wieder abgezogen.
Ein kleiner, tief gebräunter Mann, dessen schwarze Hose und T-Shirt unter einer weißen Schürze verschwand, hievte ein großes Tablett mit schmutzigem Geschirr auf die Schulter und hielt dann inne, um Taggart mit erhobener Augenbraue zu beäugen. »Setzen Sie sich, wohin Sie wollen«, sagte er und enteilte in die Küche.
»Einverstanden, dass wir uns nach draußen setzen?«, fragte Luke Taggart Kate.
»Wie Sie wollen«, sagte sie knapp. Sie würde kurzen Prozess mit diesem dreisten Kerl machen und dafür nur minimalen Aufwand betreiben.
Taggart ging mit großen Schritten auf die Terrasse und machte es sich auf genau dem Stuhl bequem, den Kate für sich selbst gewählt hätte, mit direktem Blick auf die Straße und das Treiben dort. Seine lässige Haltung vermittelte den Eindruck völliger Entspanntheit. Kate nahm ihm und sich selbst krumm, dass sie ihre Rückendeckung einem Mann überlassen musste, den sie nicht kannte und dem sie nicht traute, musste sich aber eingestehen, dass in diesem Teil der Stadt die einzige Gefahr für sie Männer waren, die sie beiseiteschubsten, um sich ihren Begleiter genauer anzusehen – ein Gesicht, das in einen Harte-Kerle-Actionfilm passte, und ein Paar Schultern, wie man sie sonst auf dem Football-Feld zu sehen bekam. Sie deponierte ihre Umhängetasche am Stuhl ihm gegenüber und ließ sich wegen ihrer Armschlinge etwas unbeholfen nieder.
»Ich habe Anspruch darauf, Detective«, sagte Taggart grimmig und legte zwei glatte Riesenhände flach vor sich auf den Tisch. »Sie kennen die Vorschriften.«
»Ich habe keine Unklarheiten bezüglich Ihrer Rechte oder der dienstlichen Vorschriften, Taggart. Aber das ist doch verrückt. Wir haben eine ganze Abteilung voller Beamtenvertreter, die auf das spezialisiert sind, was Sie von mir verlangen. Sie kennen mich nicht mal.«
»Ich weiß von Ihnen, was die meisten Cops wissen. Ich kenne Ihren Ruf.«
»Und ich Ihren«, sagte Kate scharf.
»Beleidigungen werden Sie nicht weiterbringen«, sagte Taggart, und sein verdrießlicher Gesichtsausdruck erhellte sich etwas, fast wirkte er amüsiert.
Kate musterte sein breites, slawisches Gesicht, die Schwarzenegger-Wangenknochen und die blasse Hautfarbe, die Stoppeln auf Wangen und Kinn, eine Spur dunkelblonder als das Haar auf seinem Schädel, das auf einen Zentimeter Länge geschoren war. Seine grünblauen Augen registrierten ihre unverhohlen abschätzigen Blicke mit kühler, reservierter Distanz.
Sie sagte: »Mir ist unklar, warum Sie eine Verteidigerin wollen, die das nicht tun will.«
»Ich habe einen Zettel aus einem Hut gezogen, und Ihr Name stand drauf.«
Kate seufzte. Dickfelligkeit bei einem Gegner war immer der steinigste Pfad; man konnte so gut wie keinen Druck ausüben. Bisher hatte Luke Taggart sich als Inbegriff der Dickfelligkeit erwiesen, angefangen bei seinem Telefonanruf und der Bitte um ein unverzügliches Treffen – die Wahl des Ortes läge bei ihr. Sie hatte sein Entgegenkommen sogleich auf die Probe gestellt und dieses Lokal in dieser Gegend genannt. Die meisten männlichen Polizisten würden, wenn sie nicht gerade im Dienst oder in Uniform waren, einen großen Bogen um Boys’ Town machen und auf einem anderen Treffpunkt bestehen. Aber Taggart hatte mit einem knappen »Schön« zugestimmt. Bisher hatte sie nicht den Eindruck, dass Taggart schwul war, sie hatte auch nie etwas Dahingehendes gehört, und sie war dank der Gerüchteküche immer auf dem Laufenden, was diese spezielle Kategorie von Klatsch und Tratsch anging. Wenn der Gleichmut gegenüber seiner Umgebung hier gespielt war, dann war er ein guter Schauspieler.
Die Speisekarten in der Hand tänzelte der Kellner heran und kam neben Taggart zum Stehen.
»Nur einen Eistee«, sagte sie. Sie würde Taggart eine Frist von einem Drink geben, um zur Besinnung zu kommen und aus ihrem Leben zu verschwinden sowie aus dem für ihn sicher fremdartigen Territorium West Hollywood.
»Cola mit ganz viel Eis. Vielen Dank.« Taggart schien nicht zu bemerken, dass die klaren blauen Augen des Kellners seine Bizepse verschlangen, die durch das kurzärmelige weiße Baumwollhemd gut zur Geltung kamen. Taggart sah zu, wie ein verbeulter roter Kleintransporter sich von Fehlzündung zu Fehlzündung den Santa Monica Boulevard entlangquälte.
Während der Kellner nickte und davonging, bemerkte Kate, dass Taggart zum weißen Hemd eine dunkelblaue Baumwollhose trug – und Ledersandalen, kreuz und quer mit kunstvollem Flechtwerk versehen. Die Sandalen passten nicht zur Hose, nicht zum Hemd und nicht zu Taggart. Nichts an diesem seltsamen Mann schien richtig zusammenzupassen. Bis jetzt mochte sie nichts an ihm. Er war nichts als ein großer Fremdkörper, der sich in ihr Leben gedrängt hatte, und sie wollte weder etwas von ihm noch irgendetwas über ihn wissen.
»Warum haben Sie mich angerufen?«, fragte sie.
»Ich bin reingelegt worden«, sagte er.
Es gelang ihr, weder zu schnauben noch die Augen zu verdrehen. Das reinste Unschuldslamm, genau wie all der andere Abschaum, der sich in den Fängen der Justiz anfand.
»Der Verdächtige, dem ich in die Apparition Alley gefolgt bin, war ein Drogenabhängiger. Er hatte eine Waffe – eine Zweiundzwanziger, würde ich sagen – auf eine Frau gerichtet, die er hinter sich herzog. Der Mann, der erschossen wurde, war ein anderer, den ich nie zuvor gesehen habe.«
Apparition Alley? Gasse der Erscheinung? Eine neue und andere Leiche? Sie schüttelte den Kopf. Das war pures Seemannsgarn, so dick wie nur je bei den unzähligen Verhören, die sie durchgeführt hatte. Sie kam gleich zur Schlüsselfrage: »Warum sind Sie solo losgezogen? Wo war Ihre Verstärkung?«
»Ich wusste, dass ich allein mit dem Typ fertig werden konnte.«
Noch so ein Cowboy-Cop mit seinem persönlichen Regelkatalog. »Das verstößt vollkommen gegen die Vorschriften«, sagte sie.
»Halten Sie sich immer strikt an die Vorschriften, Detective? Weichen nie davon ab, lassen nie Ihr eigenes Urteilsvermögen ins Spiel kommen?«
Kate schaute ihn an, fand dieses vielleicht unbeabsichtigte Dahinschwinden seines Macho-Gehabes spannend. Sie sagte: »Hier geht es nicht um mich. Es geht nicht darum, was ich tun oder lassen würde.«
Die leichte Bewegung seiner wuchtigen Schultern war fast ein Achselzucken, aber nur fast. »Lassen Sie es mich so ausdrücken. Ich habe gelernt, die meisten Dinge ganz gut allein zu regeln.«
»Diese Angelegenheit haben Sie aber überhaupt nicht gut geregelt.« Seine imposante körperliche Präsenz mochte ihm einen Vorteil verschaffen, da sie ihm mehr Autorität als anderen Polizeibeamten verlieh. Mehr aber auch nicht. Unbesiegbarkeit war etwas für Comic-Hefte; darauf zu bauen, zeugte von einer Arroganz, die einen zwangsläufig in Schwierigkeiten brachte.
»Dann lassen Sie es mich anders ausdrücken«, sagte Taggart lässig. »Ich habe mir im Laufe der Zeit Feinde gemacht.«
»Haben wir das nicht alle. Was hat das mit der jetzigen Situation zu tun?«
»Es hat mit Ihrer Frage nach der Verstärkung zu tun.«
»Wollen Sie mir vielleicht erzählen, dass niemand kommt, wenn Sie Verstärkung anfordern?«
Seine Schultern bewegten sich wieder, diesmal als Ausdruck von Ungeduld über eine Frage, auf die sie die Antwort kannte. »Natürlich nicht. Aus Rodney King haben selbst die größten Schwachköpfe gelernt, dass alles, was über MDT läuft, aufgezeichnet wird. Keine Chance, so was zu vertuschen.«
Sie nickte. Nach dem Rodney King-Verfahren hatte die Abteilung Internal Affairs eine Reihe von Streifenpolizisten verhört, und zwar bezüglich rassistischer Bemerkungen, die über ihre Mobile Digital Terminal-Geräte aufgezeichnet worden waren.
»Verstärkung«, sagte Taggart. »Entscheidend ist, wie lange es dauert und wer kommt.«
»Sie wollen also sagen, dass man Sie da draußen am ausgestreckten Arm verhungern lässt.« Nicht, dass sie ihm automatisch nicht glaubte; sie hörte seit Jahren Gerüchte über das Zuspätkommen oder Nichterscheinen von Verstärkung als nachdrücklichen Wink, dass für den Betroffenen die Arbeit bei der Polizei nicht mehr das allergesündeste Betätigungsfeld war.
Sie konnte sich nicht vorstellen, selbst an so einer Fehde mitzuwirken – das wäre, als würde ein Soldat einen Kameraden absichtlich im Stich lassen.
Er sagte ruhig: »Ich will sagen, dass ich mir mehr Sorgen um bewaffnete Cops in meinem Rücken mache als darum, ohne Hilfe dazustehen. Genau wie Sie.«
Sie setzte sich aufrecht hin. »Wovon zum Teufel reden Sie?«
Er wies auf ihre Schulter. »Von den eigenen Leuten angeschossen, wie ich höre.«
»Ein Unfall.« Kate merkte, wie sehr sie die Stimme erhoben hatte, als eine Frau in ausgebeulten Gymnastikhosen und schwarzer Lederjacke auf der Straße stehen blieb und zu ihr hinaufblickte.
»Wie Sie meinen«, sagte Taggart lässig. »Glauben Sie, was Sie wollen, wenn Sie sich damit besser fühlen.«
Sie rang darum, nicht in die Luft zu gehen. »Nennen Sie mir einen guten Grund, warum ich es anders sehen sollte.«
»Die Klatsch-und-Tratsch-Abteilung.«
»Können Sie etwas deutlicher werden?«
Taggart rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Ich habe bei Ihnen zu Hause angerufen –«
»Woher haben Sie meine Nummer?«
»Na kommen Sie, ich bin Polizist. Bis auf weiteres jedenfalls.«
Sie antwortete nicht. Irgendjemand würde dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
»Jedenfalls ging eine Frau ans Telefon. Und wie ich höre, geht immer eine Frau ans Telefon.«
Kate lehnte sich aggressiv über den Tisch. »Und?«
»Und so haben Sie Einzug in eine bestimmte Sektion der Klatsch-und-Tratsch-Abteilung des LAPD gehalten.«
»Und welche Sektion wäre das?« Sie beabsichtigte, jede Ecke dieses Sumpfes auszuleuchten.
»Um jemand anderen zu zitieren: die der warmen Schwestern. Gerüchte besagen, dass sich schon seit längerem eine ausgesprochen hübsche Schwester um Ihr Wohlergehen kümmert.«
Sie wollte über den Tisch greifen und ihm eine langen. »Und Ihr flinker Verstand ist zu dem Schluss gekommen, dass ich mir deswegen eine Kugel gefangen habe.«
»Ist Ihnen der Gedanke nie gekommen?«
Der Gedanke war ihr nie gekommen. Sie überspielte ihre Wut mit einem verächtlichen Achselzucken. »Was auch immer der Grund sein mag, dass ich angeschossen wurde – was hat das mit Ihnen zu tun?«
»Es ist eine Gemeinsamkeit. Ich habe mir gedacht, dass diese Erfahrung Ihnen den Blick dafür öffnet, wo ich momentan stehe.«
Also deshalb hatte er sich für sie entschieden. Der arme, törichte Scheißkerl.
Während der Kellner die Getränke servierte, musste Kate sich widerwillig eingestehen, dass sie wohl doch noch mehr Zeit mit Taggart würde verbringen müssen. Sie fragte ihn: »Sind Sie hungrig?«
»Ja, eigentlich schon.«
»Dann hol ich mal die Speisekarten«, sagte der Kellner fröhlich.
»Sagen Sie uns doch einfach, was gut ist«, sagte Taggart.
Der Kellner stützte eine Hand in die Hüfte. »Die Shrimps an Engelshaar-Pasta und die Quiche des Tages, heute mit Blattspinat.«
Taggart nickte. »Haben Sie auch Hamburger?«
»Ich bin sicher, für Sie können wir einen zaubern.« Er betrachtete Taggart bewundernd und fragte neckisch: »Möchten Sie eine bestimmte Auflage?«
»Nehmen Sie einfach, was gerade so herumliegt.«
»Wir werden besonders aufmerksam suchen. Für die Lady auch so etwas Maskulines?«
Kate konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und sagte: »Die Lady nimmt die Quiche des Tages.«
»Hoffentlich heilt der Arm bald wieder, Schätzchen«, sagte der Kellner und ging.
Kate nahm, immer noch grinsend, ihr Glas Eistee in die Hand. Sie liebte es, hier in West Hollywood zu leben. Liebte es einfach. Ein Windstoß erfasste ihre Serviette, sie griff mit der freien Hand danach und schrie auf, als ihre Schulter sie schmerzhaft an die Verletzung erinnerte. Taggart rettete die Serviette, bevor sie über das Terrassengeländer verschwinden konnte.
»Ich nehme an, Sie sind vorher noch nie angeschossen worden«, sagte er.
»Nein.« Sie biss die Zähne zusammen und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ. »Sie?«
Taggart schüttelte den Kopf. »Nicht mal einen Knochenbruch. Viele Zerrungen, solche Sachen. Als ich noch … jünger war.«
»Football?«
»Ringen.« Als hätte er gespürt, dass sein Smalltalk-Guthaben bei ihr erschöpft war, zog er den Strohhalm aus seiner Cola und nahm das Glas in die Hand. »Also ich fuhr Streife –«
»Allein?«
»Allein.«
»Im Streifenwagen?«
»Ja. Logisch. In Uniform, mit meiner Dienstmarke am Revers.« Taggart nahm einen langen Schluck Cola.
Sie presste die Lippen zusammen. Sie würde erst wieder Fragen stellen, wenn es unumgänglich war.
»Es war zehn Uhr fünfzehn. Ich gab Code Sieben durch. Ich kam aus dem Burger King auf dem Hollywood Boulevard, und da waren sie, zwei strohdumme Kerle in Kapuzenshirts, die in aller Öffentlichkeit einen Deal abzogen, ziemlich große Sache für diesen Teil der Stadt – eine Tüte so groß wie eine Büchertasche, vollgestopft mit Pillen in allen Regenbogenfarben. Sahen mich und rannten wie die Hasen.« Taggart trank noch mehr Cola. »Sie trennten sich natürlich. Klare Entscheidung – ich folgte natürlich dem Typ mit der Tüte. Er rennt also die Stewart runter Richtung Wheeler, ich brülle die ganze Zeit, er soll stehen bleiben oder ich schieße.« Er zuckte bescheiden mit den Schultern. »Ich bin wirklich gut in Form, aber der Kerl war der reinste Carl Lewis. Einen halben Block vor der Wheeler entdecke ich ihn an der Apparition Alley, er packt diese Frau mit dem Schleier –«
»Schleier?«
»Ja, Schleier und Sari, dieses indische Zeugs.«
Kate schüttelte den Kopf.
»Er richtet seine Waffe auf mich. Mit einem Hechtsprung verschwinde ich hinter einer Palme. Er zerrt die Frau in die Apparition Alley –«
»Warten Sie.« Sie hatte sich geschworen, ihn nicht zu unterbrechen, aber das hier war wie absurdes Theater. »Was zum Teufel ist die Apparition Alley?«
Taggart nickte, als sei dies eine Frage, die zu beantworten er genoss. »Ein Höllenloch. Eine Sackgasse, zwischen zwei Gebäuden direkt an der Wheeler gelegen. Schmal, vielleicht zehn Meter lang, schwarze Wände, selbst im Tageslicht noch dunkel. Nachts checke ich bei jeder Runde alles mit dem Scheinwerfer ab. Nur Fixer gehen da rein, echte Desperados. Ich ziehe ständig Leute mit Überdosis raus, Weihnachten hab ich da eine Leiche gefunden. Dient auch als Abladeplatz – ein paar Latinos letztes Jahr, wahrscheinlich mexikanische Mafia, durchlöchert wie Zielscheiben auf dem Schießstand. Drei andere Typen, die zu Hackfleisch geschlagen wurden, letzten Monat ein Neunzehnjähriger, der seinen Schwanz nicht mehr von einem Blumenkohl unterscheiden konnte. Es ist ein Totenacker, fast rechnet man dort damit, Geister zu sehen. Apparition Alley ist der richtige Name für dieses Loch.«
Seine Beschreibung beeindruckte sie. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass einer dieser Geister ein toter Mann war – mutmaßlich von dem Polizisten, der ihr gegenübersaß, ohne triftigen Grund erschossen.
»Also, was passierte dann mit diesem Kerl und der indischen Frau?«
Taggart presste die Lippen zu einer dünnen, geraden Linie zusammen. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Sie schüttelte den Kopf. Sie fand, dass Taggart geistig vollkommen gesund aussah. Das taten allerdings die meisten Bewohner von Wolkenkuckucksheim – Spinner, darunter auch ein paar richtig üble oder unsäglich faule Polizeibeamte, die durch Auftritte vor Gericht gelernt hatten, völlig glaubwürdig zu wirken. »Gehen wir noch mal einen Schritt zurück«, sagte sie. »Dieser Mann, den Sie verfolgen, zerrt eine indische Frau in eine Sackgasse. Wie weit waren Sie zu diesem Zeitpunkt von den beiden entfernt?«
»Einen halben Block.«
»Aus dieser Entfernung konnten Sie erkennen, dass es sich noch um den Kerl handelt, den Sie verfolgen?«
»Klar. Das Kapuzenshirt, die Tüte in der Hand.«
»Und das konnten Sie aus dieser Entfernung erkennen?«
»Ja doch. Wenn Sie mir nicht glauben, lasse ich meine Augen untersuchen.«
»Haben Sie das Gesicht der betreffenden Person gesehen?«
»Nicht sehr viel davon, wegen der Kapuze.«
»Die Kapuze fiel nicht nach hinten, als er spurtete wie Carl Lewis?«
»Nein. Da war so eine Kordel zum Zuziehen dran. Ich konnte sehen, dass er einen Schnurrbart hatte.«
»Was war er für ein Typ, welche Hautfarbe hatte er?«
»Auf dem Hollywood Boulevard dealen in erster Linie weiße Jungs.«
Kate sagte beharrlich: »Sie sagen also, er war weiß –«
»Denken Sie, ich habe das erfunden? Er war weiß.«
»Ganz ruhig, Taggart. Ich versuche nur, einige Dinge klarzustellen. Haben Sie nicht gesagt, Sie ziehen Latinos aus der Apparition Alley?«
»Ich sagte, dass ihre Leichen dort abgeladen werden.«
»Dieser weiße Mann zerrt also die indische Frau hinter sich her, er hat jetzt auch eine Waffe. Wo ist die Tüte?«
»Immer noch in seiner Hand. Er hat der Frau den Arm um die Kehle gelegt –« Taggart demonstrierte es, legte seinen rechten Arm angewinkelt vor sich. »Er zieht sie rückwärts, die Tüte in derselben Hand.«
»Also reden wir hier über einen Linkshänder.«
Er schaute sie an.
»Wenn die Waffe in seiner linken Hand ist –«
»Ja, verstehe, was Sie meinen. Ja, ich schätze, Sie haben recht.«
»Wie groß soll der Mann gewesen sein?«
»Groß, gut eins achtzig, und dünn.«
»Und die Frau?«
»Vielleicht eins fünfundsechzig.«
»Körperbau?«
»Mittelschwer.«
»Nicht gerade eine Feder.«
»Schon. Aber wenn der Typ auf Drogen ist –«
Sie nickte. Speed, Crack, Smack – die Straßen dieser Stadt waren dem Krieg immer ähnlicher geworden, den sie vor zwei Jahrzehnten als Marine Corps Officer in Vietnam erlebt hatte. Die heutigen Gegenspieler hatten denselben Zugang zu Feuerkraft und starken Drogen, die total enthemmend wirkten. »Okay, Sie sehen also, wie dieser Mann die Frau in die Apparition Alley zerrt. Was genau haben Sie dann getan?«
»Ich habe ihm zugebrüllt, er solle die Waffe fallen lassen, es gebe keinen Ausweg.«
»Irgendeine Reaktion?«
»Nein. Also habe ich meine Waffe gezogen und bin ihnen gefolgt.«
Sie musterte ihn, versuchte abzuschätzen, ob dieses Verhalten auf Mut gegründet oder dieser Mann einfach ein leichtsinniger Tölpel war. Sie erinnerte sich, wie ihr einstiger Partner Ed Taylor einmal gegrummelt hatte: »Man muss schon eine Schraube locker haben, um diesen Beruf auszuüben. Soldaten müssen Befehle befolgen, aber wir Idioten spazieren immer genau da rein, wo jeder gesunde Zivilist schreiend weglaufen würde.« Um keinen Preis der Welt würde sie solo in eine dunkle Gasse marschieren, um einen Bewaffneten zu verfolgen. So einem gab man keine Chance, man riskierte nichts, sondern forderte Verstärkung an und überwältigte ihn dann mit allem, was man hatte.
Sie fragte: »Haben Sie Ihre Waffe abgefeuert?«
»Nein, das habe ich nicht.«
»Was sagt die Ballistik dazu?«
»Dass aus meiner Waffe geschossen wurde und dass sie zwei Kugeln aus der hinteren Wand geholt haben, die zu meiner Beretta passen.«
»Himmel, Taggart.«
Er sagte ganz im Bogart-Stil: »Sieht nicht gut für mich aus, was, Kleines?«
»Schmauchspuren?«
»Negativ. Sie haben mich erst einige Tage später untersucht, aber an meiner Uniform waren keinerlei Schmauchspuren.«
»Wie lautet Ihre Erklärung?«
»Ich kann nur erklären, was ich getan und was ich nicht getan habe. Ich vermute, dass die Ergebnisse der Ballistik falsch sind. Oder gefälscht.«
Sie antwortete nicht sofort. Die ausgesprochene Inkompetenz des LAPD-Labors war schon lange bekannt gewesen, bevor es durch den Simpson-Prozess öffentlich an den Pranger gestellt wurde – aber soweit sie wusste, hatte die Ballistik diesen Ruf nie geteilt.
»Gehen wir noch mal einen Schritt zurück. Sie folgten dem Mann mit der Kapuze und der Frau in die Gasse. Was haben Sie dort gesehen?«
»Eine Leiche. Männlich.«
»Woher wussten Sie, dass er tot ist?«
»Das war nicht zu übersehen. Er lag mit dem Gesicht nach oben in einer Riesenlache. In den Hals getroffen, zwei Durchschüsse. Ein Schuss hat die Jugularvene rausgehauen, der andere ging durchs Rückenmark.«
Trotz all ihrer Erfahrung war das kein Anblick, bei dem sie Zeugin hätte sein wollen. Sie baute ihm eine Brücke. »Diese Art von Wunden – hört sich nach einem Profi an.« Und ein Polizist wüsste so gut wie jeder Chirurg, wo zwei Kugeln die allergrößte Wirkung erzielten.
Er zuckte mit den Schultern. »Ja. Kann sein.«
»Sie sind anderer Meinung?«
»Ich denke, das kann sein.« Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und sein Blick wanderte zu einem bärtigen Gespenst, das, in viele Kleiderschichten gehüllt, seinen mit schwarzen Plastiktüten behängten Einkaufswagen den Gehsteig entlangschob. Kate beobachtete den Mann ebenfalls, ein viel zu alltäglicher Anblick, einer von den vielen, die als Lumpenarmee die Straßen von Los Angeles besetzten.
»Okay«, sagte sie schließlich. »Wo waren die beiden, denen Sie in die Apparition Alley gefolgt sind?«
»Nirgends.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin verwirrt. Sagten Sie nicht, die Apparition Alley sei eine Sackgasse?«
»Das sagte ich.«
Sie redete vorsichtig weiter: »Könnte das, was Sie gesehen haben, noch eine andere Deutung zulassen?«
»Danke für Ihren Takt, Detective. Nein.«
»Hätte der Mann die Frau in eins der Gebäude neben der Apparition Alley zerren können? Sie waren ja ein ganzes Stück entfernt.«
»So weit nun auch wieder nicht. Sie sind in der Apparition Alley verschwunden. Außerdem waren die beiden angrenzenden Häuser verschlossen – zugesperrt.«
»Wie erklären Sie es sich dann?«
»Gar nicht. Das kann ich nicht.«
»War die Tüte irgendwo zu sehen?«
»Nein.«
»Irgendwelche Beweise, irgendeine Spur von den Personen, denen Sie in die Apparition Alley gefolgt sind?«
Wieder erhellte die Andeutung eines Lächelns Taggarts Gesicht. »Hat die Frau ihren Schleier fallen lassen? Nein.« Er hielt eine Hand hoch, als das Essen kam.
»Für den Gentleman«, sagte der Kellner und setzte schwungvoll einen Teller mit dem größten Hamburger, den Kate je gesehen hatte, vor Taggart ab; der gewaltige Bratling ruhte auf einem enormen Sauerteigbrötchen und war umgeben von Fritten. »Ein Stück Fleisch, passend für den Gentleman.«
»Genau meine Größe«, sagte Taggart. Der Kellner zog beide Augenbrauen in die Höhe und schaute interessiert zu, wie Taggart eine Serviette auf seinem Schoß ausbreitete.
Amüsiert beschäftigte Kate sich damit, auf dem kleinen Tisch Platz zu schaffen, während der Kellner noch Salz- und Pfefferstreuer für Taggarts Mahlzeit dazustellte, um ihr danach mit einem eleganten Schwung ihr Essen zu servieren. »Quiche für die Lady, und ich bin gleich mit frischem Eistee zurück.«
»Lieber einen Kaffee, schwarz«, sagte sie. Taggarts Geschichte nahm langsam alle Charakteristika eines Falles an, und sie brauchte ihren üblichen Kraftstoff. Als der Kellner verschwunden war, fragte sie Taggart: »Irgendwelche Hypothesen?« Das alles ergab für sie keinen Sinn.
»Es ist eine Art ausgeklügelter Betrug. Wie sie es gemacht haben, weiß ich allerdings nicht.« Er drehte die Ketchupflasche auf den Kopf und hielt sie über seinen Hamburger.
Kate sagte: »Lassen Sie es uns bis zum Ende durchgehen, okay? Was taten Sie, als Sie das Opfer in der Gasse entdeckten?«
»Hab die Zentrale gerufen.«
»Vom Tatort aus?«
Taggart nickte, überflutete seinen Hamburger mit Ketchup und legte zum Schluss die obere Hälfte des Sauerteigbrötchens auf die rote Masse. Sie konnte sich denken, dass er sein ROVER anstelle des Polizeifunks im Wagen benutzt hatte.
»Sie haben den Tatort nicht verlassen?«
»Ich habe ihn nicht verlassen.«
»Was wissen Sie über das Opfer?«
Taggart nahm den Hamburger auf, in seinen riesigen Händen schrumpfte er auf Durchschnittsgröße. »Männlich, Latino, siebenundvierzig, auf Bewährung draußen, sechs Vorstrafen wegen Drogenbesitz, drei Jahre alles in allem, dann der Aufstieg – sieben fürs Dealen, gerade nach weiteren neun wieder auf freiem Fuß.«
»Sein Name?«
»Julio Mendez.«
»Kannten Sie ihn?«
»Ja. Ich kannte ihn. Wenn er nicht dealte, war er ein Informant. Wenn er kein Informant war, war er ein Allzweck-Ganove.«
»Gibt es Zeugen für die Vorfälle in der Alley?«
»Na klar. Hollywood platzt aus allen Nähten vor aufs Gemeinwohl bedachten Bürgern, die sich freiwillig melden, um ihren Mitmenschen zu helfen, ganz besonders Polizisten.« Er biss herzhaft in seinen Hamburger.
»Diese Frage musste ich stellen, Taggart. Warum denken Sie, dass Sie jemand reingelegt hat?«
Taggart kaute und schluckte, dann sagte er: »Sie haben meinen Partner drangekriegt, und dann haben sie einen Weg gefunden, mich dranzukriegen.«
Der Kellner ersparte Kate eine Antwort auf diese Behauptung. Er trat mit einer Kaffeekanne und einer Tasse heran, hielt dann inne und starrte auf den Tisch. »Warum lassen Sie die Kanne nicht einfach hier?«, sagte Kate.
Sie folgte dem entsetzten Blick des Kellners in Richtung Taggarts Teller, der aussah, als sei er über und über mit Blutflecken aus dem triefenden Hamburger bedeckt. »Ja, warum eigentlich nicht?«, sagte der Kellner und suchte eilig das Weite.
Kate widmete sich ihrer Quiche und warf einen verstohlenen Blick auf Taggarts grimmiges, markiges Gesicht. Schon wieder hatte seine Geschichte eine bizarre Wendung genommen. Bei allen achtzehn Divisionen des LAPD galt Hollywood wegen seines Milieus voller Drogen, Laster und menschlicher Verderbtheit als absoluter Bodensatz. Und Taggart tat seit Jahren dort Dienst.
Sie fragte sich, ob er den Versuchungen eines der Laster erlegen war, die auszumerzen er einen Eid abgelegt hatte: Seine Geschichte passte ausgesprochen gut zu den paranoiden Wahnvorstellungen eines gewohnheitsmäßigen Kokainkonsumenten.
»Wie schmeckt Ihr Essen?«, fragte er.
Sie sah, dass Taggart in der Zeit, in der sie drei Bissen genommen hatte, die Hälfte seiner enormen Mahlzeit verschlungen hatte. »Ist wirklich gut«, sagte sie, und das war es, locker mit cremigem Käse. Nach seinem Essen zu fragen erübrigte sich – seine Tischmanieren hatten den Schliff eines Alligators. Sie goss sich Kaffee nach und sagte: »Erzählen Sie mir von Ihrem Partner.«
Seine grünblauen Augen verengten sich. »Waren Sie auf seiner Beerdigung?«
»Ja. Ich erinnere mich, dass er sehr jung war.«
»Dreiunddreißig. Acht Jahre beim Revier. Ein wirklich guter Polizist. Schon mal einen Partner verloren?«
»Nicht auf diese Weise, Gott sei Dank. Seit ich Detective bin, hatte ich vor Torrie Holden nur einen einzigen Partner. Ed Taylor. Hat sich vor einigen Jahren verabschiedet – züchtet jetzt Avocados.«
»Ja, ich erinnere mich. Einer von der alten Schule – hab gehört, er war ein anständiger Kerl.«
»Er war ein fauler, bigotter Scheißkerl.«
Taggarts Gesicht zeigte keine Überraschung. »Sie müssen’s ja wissen«, sagte er.
Die Worte waren ihr einfach entschlüpft. Von sich selbst überrascht, flüchtete sie sich in ihr Essen. So etwas hatte sie noch nie zu irgendjemandem gesagt, Aimee eingeschlossen. Nie war ihr klar gewesen, wie tief ihr Groll auf und ihr Ärger über Ed Taylor saß. Sie murmelte: »Eigentlich soll man ja nur gut über die Verblichenen reden – sozusagen. Entschuldigung«, sagte sie rasch. »Ich wollte nicht taktlos sein.«
»Schon gut. Mit einigen meiner Partner hab ich auch nicht gerade das große Los gezogen. Bis ich einen Glücksgriff tat.«
Sie fragte widerwillig: »Was haben Sie gemeint, als Sie sagten, die hätten ihn drangekriegt? Wer sind ›die‹?« Sie nahm an, er würde sagen, dass jemand mit Tony Ferrera abgerechnet hatte, vielleicht ein Drogenmord.
Er akzeptierte die Frage mit einem Nicken, fragte aber: »Was wissen Sie über ihn?«
»Nur das, was ich am Morgen danach beim Appell erfuhr. Und was ich in den Zeitungen gelesen habe. Er war nicht im Dienst, wurde Zeuge eines Raubüberfalls. Zwei Männer mit Skimasken in einem Spirituosengeschäft. Das ist alles.«
»Das ist die offizielle Version. R/M hat die Untersuchung geleitet.«
Sie nickte. Raub/Mord vom Parker Center leitete immer die Untersuchung, wenn ein Beamter ums Leben kam.
»Aber ich habe auf eigene Faust ein wenig herumgeschnüffelt. Er wurde vor dem Spirituosenladen niedergeschossen. Kommt Ihnen das nicht auch ein bisschen komisch vor?«
»Wieso?«
»In den Zeitungen stand, er sei mitten in einen Raubüberfall spaziert, und der Bericht des zuständigen Ermittlers sagt dasselbe. Aber ihn hat’s erwischt, bevor überhaupt versucht wurde, den Laden auszurauben.«
Ungenauigkeiten und Allgemeinplätze im abschließenden Untersuchungsbericht waren nichts Neues, und die Zeitungen schlampten ständig bei den Einzelheiten. »Es gibt noch mehr«, vermutete sie.
»Ja. Er stieg aus dem Auto, um in den Spirituosenladen zu gehen, und wurde vor der Eingangstür erschossen. Dann ballert einer der Täter einen Schuss in den Spirituosenladen und haut ab. Sieht das für Sie genauso aus wie für mich?«
Kate nahm noch einen Bissen Quiche. »Klären Sie mich auf.«
Taggart legte seinen Hamburger ab und lehnte sich über den Tisch. »Es fand kein Raubüberfall statt, Detective. Und doch nimmt sich einer der Schützen die Zeit, den Kopf in den Laden zu stecken und einen Schuss abzufeuern.«
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