Kitabı oku: «Wüstenfeuer», sayfa 4
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Kate kehrte in ihre Wohnung zurück. Sie füllte Miss Marples Futter- und Wassernapf, stellte den Fernseher an, ließ sich in ihren Sessel sinken und nahm einen Roman aus dem Regal neben sich, das mit neuen Büchern gefüllt war, die wie ungeöffnete Pralinenschachteln auf sie warteten – der köstliche Genuss immer in Sicht.
Sie war nicht in der Lage, sich auf die neuesten Ergüsse in Sachen Präsidentschaftswahl zu konzentrieren, die die Sprecher von MSNBC von sich gaben. Ihre Fingerspitzen trommelten auf dem Buch in ihrem Schoß herum. Sie konnte das lästige Flirren ihrer blanken Nerven nicht länger ignorieren.
Sie stellte den Fernseher wieder aus, sprang auf und lief im Wohnzimmer auf und ab. Dann ging sie in die Küche und füllte ein Glas mit Eiswasser aus dem Wasserspender im Kühlschrank. Sie trank in großen Schlucken, während sie von der Küche zum Balkon ging und wieder zurück durchs Wohnzimmer und den Flur ins Schlafzimmer und wieder zurück.
Sie durfte nichts Alkoholisches trinken. Ihr blieb nichts anderes übrig, als auf Walcotts Anruf zu warten. Je nachdem, was sie von ihr erfuhr und wie bald, würde Kate noch an diesem Tag weitere Maßnahmen ergreifen, einschließlich möglicherweise einer Fahrt nach Victorville. Außerdem musste sie Maggie später noch einmal besuchen. Egal, wie schwer es war – es fiel nicht ins Gewicht. Das Einzige, was zählte, war die Tatsache, dass Maggie starb. Die Zeit mit ihrer Freundin lief ab. Zeit. Sie warf einen Blick auf die Uhr neben der Balkontür. Zwei Uhr. Aimee würde ihre Mittagspause beendet haben …
Sie gratulierte sich. Es war an diesem Tag erst das zweite Mal, dass ihre Gedanken zu Aimee gewandert waren.
Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Cameron. Aber es gab keine neuen Aspekte, nur paranoide Theorien, die ihr Verlangen nach einem Drink bloß noch verstärkten. Maggie. Maggie. Sie sollte jetzt gleich hinfahren. Egal was – sie musste hinfahren und sie besuchen –
Das Telefon auf ihrer Frühstückstheke klingelte. Nicht ihr Handy – das wäre Walcott gewesen. Sie warf einen Blick auf die Anruferkennung und nahm den Anruf an.
»Tante Kate – Achtung!«
Sie freute sich, dass ihr Neffe sie anrief. »Was ist? Stürzt der Himmel ein, Dylan?« Sie war ziemlich sicher, den Grund für den Anruf zu erraten. »Wenn das so ist, bleibt mir nur eines: Kopf hoch!«
»Nee, zieh den Kopf mal lieber ein. Es geht um meinen Dad.«
Kate nickte. Sie hatte richtig gelegen mit ihrer Vermutung. Zwei Abende zuvor hatte sie einen Anruf von ihrem Bruder angenommen, das erste Mal seit über vier Jahren, und zwar allein deshalb, weil er keinen Grund hatte, sie anzurufen, außer dass er seinen Neandertaler-Blick auf seinen Sohn vielleicht ein paar winzige Evolutionsschritte weiterentwickelt hatte.
Seine ersten Worte waren gewesen: »Nan hat mir erzählt, was sie mit Dylan machen wollen.«
Ihr hatte es die Sprache verschlagen. Hatte die Frau den Verstand verloren? Warum in drei Teufels Namen hatte sie ihrem Mann überhaupt irgendetwas von Dylan erzählt? Diesem Mann, dessen unerschütterliche Bigotterie jeden elterlichen Instinkt, jedes väterliche Gefühl außer Kraft gesetzt und den einzigen Sohn aus dem Haus getrieben hatte?
»Sie fand, dass ich das Recht habe, über so was informiert zu werden«, erklärte er.
Kate hatte kein überzeugendes Gegenargument parat. »Und?«, entgegnete sie.
»Du musst das verhindern. Du hast nicht das Recht, tatenlos zuzusehen«, fuhr er fort, sein Ton pure Gewissheit, pure Entrüstung.
»Dale, solange es legal ist, habe ich verdammt noch mal das Recht, zu tun, was auch immer ich tun will.«
»Sie ist nicht deine Tochter. Sie ist unsere Tochter –«
»Sohn. Dylan ist euer Sohn, Dale. Und er ist mein Neffe.«
»Sohn? Neffe? Du unterstützt diesen Wahnsinn? Es ist unnatürlich! Dylan ist ein Mädchen! Du lässt zu, dass sie sich verstümmelt. Dass sie sich in eine Missgestalt verwandelt. Warum?«
»Weil es das ist, was er will, Dale. Er wird einundzwanzig. Dylan kann tun und lassen, was er will.«
»Sie! Sie hat ja keine Ahnung! Sie ist viel zu jung! Sie weiß ja nicht, was sie tut! Sie kann das nicht rückgängig machen. Sie wird es für den Rest ihres Lebens bereuen …«
»Du verstehst nichts!«, fuhr Kate ihn an. »Nach all dieser Zeit verstehst du immer noch nicht, was mit Dylan los ist und worunter er sein Leben lang gelitten hat. Du hast noch nicht mal den Versuch unternommen, es zu verstehen –«
»Es zu verstehen? Die Bibel sagt mir, dass es falsch ist. Mehr muss ich nicht –«
»Dale, hör zu. Hör mir einfach zu. Du hast dich für die Bibel und gegen deinen Sohn entschieden. Lass Dylan in Ruhe. Du und deine Bibel – werdet glücklich miteinander.«
Und sie hatte aufgelegt.
»Dylan«, sagte sie nun, »hast du tatsächlich mit deinem Vater gesprochen?«
»Kein Stück. Mom hat mich angerufen. Ich glaube, sie hat totalen Schiss, dich anzurufen. Sie hat mir gesagt, ich soll dir sagen, dass er nach L.A. kommt, um dir einen Arschtritt zu verpassen.«
Sie konnte nicht anders, sie musste lachen. Ihr über sechzigjähriger dickwanstiger Bruder konnte höchstens einem kleinen Nagetier einen Arschtritt verpassen, ohne vornüberzufallen. »Ach, tatsächlich?«
»Ich finde das nicht lustig, Tante Kate.«
Aber Dylan klang schon längst nicht mehr so besorgt. Kate sah ihn vor sich, wie er mit dem Handy in der Hand dastand, vermutlich gegen die Wand des Zimmers gelehnt, in dem Haus, das er mit anderen jungen Menschen im Vorfeld ihrer Geschlechtsangleichung teilte, gekleidet in die übliche Kluft, bestehend aus einem übergroßen T-Shirt, das in die tiefgeschnittene Jeans gestopft war, die von einem Gürtel mit riesiger Schnalle gehalten wurde. Kate sagte in gelassen-liebevollem Ton: »Ist es vielleicht auch nicht. Aber besser, er hat mich auf dem Kieker als dich. Wenn er dich attackieren würde, dann wüsste ich, wer am Ende den Kürzeren zieht.«
Dylan erwiderte mit einem Lächeln in der Stimme: »Er weiß nicht, wo ich bin. Mom hat ihm gesagt, sie wüsste es nicht. Ich hätte sie nur angerufen, um sie wissen zu lassen, was Sache ist. Deshalb hat er dich im Visier.«
»Mach dir keine Sorgen, okay? Ist soweit alles vorbereitet?«
»Yeah!«, sagt er freudig, und sie sah vor sich, wie er die Faust in die Höhe reckte. »Heute in zwei Wochen werde ich im Krankenhaus aufgenommen – um sechs Uhr morgens. Das beste Geschenk zum einundzwanzigsten Geburtstag, das es in der Geschichte je gegeben hat!«
»Ich bin froh, dass ich meinen Teil dazu beitragen kann. Hast du von deiner Tante Aimee gehört?«
»Ja. Sie kann sich freinehmen und kommt auch. Ich muss jetzt Schluss machen, Tante Kate.«
»Okay. Mach dir keine Sorgen, Dylan. Ich passe auf mich auf.«
Sie legte lächelnd auf.
Ihr Blick fiel auf die Visitenkarte neben dem Anrufbeantworter, und sie gab dem Impuls nach, ehe er sich verflüchtigen konnte. Sie nutzte ihre beschwingte Stimmung, um die Nummer auf ihrem Handy einzutippen.
Sie war davon ausgegangen, auf einen Anrufbeantworter zu treffen, und war perplex, als sich jemand mit einem schlichten »Hallo?« meldete. Kate erkannte die Stimme, auch wenn sie nur ein Wort gesagt hatte. Sie würde dieses satte Timbre überall erkennen, jederzeit.
»Hier spricht Kate Delafield«, sagte sie zögernd. »Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern.«
»Natürlich«, erwiderte Calla Dearborn. »Natürlich erinnere ich mich an Sie. Wie geht es Ihnen?«
»Ich …« Sie musste sich neu sortieren. »Ich habe gehört, Sie praktizieren nicht mehr.«
»Ich bin nicht mehr beim Polizeipsychologischen Dienst – das stimmt.«
Kate räusperte sich und versuchte, die Beklommenheit aus ihrer Stimme zu bannen. »Sicher haben Sie keine Lust mehr, Cops zu behandeln.«
»Kommt auf den Cop an. Sie sind mir immer willkommen, Kate. Was ist los?«
Um der direkten Frage auszuweichen, antwortete sie: »Ich … Nun, ich dachte, ein Termin irgendwann, wenn es Ihnen passt …«
»Wie wäre es mit heute Nachmittag?«
»Heute?«
»Ja, mir wäre vier Uhr recht.«
Wieder musste Kate sich räuspern, sich neu sortieren. Sie brauchte das hier, aber sie war noch nicht bereit dazu. Nicht sofort. Seit fast fünf Monaten war sie wie scheintot gewesen, und plötzlich war sie eine Flipperkugel, die von Carolina Walcott zu Maggie Schaeffer flitzte zu Joe Cameron zu ihrem aus der Versenkung auftauchenden Bruder zu Dylan zu Aimee. Und nun zu Calla Dearborn. »Ich habe einiges zu erledigen.« Sie versuchte Zeit zu gewinnen. »Vermutlich bin ich kaum bei Ihnen und muss auch schon wieder los.«
»Ich verstehe. Gehen wir das Risiko ein. Kommen Sie her und lassen Sie uns zumindest anfangen. Wo sind Sie?«
»West Hollywood, in der Nähe vom La Cienega Boulevard.« Okay. Sie würde hinfahren. Sie konnte sich immer noch eine Ausrede einfallen lassen und wieder gehen.
»Also ganz in der Nähe. Fahren Sie einfach La Cienega runter. Ich bin gleich hinter dem Pico Boulevard. Sie brauchen ungefähr zwanzig Minuten, je nach –«
»Verkehr«, sagten sie beide gleichzeitig.
Nach dem Telefonat ging Kate zu ihrem Kleiderschrank und inspizierte ihre Garderobe. Sollte sie Jeans tragen, um den Eindruck zu erwecken, sie ginge die ganze Sache locker an und das alles sei kein großes Ding? Nein, Calla Dearborn würde es nicht schätzen, wenn Kate sich nicht einmal die Mühe machte, etwas Besseres als Jeans anzuziehen. Vielleicht wären Jeans mit einem Blazer das Richtige. Oder vielleicht Stoffhosen mit einem Hemd. Sie seufzte. Sie würde einfach verschiedene Kombinationen anprobieren müssen, bis sich etwas richtig anfühlte.
Etwa eine Stunde später – Kate trug eine marineblaue Stoffhose und ein hellblaues Polohemd – parkte sie ihren Focus vor Calla Dearborns Haus.
Von der Ecke aus war es das dritte Haus; es gehörte zu einer Reihe von hübschen Einfamilienhäusern mit angebauten Garagen, im spanischen Stil gedeckten Dächern und gepflegten Vorgärten, die von halbhohen Zäunen umgeben waren. Sie unterschieden sich einzig durch ihre individuellen Fensterformen – manche waren bogenförmig, andere boten einen Panoramablick – und durch ihre Gartenbepflanzung, in Calla Dearborns Fall blühende Rosenstöcke.
Calla Dearborn – gekleidet in lohfarbene Hosen und ein etwas helleres Jersey-Top mit tiefem rundem Ausschnitt – erschien in der Tür, zog sie hinter sich zu und kam Kate über die Einfahrt entgegen. Außer dass sie nun komplett ergraut war, während ihr dunkles Haar früher nur ein paar graue Einsprengsel aufgewiesen hatte, erschien sie Kate nicht viel anders als zwölf Jahre zuvor. Ihre Frisur war unverändert – ein gleichförmiger runder Afro, der ihre hohe Stirn betonte, was die praktisch unsichtbaren Augenbrauen noch unterstrichen. Eine modisch aktuelle randlose Brille war hinzugekommen. Und ihre kompakte Gestalt, bei einer Größe von eins achtzig, war ein bisschen mehr ausgepolstert. Aber ihre schimmernde, faltenfreie Mandelhaut und ihre rosigbraunen Wangen waren noch so, wie Kate sie in Erinnerung hatte. Ebenso wie die Grübchen, die sich nun mit ihrem Lächeln zeigten.
»Kate, wie schön, Sie wiederzusehen!«
Calla Dearborns schwarzbraune Augen hießen Kate einfach nur willkommen – sie ließen keine Spur der Betroffenheit erkennen, die Kate in Walcotts Augen hatte aufblitzen sehen. Erleichtert ergriff Kate die angebotene Hand. Dearborns Handfläche war kühl, und ihre langen Finger umschlossen Kates. »Danke, Calla. Danke, dass Sie Zeit für mich haben.«
»Kommen Sie mit nach hinten.«
Kate folgte der kräftigen, langbeinigen Gestalt den Pfad an der Seite des Hauses entlang durch eine Pforte in den Garten und zu einem weißen, baumbeschatteten Gartenhaus.
»Mein Refugium«, sagte Dearborn und öffnete die Tür zu einem Raum mit Holzfußboden, einem zweisitzigen Ledersofa, Bücherregalen, auf denen sich zwei Vasen mit frisch geschnittenen weißen und gelben Rosen befanden, und zwei Sesseln, die sich gegenüberstanden. Ein kleiner Schreibtisch stand an der Wand. Sonnenlicht warf ein wunderschönes Wellenmuster auf den Kiefernboden. »Das hier ist der Grund, warum wir uns vor zwei Jahren für dieses Haus entschieden haben.«
Kate ließ sich in einem der Sessel nieder. Er hatte Rollen, wie sie feststellte, genau wie der Sessel damals in Dearborns Büro beim Polizeipsychologischen Dienst. Ihr gefiel das – die Rollen gaben ihr das Gefühl, in dem Sessel nicht ganz so gefangen zu sein. »Wenn Sie ein solches Büro haben, dann sind Sie noch nicht im Ruhestand«, bemerkte sie.
Dearborn setzte sich in den anderen Sessel. Wieder erschienen ihre Grübchen, als sie lächelte. »Aus Ihnen spricht die Detektivin.«
Im Augenblick die defekte Detektivin. »Außerdem sind Sie zu jung, um sich zur Ruhe zu setzen.«
»Mit Sicherheit.« Das Lächeln wurde breiter. »Ich nehme mir eine Auszeit von ein bis zwei Jahren, um zu schreiben. Unter anderem eine Studie über Polizeibeamte landesweit und deren psychologische Betreuung, die nicht annähernd gewährleistet, aber erforderlich ist, damit sie ihren Arbeitsanforderungen gerecht werden und gleichzeitig ihre psychische Gesundheit erhalten. Und ich habe immer noch einige private Klientinnen. Wo wir gerade beim Thema Gesundheit sind: Was macht Ihre Schulter, Kate?«
»Wird bei Kälte oder Regen immer noch ein bisschen steif«, gestand Kate ein und lockerte sie. »Aber ich bin jeden Tag dankbar, unter keinerlei Bewegungseinschränkung zu leiden.« Die Kugel, die sie während der aus dem Ruder gelaufenen Verhaftung in Gramercy Park abbekommen hatte, war der Anlass gewesen, sich bei Calla Dearborn in psychologische Behandlung zu begeben, wie es in solchen Fällen obligatorisch war. Kates Befürchtung, Calla Dearborn könnte ihre Machtposition nutzen und ihrer Karriere einen Strich durch die Rechnung machen, hatte dazu geführt, dass sie sich auf drei Sitzungen eingelassen hatte, die angespannt verlaufen waren, konfliktreich und voller Misstrauen.
Dearborn nickte. »Also, Kate, was führt Sie zu mir?«
Ich habe keine Karriere mehr vor mir. Sie haben keine Macht mehr über mich. »Träume«, antwortete sie.
»Träume. Zweifelsohne keine angenehmen. Doch bevor wir uns Ihren Träumen widmen, Kate, möchten Sie mir nicht erzählen, wie Ihr Leben im Moment aussieht? Wie kommen Sie mit Ihrer Pensionierung zurecht?«
»Was hat Captain Walcott Ihnen erzählt?«
»Captain Walcott?« Dearborn klang und wirkte erstaunt. »Was hat Captain Walcott damit zu tun?«
»Sie hat Sie nicht angerufen? Sie hat mir Ihre Karte gegeben.«
»Wir kennen uns. Wir sind in denselben afroamerikanischen Organisationen.«
»Sie weiß, dass ich vor zwölf Jahren bei Ihnen war.« Kate versuchte die Punkte zu verbinden, die sie nach all dieser langen Zeit auf irgendeine Weise wieder zu dieser Frau geführt hatten.
»Vielleicht hat sie den Vermerk in Ihrer Personalakte gelesen. Es ist kein Malus.« Bissig fügte sie hinzu: »Es ist heutzutage kein Kainszeichen mehr – selbst für den machohaftesten Cop nicht. Vielleicht ging es durch die LAPD-Gerüchteküche. Cops sind schlimmere Tratschtanten als Joan Rivers.«
Kate lächelte. »Stimmt. Es ist lange her, Calla. Was wissen Sie noch von mir?«
»Ah, Detective Delafield.« Dearborn seufzte. »Sie sind eine Meisterin darin, Fragen auszuweichen, indem Sie Fragen stellen. Darf ich Sie daran erinnern, dass dies mein Befragungsraum ist, nicht Ihrer.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Sie immer als eine meiner interessanteren Klientinnen betrachtet. Flink wie ein Wiesel sind Sie schon wieder woanders.«
»Ich nehme das als Kompliment, nicht als Verunglimpfung von Wieseln.«
»Gut. Betrachten wir als Erstes das größte Problem, das zwischen uns existiert hat – das Thema Vertrauen. Sie haben mir damals nicht erlaubt, mir während unserer letzten beiden Sitzungen Notizen zu machen. Gilt das immer noch?«
Kate zögerte. Dearborn würde niemandem mehr Bericht erstatten. Ihr Berufsethos gewährleistete, dass alles, was gesagt wurde, innerhalb dieser vier Wände blieb. Und dennoch behagte ihr die Vorstellung nicht, dass sich irgendetwas Persönliches von ihr in den Unterlagen eines anderen Menschen befand. Du brauchst sie, sagte sie sich. Wenn sie sich darauf einlässt … »Ich schätze nein«, räumte sie ein.
Dearborn stand auf und öffnete eine Schublade des kleinen Schreibtischs. Sie holte einen Block heraus und einen Stift, den Kate wiedererkannte. »Das ist derselbe Stift, den Sie vor zwölf Jahren schon hatten«, staunte sie.
Dearborn drehte den schlanken Malachit-Kugelschreiber zwischen den Fingern. »Ich weiß auch nicht, wie mir das gelungen ist. Jeden anderen Kuli, den ich je besessen habe, habe ich verloren.«
»Er ist wunderschön. Ein schönes Zeichen von Kontinuität.«
»Kontinuität ist Ihnen wichtig.« Es war so gut wie eine Frage.
»Ich habe nicht viel davon.«
Dearborn setzte sich wieder in den Sessel, legte den Stift auf den Block auf ihrem Schoß, stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und legte die Fingerspitzen aneinander. »Ich erzähle Ihnen, woran ich mich erinnere, und Sie korrigieren mich, wenn ich falsch liege. Sie sind damals zu mir gekommen, weil Sie bei dem Versuch, einen jungen Mann festzunehmen, angeschossen wurden …«
»Darian Crockett. Siebzehn Jahre alt«, fügte Kate hinzu. Nach all der langen Zeit stimmte der sinnlose Tod dieses Menschen in so jungen Jahren sie immer noch melancholisch. »Sie wussten das damals nicht, aber die Kugel, die ich abgekriegt habe, war friendly fire – meine Partnerin hat irrtümlich auf mich geschossen«, fügte sie hinzu.
Dearborn hob die kaum vorhandenen Brauen. »Welche Konsequenzen folgten daraus?«
»Ich habe nicht zurückgeschossen«, scherzte Kate. Sie zuckte die Achseln. »Dumm gelaufen.«
»Passiert öfter.« Dearborn musterte Kate einen Moment. Dann sagte sie: »Sie haben mir erzählt, dass Sie Ihre erste Geliebte, mit der Sie mehr als zehn Jahre zusammen waren, bei einem schrecklichen Unfall verloren haben …«
»Ein Autounfall. Auf dem Hollywood Freeway. Ihr Wagen ging in Flammen auf. Sie hieß Anne. Wir hatten zwölf gemeinsame Jahre.«
»Ja. Furchtbar. Entsetzlich. Und Ihre Eltern haben Sie sehr früh verloren. Insbesondere Ihre Mutter …«
»Ich war siebzehn.«
»Im gleichen Alter wie Darian Crockett.«
Kate schrak auf. Diese Verbindung hatte sie nie gezogen.
»Und Sie waren in den Dreißigern, als Ihr Vater starb. Der Elternteil, der Ihnen am nächsten stand.«
Kate nickte, sagte aber nichts weiter dazu. Es überraschte und berührte sie, dass Calla Dearborn so viele Jahre später noch so vieles in Erinnerung hatte, und angesichts dieser Aufzählung ihrer Verluste musste sie ihre Tränen unterdrücken. Die Trauer über Anne und ihre Eltern schien sie dieser Tage immer wieder unverhofft zu überfallen, trotz der vielen inzwischen verstrichenen Jahre.
»Sie haben einen Collegeabschluss. Sie waren beim Militäreinsatz in Vietnam. Als Sie damals zu mir kamen, waren Sie schon mehr als zehn Jahre lang bei der Mordkommission …«
»Vierzehn Jahre.«
»Macht insgesamt sechsundzwanzig Jahre bei der Mordkommission, bis Sie in den Ruhestand versetzt wurden. Die meiste Zeit waren Sie im Mittleren Dienst. Sie hatten kein Interesse daran, zum Lieutenant oder in eine andere höhere Position aufzusteigen.«
Ihre Nackenhaare sträubten sich. Dearborn hatte sie deswegen einmal ziemlich herausgefordert. »Eine weise Entscheidung, wie sich herausgestellt hat.«
»Oder auch nicht. Vielleicht hätte jemand mit Ihrer Integrität auf einer höheren Befehlsebene einen Unterschied gemacht bei all dem Mist, der geschehen ist.«
Kate antwortete nicht. Schnee von gestern.
Einen Augenblick später sagte Dearborn: »Damals hatten Sie sich bei der Arbeit nicht als Lesbe geoutet …«
»Stimmt nicht. Alle wussten Bescheid. Ich habe es nur nicht öffentlich verkündet.«
»Haben Sie es später öffentlich verkündet?«
»Es wussten alle«, wiederholte Kate beharrlich und machte eine allumfassende Geste. »Die Gerüchteküche, von der Sie bereits gesprochen haben.«
Dearborn nahm ihren Stift und machte sich so rasch eine Notiz, dass es Steno gewesen sein musste, und legte den Stift wieder hin. »Ich erinnere mich, dass ich Sie als arbeitsfähig eingestuft habe. Ich erinnere mich, dass ich mehrere Warnungen ausgesprochen habe. Eine davon lautete, dass Sie eine klassische Kandidatin für Alkoholabhängigkeit sind.«
»Sie hatten recht.«
»Und dass Sie, was Ihre Partnerin und Ihre Beziehung anbelangte, auf ernsthafte Probleme zusteuerten.«
»Sie hatten recht.«
»Und dass es dringend geboten sei, die Therapie fortzusetzen.«
Kate lächelte. »Und hier bin ich.«
»Und hier sind Sie.« Dearborn erwiderte ihr Lächeln. »Ihre Träume, Kate. Wollen Sie mir einen von ihnen erzählen? Woran auch immer Sie sich erinnern?«
Kate verlagerte ihr Gewicht, schob ihren Sessel ein Stück zurück und verschränkte die Arme. »Es sind zwei. Nein, eigentlich noch mehr. Aber diese beiden … Diese beiden kehren immer wieder.«
Sie sprach langsam, suchte nach den passenden Worten. »Ich sitze in einem leeren Haus. Ich glaube nicht, dass es meine Wohnung ist, aber es wäre möglich. Wenn doch, dann gibt es jedenfalls keine Möbel, bis auf den schlichten Holzstuhl, auf dem ich sitze, und einen grauen Teppich, wie ich ihn nicht besitze. Ich bemerke, dass der Teppich um meine Füße herum feucht durchtränkt ist. Ich gehe durch diese schwammige Nässe, hinterlasse feuchte Fußabdrücke, und die Balkontür steht offen – es regnet herein. Ich bin sauer, weil ich so dumm gewesen bin, bei diesem Regen die Tür aufzulassen, und es ist so stürmisch …«
Calla Dearborn beobachtete sie und machte sich gleichzeitig Notizen. Kate fuhr fort. »Ich habe tatsächlich eine Balkontür in meiner Wohnung, aber sie sieht anders aus als die in dem Traum. Die ist alt und klemmt und schließt schwer – ich muss sie mit Gewalt zudrücken, um sie zu schließen. Ich kehre zu dem Stuhl zurück. Aber auf dem Weg dorthin spüre ich eine warme Feuchtigkeit wie Nebel, und einige große Tropfen fallen auf meinen Nacken und meine nackten Arme.«
Kate schluckte, holte tief Luft und verschränkte die Arme fester. »Ich blicke nach oben, und es tropft von der Decke, feine Tropfen dringen durch die Decke, aber nicht überall. Nur in der Hälfte zu den Fenstern hin. Dort ist der Verputz grau, und er sieht aus wie … Er hat so kleine Löcher – es sieht aus wie ein regelrechtes Muster, als käme das Wasser durch ein regelrechtes Muster im Verputz wie durch ein Sieb …«
Wieder schluckte Kate und fuhr dann mit raschen Worten fort: »Ich spüre, dass meine Arme sich schmierig und warm anfühlen, und dann schaue ich auf sie hinab, und was auf sie herabfällt, ist rot, es ist Blut, das Nasse auf dem Boden ist Blut, das, was auf mich herabtropft, ist Blut, ich werde von Blut durchtränkt.« Sie holte tief und schaudernd Luft.
»Du lieber Himmel, Kate.« Dearborns Stift verharrte in der Luft über dem Block.
Kate rollte mit dem Sessel noch ein Stück zurück und schlug die Beine übereinander. Es kostete Mühe, aber sie atmete tief und bedächtig ein. »Der zweite Traum ist noch schlimmer. Ich fahre im Auto –«
Das Handy in ihrer Jackentasche vibrierte. Sie hätte beinahe geschluchzt vor Frustration. Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie zog es heraus und schaute auf die Anruferkennung.
»Ich muss rangehen, Calla. Bitte glauben Sie mir, wenn ich sage, dass ich den Anruf annehmen muss.«
Dearborn nickte, aber ihre Augen zeigten eine Mischung aus Kummer und Verzweiflung, und ihre vollen Lippen waren zu einem geraden Strich zusammengepresst.
Kate klappte das Handy auf, erhob sich und ging zur Tür, während sie ohne Umschweife fragte: »Sie haben was für mich?«
»In der Tat«, erwiderte Carolina Walcott. »Mehr als Sie wollten, aber das alles kam als Antwort auf meine Anfrage, und Sie werden es durchforsten müssen. Haben Sie ein Fax?«
»Klar. Steht im Hangar neben meinem Privatjet«, fuhr Kate sie an. »Warum sollte ich ein Fax haben?« Aimee hatte ihr Fax mitgenommen.
»Natürlich nicht.« Walcotts Ton klang entschuldigend, wenn auch ein wenig verblüfft. »Ich habe nicht über den Gedanken, möglichst wenige digitale Spuren zu hinterlassen, hinausgedacht. Ich lasse die Unterlagen sofort einscannen und schicke sie Ihnen an Ihre E-Mail-Adresse. Einen Computer haben Sie aber?«
»Klar. Natürlich. Tut mir leid, dass ich Sie angefahren habe.« Sie fügte hinzu – für die Frau am Telefon wie für die Frau, die dort im Sessel saß und jedes Wort mithörte: »Ich bin ein bisschen gereizt. Meine beste Freundin ist im Hospiz, und ich bin dieser Tage etwas dünnhäutig.«
»Tut mir leid, das zu hören, Kate«, sagte Walcott leise, und hinter ihrem Rücken vernahm Kate ein Murmeln von Dearborn.
»Danke.« Sie gab Walcott ihre E-Mail-Adresse. »Ich melde mich.« Damit beendete sie das Gespräch.
»Ich muss los – es geht nicht anders, Calla«, sagte sie über die Schulter zurück. »Kann ich Ihnen einen Scheck –«
»Dreißig Sekunden. Geben Sie mir nur dreißig Sekunden.« Sie wies auf den Sessel. »Setzen Sie sich. Dreißig Sekunden, keinen Augenblick länger.«
Kate setzte sich wieder.
»Vertrauen. Wir haben damit angefangen, dass ich Ihnen sagte, vor zwölf Jahren sei das größte Problem zwischen uns Vertrauen gewesen. Ich weiß genug von Ihnen, um zu begreifen, dass Ihre Bitte, mich zu sehen, nur eines bedeuten kann: Sie stecken in Schwierigkeiten – und zwar in ernsten Schwierigkeiten.«
Dearborn beugte sich vor und sah Kate eindringlich an. »Ich kann Ihnen helfen, Kate. Wirklich. Vertrauen Sie darauf. Ich möchte, dass Sie hierher zurückkommen, sobald es Ihnen möglich ist.«
»Ich fühle mich schon besser, nachdem ich losgeworden bin, was ich gesagt habe«, gestand Kate ein. Doch sie musste noch überdenken, was hier mit ihr passiert war. »Ich bin dankbar.« Ob sie auf diesem Weg weitermachen konnte, war eine andere Frage.
»Das ist gut, aber es ist nicht das, was ich hören möchte. Was ich hören möchte, ist Ihre Stimme am Telefon, die mir sagt, wann Sie wiederkommen können. Nächstes Mal sprechen wir dann auch über mein Honorar, und Sie füllen den Papierkram aus, den mein Berufsstand erfordert.«
Calla Dearborn wies auf die Tür. »Und nun gehen Sie und tun Sie Gutes.«
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