Kitabı oku: «Chicago Affair», sayfa 2
Bourdain wirkte richtig außer Atem.
„Gehen Sie nach Hause, Mr. Grandy. Kommen Sie wieder, wenn Ihnen ein paar Eier gewachsen sind.“
Ein widerlicher, pelziger Geschmack belegte Seans Zunge, während sein Magen revoltierte, als habe er Gift getrunken. Bourdains dunkle Gestalt wurde kleiner. Dann war sie vollkommen aus seinem Blickfeld verschwunden und nur das Echo seiner Berührung blieb warnend zurück.
Kapitel 3
Zerknittert, mit stechenden Rückenschmerzen und steifem Nacken erwachte Sean mit den ersten Sonnenstrahlen. Die Autotür öffnete er unter erheblichen Anstrengungen, hievte den linken Fuß heraus und ließ den Rest von sich herausfallen wie überreifes Obst. Zu mehr war er nicht in der Lage.
Der Asphalt war kalt und binnen weniger Sekunden spürte Sean Nässe durch sein Jackett und seine Hose dringen. Es musste nachts geregnet haben. Er konnte sein Glück kaum fassen. Wenn er schon mal hier unten war, sollte er sich vielleicht gleich auch das Gesicht in der Pfütze waschen.
Stöhnend richtete er sich auf und versuchte den groben Schmutz mit den Händen abzuklopfen, was die feuchten Flecken aber nicht schöner machte. Sein Haar stand wild von seinem Kopf ab, während tiefe Augenringe seine Verwandtschaft zu den Pandabären vermuten ließ. Rote und weiße Striemen zeichneten sich auf seiner Wange ab, da er die ganze Nacht auf irgendwas gelegen hatte, das einen deutlichen Abdruck auf seinem Gesicht hinterlassen hatte.
Sean streckte den Rücken durch, spürte die Wirbel einrasten, dann zog er einmal kräftig an seinem Jackett und machte sich selbstbewusst Richtung Eingangstür. Dort stellte er fest, dass sein Code bereits gesperrt worden war. Niedergeschlagen ließ er den Kopf hängen. Er hatte vor allen anderen ins Büro gehen wollen, damit keiner seinen erbärmlichen Zustand bemerkte. Bourdain war sicherlich schon dort.
Unsicher blickte er durch die Scheibe in die Eingangshalle. Bis auf ein paar Wachmänner, war es noch ausgestorben. Vergeblich versuchte er ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und ihnen pantomimisch zu zeigen, dass er seine Karte vergessen hatte. Sie bemerkten ihn nicht.
Eine unerwartete Berührung an seiner Schulter ließ ihn hochschrecken.
„Was machen Sie hier?“, fragte eine zaghafte Frauenstimme leise.
Sean wirbelte herum. Vor ihm stand eine schlanke junge Brünette in einem grauen Kostüm. Sie saß drei Blöcke von ihm entfernt. Ihr Name war…
„Nancy?“, fragte er unsicher.
„Ja. Sie kennen mich?“
„Ich bin’s. Sean Grandy.“ Sean strich sich durchs Haar und hoffte, dass sie ihn wiedererkennen würde. Einige verhängnisvolle Sekunden verstrichen, in denen sie ihn interessiert musterte.
„Wurden Sie überfallen?“
Sean wollte gerade abwinken, als er sich eines Besseren besann. „Ja. Und die Schweine haben mir auch meine Schlüsselkarte geklaut. Ich muss in mein Büro, um den Zweitschlüssel fürs Auto zu holen. Nachdem sie erkannt haben, was das für eine Rostlaube ist, hatten sie keine Motivation mehr es zu klauen. Die Schlüssel wiedergegeben haben sie mir aber nicht.“
„Oh mein Gott, Sie Ärmster. Wie lange stehen Sie denn schon hier? Haben Sie die Polizei informiert?“
„Das werde ich. Ganz sicher. Aber ich würde doch gerne nach Hause fahren und mich ein wenig frisch machen.“
„Das kann ich verstehen.“ Ihr skeptischer Blick durchbohrte ihn. Er hoffte, dass ihre Gutmütigkeit ausreichen würde, um seiner lahmen Lüge Glauben zu schenken. Das tat sie.
Bevor die Sicherheitsleute ihn bemerken konnten, schlüpfte Sean unauffällig durch die Tür zum Treppenhaus.
Im zweiten Stock verließ Sean das Treppenhaus und nahm den Lift nach oben in die Chefetage. Mit Erschrecken stellte er das Ausmaß seiner nächtlichen Schlafaktion im Auto fest. Aus der verspiegelten Innenverkleidung des Lifts blickte ihm ein Mann entgegen, den er selbst kaum wiedererkannte. Vergeblich versuchte er seine Haare mit etwas Spucke platt an seinen Kopf zu drücken, aber die widerspenstigen Strähnen weigerten sich ihm zu gehorchen.
Das unheilvolle Zing! des Fahrstuhls signalisierte, dass er angekommen war. In der Hölle. Sean atmete zwei Mal tief ein und aus, dann betrat er den Flur.
Augenblicklich flog der Kopf der Sekretärin im Vorzimmer hoch. Noch war praktisch niemand im Gebäude und schon gar nicht unterwegs zum Chef, um ihn gleich morgens zu stören. Bei seinem Anblick rutschte ihr die Brille von der Nase. Sie wirkte wie ein Geier, der gerade ein Stück Aas erblickt hatte. Sean schaffte es ganze drei Meter weit zu kommen, als sie hinter ihrem Schreibtisch hervorsprang und ihm den Weg versperrte.
„Wo wollen Sie denn hin, Mr. Grandy? Sie haben nach Ihrer Kündigung keinerlei Befugnis sich in diesem Gebäude aufzuhalten.“
Sie wusste davon. Selbstverständlich. Schließlich war sie Bourdains persönliche Sekretärin. Aber sie würde kein Hindernis darstellen, dachte er zumindest. Leider irrte er auch diesmal.
Erfolgreich hielt sie ihn mit vollem Körpereinsatz davon ab, sich zur Tür des Büros vorzuarbeiten. Ihre Rechte umschlang seinen Oberarm, während sie übers Headset den Sicherheitsdienst verständigte. Er hatte nur noch wenige Minuten, bevor er sich mit schmerzenden Gliedern auf der Straße wiederfinden würde.
Grob stieß er ihr seinen Ellenbogen in die Brust, was nicht besonders gentlemanlike war, aber ihm gingen die Optionen aus. Schnell riss er die Bürotür auf und wollte gerade im Raum dahinter verschwinden, als die Tür zurückfederte und krachend ins Schloss fiel. Sean spürte den Schlag der Vollholztür an der Wange. Zu seinem Pech hatte er sich gerade nach der Sekretärin umgesehen. Benommen taumelte er zurück.
Im Hintergrund hörte er die schweren Schritte des Sicherheitsdienstes im Flur widerhallen. Nur noch wenige Sekunden.
Unkoordiniert stolperte Sean mit der Sekretärin im Schlepptau durch die Tür. Sie hatte sich in seinem Jackett festgekrallt und ihre Stilettos in den weichen Teppichboden gerammt. Sean spürte, wie der Stoff unter ihren Nägeln nachgab. Schlimmer konnte es wirklich nicht mehr kommen.
Dann erblickte er Bourdain. Missfallend sah er die beiden Störenfriede an, als wären sie Außerirdische von einem anderen Planeten. Seine himmelblauen Augen lagen hauptsächlich auf Sean.
„Ich muss mit Ihnen sprechen, Mr. Bourdain. Diese Angelegenheit duldet keinen Aufschub“, sagte er mit unerwartet sicherer Stimme.
Sein Chef musste nur die Hand heben und das kreischende Teufelsweib verschwand, wie durch Zauberhand zusammen mit dem Sicherheitsdienst, der polternd eingetroffen war.
So macht er das also. Einfach schnippen und jeder tat, was er wollte. Nicht mit mir.
Sobald sie alleine waren, musterte Bourdain Sean mit regem Interesse. Der Blonde glaubte, dass er sowohl Häme, als auch Sehnsucht in seinen Augen erkannte. Was absolut widersprüchlich war. Unerwartet begann er seinen Chef anzuschreien.
„Das ist-,“ Sean unterbrach sich selbst, um peinlich berührt die Tür zu schließen, bevor er fortfuhr. Dieses Mal etwas leiser.
„Das ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Ich könnte Sie anzeigen.“
Ein süffisantes Lächeln umspielte Bourdains Lippen, während er die Arbeit, mit der er vor der unbedeutenden Unterbrechung beschäftigt war, fortsetzte. Er ignorierte Sean, so als ob er ein Lüftchen wäre, das aus den geöffneten Fenstern herein wehte.
Drohend kam Sean näher. Zumindest hoffte er, bedrohlich zu wirken. Trotzig reckte er das Kinn in die Höhe und ließ seine Brust anschwellen, wobei er sich wie ein Gockel vorkam, der eine Henne umwarb.
„Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?“, fragte Sean mit tiefer drohender Stimme.
„Witzig, dass Sie die ganze Nacht gebraucht haben, um das auszubaldowern.“
„Sie gehen ins Gefängnis.“
Bourdain lächelte erneut, bevor er amüsiert sein Gegenüber betrachtete.
„Nein, das tue ich nicht“, antwortete er mit gelassener Arroganz.
„Tatsächlich?“
Sean kam sich erschreckend erbärmlich vor. Sein Zorn war wie weggeblasen. Seine Naivität pinkelte ihm wie üblich dreckig lachend ans Bein. Er war nicht Furcht einflößend genug. Jedes anständige Menschenwesen hätte diesem verabscheuungswürdigen Ekelpaket mit einem Tritt die Kronjuwelen zerschmettert oder wenigstens eine deftige Ohrfeige versetzt. Er dagegen wollte nur noch die Flucht ergreifen.
„In weniger als zehn Sekunden hätten meine Anwälte Sie fertiggemacht. Dann würden Sie wegen Verleumdung einsitzen. Sie hätten weder Geld, noch Würde und binnen weniger Tage, sicherlich auch keine Unschuld mehr.“ Bourdain zog die Augenbrauen hoch, als ob ihm der letzte Punkt seiner Ansprache besonderes Vergnügen bereiten würde.
„Sobald Sie wieder draußen sind, werden Sie keinen besseren Job, als den eines Putzmanns bekommen, das ist Ihnen doch klar.“
Sean schwieg, sichtlich überrumpelt von der traurigen Wahrheit. Verschwörerisch laut tickten die Sekundenzeiger der großen, goldenen Uhr hinter ihm, wie ein unheilvolles Ungeheuer, während seine nicht gerade rosige Zukunftsversion, vor seinem geistigen Auge ablief.
„Sie wissen schon, was Sie da verlangen.“
„Nein, was verlange ich denn?“, fragte Bourdain mit Unschuldsmine.
„Ich soll mich für Sie prostituieren“, flüsterte Sean heiser. „Ich bin vielleicht verzweifelt, aber nicht total bescheuert.“
„Und was wollen Sie dann hier?“
„Das ist unmoralisch.“
„Was interessiert mich das? Sie haben immer noch die Wahl. Und können einfach verschwinden. Wenn Sie sonst nichts mehr zu sagen haben, dann entschuldigen Sie mich bitte, Mr. Grandy. Ich habe zu arbeiten.“
Indem Bourdain sich seiner Arbeit widmete, signalisierte er Sean, dass für ihn das Thema erledigt war. Sean ließ die Schultern hängen. Und ging.
Niedergeschlagen fiel sein Blick auf die Sekretärin, die ihn missgelaunt beäugte und die Hand bereits nach ihrem Telefon ausstreckte, als er auf dem Absatz kehrt machte und erneut in Bourdains Büro zurückstampfte.
Das war unmoralisch, aber ohne den Job war er schlimmer dran und vielleicht würde Bourdain sich ja noch besinnen. Er konnte ihn immer noch von seinen Fähigkeiten als wertvoller Mitarbeiter überzeugen. Seine Chancen standen besser, wenn er blieb. Nüchtern musste er die Wahrheit akzeptieren, dass er sich nicht in der Lage befand, dieses Angebot, egal wie vermessen es war, abzulehnen.
Die Rollläden vor der Glasfront waren noch immer zugezogen. Allerdings waren sie repariert worden. Sean versuchte seinen Verstand aus der Situation rauszuhalten. So schlimm würde es schon nicht werden.
Oder?
Holden Bordain stand am Fenster seines Büros, während er über die Stadt hinweg blickte. Ihm entfuhr ein überraschter Seufzer, als Sean ihn herumdrehte und ihre Lippen hart aufeinander legte. Überrumpelt stolperte er zurück. Seine Oberschenkel stießen gegen seinen Schreibtisch und Sean schaffte es sogar ihn so ungestüm zu schubsen, dass Holden den Bildschirm seines PCs umwarf.
Er durfte einfach nicht darüber nachdenken.
Weniger denken.
Das funktioniert nicht!
Sean spürte die Panik in seinem Inneren aufkeimen. Da half es auch nicht an quietschende, kleine Hundewelpen oder Blumengestecke zu denken. Es änderte nichts daran, dass die Lippen unter den seinen fest waren, der Dreitagesbart seines Chefs seine Wange aufscheuerte und der bittere Geschmack, von dessen morgendlichem Kaffee seine Zunge belegte.
Es war Holden, der den Kuss abrupt beendete, indem er ihn grob zurückstieß. Sein Atem ging schwer, als er sich mit der Handfläche über den Mund wischte.
„Sind Sie denn komplett von Sinnen?“
Kapitel 4
Irritiert starrte Sean sein Gegenüber an. Keinen einzigen Ton brachte er über die Lippen. Er erwachte erst aus seiner Starre, als Bourdain ihn zum wiederholten Mal ansprach.
„Hören Sie überhaupt, was ich sage? Erde an Grandy! Erde an Grandy!“ Der Brünette schnippte mit den Fingern vor Seans Gesicht, um dessen Aufmerksamkeit zu erlangen.
„Was sollte das werden, Mr. Grandy?“, fragte er brüsk.
„Was?“, Sean wirkte verwirrt. „Da-Das wollten Sie doch.“
„Was?“
„Na, das hier.“ Vergeblich versuchte der Blonde, mit den Händen, die Situation einzufangen.
„Damit habe ich nicht gemeint, dass Sie die Erlaubnis haben über mich herzufallen und mir die Zunge in den Hals zu stecken, verdammt“, zischte er.
„Aber gestern haben-.“
„Das war gestern, nicht heute.“
„Was wollen Sie denn dann? Ich bin verwirrt.“
„Das ist ja nichts Neues“, murmelte Bourdain gereizt.
Ergeben warf Sean die Hände in die Luft, dann setzte er sich geschlagen auf die Kante des edlen Bürotisches. Er hatte nicht mehr die Kraft aufrecht zu stehen. Ein mulmiges Gefühl ergriff von ihm Besitz und rumorte in seinem Inneren wie ein hungriges Ungetüm.
Um seine Hände zu beschäftigen, stellte er die umgeworfenen Utensilien wieder auf. Währenddessen suchte Bourdain nach seinem Headset, das bei ihrer unerwarteten körperlichen Aktion irgendwo zwischen Stuhl und Tisch gefallen war.
Mit seriöser Professionalität entschuldigte er sich bei seinem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung für die Unterbrechung. Erst da erkannte Sean, dass es eventuell ungebetene Zuhörer gegeben haben könnte. Seine Ohren brannten heiß vor Scham.
Während seines kurzen Gesprächs ließ Bourdain ihn keine Sekunde aus den Augen. Sein bohrender Blick war unangenehm und von der Leichtigkeit, die am Abend zuvor auf dem Parkplatz zwischen ihnen geherrscht hatte, war nichts mehr zu spüren. Sean fühlte sich wie ein ungezogener Junge auf der Schulbank, der auf seine Bestrafung wartete, dem der Rektor aber keinerlei Beachtung schenkte. Die Ungewissheit brachte ihn zum schwitzen. Nervös zog er an dem Knoten seiner Krawatte.
Die Sekunden bis Bourdain sein Gespräch beendet hatte, fühlten sich zäh und unwirklich an. Dann endlich wandte er sich wieder Sean zu.
„Damit das klar ist - und ich möchte mich in diesem Punkt nicht wiederholen - ich bestimme die Regeln und Sie befolgen sie oder verschwinden aus meinem Büro und setzen nie wieder einen Fuß hinein.“
Sean verstand nicht, warum er plötzlich so aggressiv wirkte, als ob ihn etwas fürchterlich verärgert hätte. Er schluckte und nickte vorsichtig mit dem Kopf.
„Es ist nicht, was Sie tun, sondern wie. Das ist ein Arbeitsplatz und im Gegensatz zu Ihnen kann ich mir derartige Verfehlungen nicht leisten.“
Sean runzelte die Stirn. „Aber-.“
Bourdain hob einen Zeigefinger. Der Andere verstummte.
„Sie sind wieder eingestellt. Aber Sie durchlaufen eine Probezeit. Wenn Sie die bestehen, dann reden wir weiter.“
Sean hob die Hände. „Moment mal. Und wie genau soll meine Arbeit aussehen? Ich versteh das nicht, ich dachte, Sie wollten-.“ Er schürzte die Lippen. Wie sollte er das nur formulieren?
„Sex?“, half Bourdain ihm.
„Ja.“
„Ganz so einfach ist es nicht.“
„Wie?“
Bourdain knurrte. „Sie wurden gefeuert, weil sie schlampig und unkonzentriert gearbeitet haben. Für so eine Arbeitsmoral ist hier kein Platz, Mr. Grandy. Das ist ein seriöses, expandierendes Unternehmen und jeder einzelne Mitarbeiter ist für den zukünftigen Erfolg verantwortlich.“
Mit diesen Worten trat Bourdain an ihn heran, richtete das Revers an Seans Jackett und zog seine Krawatte enger. Sean musste erneut schlucken. Dieser Mann war einfach unheimlich.
„Ihnen fehlt Disziplin. Aber ich werde Ihnen dabei helfen, ein vollwertiges Mitglied unserer Firma zu werden.“
Unruhig hüpften Seans Augen über Holdens makelloses Gesicht. Er inhalierte dessen Duft. Sein Mund war staubtrocken, der Hals kratzig. Er verstand gar nichts mehr. Unbeholfen drehte er den Ring an seinem rechten Finger.
„Sie treffen mich um 14 Uhr auf dem Parkplatz. Ich habe eine wichtige Aufgabe für Sie. Enttäuschen Sie mich bitte nicht noch einmal, Mr. Grandy“, warnte ihn Bourdain. Damit war das Gespräch beendet.
Perplex starrte Sean ihn an. Hatte er sich seinen Flirt gestern Abend etwa nur eingebildet? Schließlich war er eingenickt. Vielleicht hatte er das nur geträumt. Das wäre nicht das erste Mal. Aber den Kuss hatte er sich definitiv nicht eingebildet. Sean wollte ihn danach fragen, tat es aber nicht.
Nach wenigen Minuten, als er sich immer noch nicht gerührt hatte, blickte Bourdain von seinen Unterlagen auf.
„Ich bezahle Sie nicht fürs Gaffen. Gehen Sie an ihren Schreibtisch und setzten Sie fort, was Sie gestern begonnen haben. Über das Weitere reden wir später. Ich habe zu tun.“
Folgsam machte Sean, wie ihm gesagt wurde und verließ Bourdains Büro. Ihm war schlecht.
Seit einigen Minuten schwebten Seans Finger reglos über der Tastatur. Er saß auf seinem gewohnten Platz, in einer von zahlreichen, kartonartigen Sitznischen des Gebäudes und stierte gebannt auf die weiße Bildschirmfläche vor sich.
Bevor der Rest seiner Kollegen zur Arbeit erschienen, hatte er sich notdürftig gesäubert, das Gesicht gewaschen und die Haare gekämmt. Doch die Blässe auf seinen Wangen war, seitdem er Bourdains Büro verlassen hatte nicht gewichen. Ebenso wie das komische Gefühl, das ihn wie einen Virus beherbergte.
Vorsichtig legten sich seine Fingerkuppen auf die Buchstaben und formten drei Worte.
,Sexuelle Belästigung Arbeitsplatz‘, schrieb er.
Erstaunlich war die Vielzahl der Ergebnisse. Ihm war klar, dass so etwas weit verbreitet sein musste, aber dennoch war es erschreckend, wie dieser Begriff ausgelegt wurde. Schockiert scrollte Sean sich durch die Flut an Informationen. Seine Hände schwitzten. Interessiert blieb er an einem Artikel, der seriös wirkte, hängen.
Nach den AGG wäre sexuelle Belästigung: Kneifen, Klapsen, ein Griff oder ein Schlag auf das Gesäß, umfassen der Hüften, drücken des Beckens an das Gesäß, Berührung der weiblichen Brust (was Sean ausschließen konnte, schließlich hatte er keine) und des Schambereichs.
Er hielt inne und blickte sich um. Na, das war doch offensichtlich, oder? Das musste man kaum erwähnen. Solche Gesten waren eindeutig und schwer falsch zu verstehen. Er dachte an Bourdains hungrige blauen Augen, zumindest kamen sie ihm so vor. Die Hand an seiner Hüfte, falls er das nicht nur geträumt hatte.
Heimliches Fotografieren des Gesäßes.
Pornographische Bilder am Arbeitsplatz.
Sean grunzte. War das überhaupt möglich so etwas nicht zu bemerken? Ob Bourdain auch Fotos von ihm hatte? Gesetzeswidrige Aufnahmen? Kalter Schweiß brach ihm aus. Was wäre, wenn es ganze Gigabytes seines Arschs auf seinem PC gab? Bilder und Videos. Sean wusste, dass es hier auch Kameras gab. Ob er auch Bilder von anderen Mitarbeitern hatte?
Er verdrängte die Bilder, die unkontrolliert vor seinen Augen auftauchten. Bourdain, wie er andere Mitarbeiter in seiner Abstellkammer vernaschte. Auf seinem Büroschreibtisch. Oder in seinem Auto.
Um nicht darüber zu fantasieren, ging er weiter im Text.
Anfassen von Rücken, Schulter, Oberschenkel. Vulgäre oder obszöne Äußerungen, Erzwingung sexueller Handlungen, aufgedrängte körperliche Berührung und Küsse.
Er hätte nicht erwartet, dass selbst harmlose Berührungen sexueller Natur sein könnten. Dann würden sich hier aber alle begrapschen. Sean blickte über den Rand seiner Arbeitsnische. Nicht weit von seinem Platz unterhielten sich zwei Mitarbeiter. Dabei fasste sie ihn an den Ellenbogen und lachte. Nee. Das war doch harmlos. Keiner der beiden schien sich unwohl zu fühlen.
Zwei männliche Kollegen amüsierten sich über etwas besonders Lustiges auf ihrem Smartphone. Dabei bekam einer der beiden einen solchen Lachflash, dass er sich an den Schultern des anderen klammerte, um nicht zu kippen. Naja, auch nicht gerade sexuell, oder? Vielleicht für manche Menschen, die gerne etwas hineininterpretieren würden, aber er konnte jetzt nichts Anstößiges daran finden.
Seine Augen wanderten weiter. Er sah Nancy, die so nett gewesen war ihn hereinzulassen, am Flurende stehen und mit dem Abteilungsleiter sprechen. Sie wirkte eingeschüchtert, ihr Gesicht legte sich in sorgenvolle Falten. Mike Fetcher, ihr Gesprächspartner gestikullierte arrogant.
Sean mochte ihn überhaupt nicht. Er hatte die unmögliche Angewohnheit, plötzlich hinter ihm aufzutauchen und ihn zu erschrecken. Sean war sich sicher, dass er das machte, damit er nicht auf die dumme Idee kam, sich mit etwas anderem, als der Arbeit zu beschäftigen. So bestand immer die Gefahr, von ihm erwischt zu werden.
Sean seufzte und laß weiter.
Aufforderung zu sexuellen Handlungen. Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung betrieblicher oder dienstlicher Vorgesetztenpositionen.
Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Er vergrub das Gesicht in den Händen. Bourdain nutzte seine Position offen aus.
Ein Gerichtsverfahren ist der letzte Ausweg und gerade in solchen Angelegenheiten für die Beteiligten oft peinlich, stand zum Schluss.
Das waren wahrlich keine rosigen Aussichten. Hilfe suchend blickte Sean nach rechts und links, sah aber nichts, als die graue Wandverkleidung seiner tristen Arbeitsnische. Dumpf drangen die Stimmen einiger Kollegen zu ihm herüber. Er hatte sich noch nicht richtig ins Team integriert. Er kannte niemanden richtig, dafür war er noch nicht lange genug da. Bourdain hatte sich das perfekte Opfer ausgesucht.
„Verdammte Scheiße!“, rief er aus. In Gedanken versunken, ließ er seinen Blick beiläufig über den Bildschirm gleiten.
Kopflos sprang er von seinem Stuhl auf, dabei warf er die halbvolle Kaffeetasse um. Direkt über die empfindliche Tastatur. „Shit. Shit. Shit.“
Schnell versuchte er die braune Suppe aufzuwischen. Der größte Teil davon sickerte zwischen die Tasten. Alle Dokumente waren durchtränkt und sogar sein Hemd hatte einige unschöne Spritzer abbekommen. Er fühlte sich elend, hatte aber keine Zeit mehr in seinem Selbstmitleid zu baden.
Er gab auf seinen Arbeitsplatz vor dem Ertrinken zu retten, stattdessen eilte er mit schnellen Schritten den Gang hinunter zu den Aufzügen. Hastig zwängte er sich an einer Schar schnatternder Sekretärinnen vorbei. Vertieft in seiner Panik, hörte er die Rufe nicht, bis ihn ein plötzlicher Ruck herumriss.
„Wie oft soll man Sie eigentlich rufen, Grandy?“ Mike Fetcher hatte ihn am Oberarm gepackt und brutal herumgedreht.
„Mike.“
„Für Sie immer noch Mr. Fetcher! Wo wollen Sie denn so schnell hin? Haben Sie denn Ihre Aufgabe schon erledigt?“
Der Griff um seinen Arm war unnachgiebig. Fast schmerzhaft. Verwirrt blickte Sean ihm in die Augen.
„Wie bitte?“
„Ihre Arbeit, Grandy. Das ist das, wofür man Sie bezahlt.“
Er überlegte kurz. Ihm stand jetzt echt nicht der Kopf danach. Er hatte es eilig.
„Was geht Sie das an?“, fragte er unverblümt.
„Werden Sie nicht unverschämt, Grandy. Ich bin der Abteilungsleiter.“ Hochnäsig reckte dieser das Kinn in die Höhe und schnaubte.
Der Mann war kleiner als Sean, durchaus attraktiv mit schwarzem, perfekt frisiertem, vollem Haar, das an den Schläfen bereits leichte, graue Ansätze zeigte. Mit einer Bewegung befreite Sean sich aus seinem Griff.
„Rücken Sie allen so auf die Pelle?“, fragte Sean ärgerlich. Seine Geduld reichte ihm einfach nicht aus, um eine Diskussion mit Fetcher anzufangen. Der seinerseits nicht dazu neigte, Verständnis für andere zu zeigen.
„Nur denjenigen, die ihre Arbeit vernachlässigen.“
„Meinen Sie etwa die Unterlagen, die Sie mir gestern erst gegeben haben? Die Deadline dafür ist erst nächste Woche Freitag.“
„Das ist mir bewusst, aber wir sind im Verzug, wie Sie sehr wohl wissen“, klugscheißerte jener. „Ich will Sie heute.“
„Das hätten Sie gestern erwähnen können.“ Langsam brodelte die Wut in ihm hoch. Warum konnten ihn nicht einfach alle in Ruhe lassen? Binnen weniger Stunden war sein gemäßigtes Leben nervenaufreibend geworden. Die aufkeimende Sorge, was Bourdain mit ihm vorhatte, schürte seine Gereiztheit zusätzlich. „Ich habe die Unterlagen nicht fertig.“
„Dann, Grandy, weiß ich gar nicht, wo Sie hinwollen. Sie können es sich nicht leisten Ihren Arbeitsplatz zu verlassen.“
Mit Gewalt bugsierte Mike ihn Richtung seiner Arbeitsnische. Er versuchte es zumindest. Allerdings war Sean kein Fliegengewicht. Mit einer Größe von 1,85 m und 98kg war das kein leichtes Unterfangen. Ganz davon abgesehen, dass er um einiges mehr Muskelmasse besaß, als sein schlankes Gegenüber.
„Ich hab dafür keine Zeit, Mike. Ich habe eine Verabredung. Mit dem Chef.“
„Tatsächlich?“, meinte dieser außer Atem, während Sean zu den Fahrstühlen hechtete. Ungewollte hatte er Mike beiseite gestoßen, sodass dieser sich an der Wand abstützen musste. „Dann kannst du ihm ja gleich ausrichten, dass du gefeuert bist!“
Sean hörte ihm gar nicht mehr zu. Er hatte wirklich andere Probleme. Zum Beispiel Bourdain.
Er hasste Unpünktlichkeit.
Verdammt.
Beschissene Probezeit.
Er kam zu spät!