Kitabı oku: «FABIANS WEG», sayfa 5
„Wenn du aufwachst und Angst bekommst, dann kommst du zu mir.“ Er sah die Kleine eindringlich an, wohl wissend, dass es genau das war, was sie von ihm hören wollte. „Das machst du doch, nicht wahr?“ Als das Kind zustimmend nickte, beschloss er spontan, dass er noch eine kleine Geschichte zum Besten geben wollte, begann zunächst aber mit einer Erklärung: „Ich decke dich jetzt schön zu, mache diese kleine Lampe an, und gehe dann wieder zu den anderen, weil ich ihnen noch gute Nacht sagen muss. Und sobald ich das gemacht hab, komme ich noch einmal zu dir und gucke nach, ob die Traum-Fee dich schon zu einer Reise mitgenommen hat.“ Wie erwartet, wurden die Augen des Mädchens riesengroß, was ihn lächeln ließ. „Hast du etwa noch nie von der Traum-Fee gehört?“, fragte er mit sanfter Stimme. Doch bevor Pia antworten konnte, erzählte er auch schon: „Sie ist ein wunderschönes Wesen, weißt du. Sie kommt jede Nacht zu allen Kindern dieser Welt, um ihnen schöne Träume zu bringen. Aber man muss bereit sein und schlafen wollen, denn nur im Schlaf kann man ihr Geschenk empfangen. Sie kann machen, dass man im Traum alles sein kann, was man möchte, und auch tun kann, was man sich sonst nicht traut. Außerdem kann sie einen in jede Welt mitnehmen, die man sich wünscht, und Dinge sehen lassen, die in der Welt der Wachen nie zu sehen sind. Ich bin mit ihr oft im Märchenland gewesen, weißt du. Dort hat es mir besonders gut gefallen, weil es da Elfen, Zwerge und viele andere wunderschöne Zaubergeschöpfe gibt.“ Als er drei Jahre alt gewesen war, hatte seine Mutter von einem Schutzengel gesprochen, erinnerte er sich, während er die Kleine zudeckte und am Ende einen sanften Kuss auf ihre Stirn hauchte. Na ja, aus dem himmlischen Wesen, welches in Gottes Auftrag nicht nur seinen Alltag, sondern auch seinen Schlaf überwachen sollte, war dank seiner Fantasie relativ schnell eine magische Gestalt geworden, die er Chris genannt und wie einen unsichtbaren aber stets präsenten Spielkameraden angesehen hatte. Als dann die Zeit gekommen war, da er auf sich allein gestellt den Alltag im Internat bewältigen musste, war Chris zu seinem einzigen und besten Freund geworden, stets da, wenn er Trost oder das Gefühl gebraucht hatte, da sei jemand, der seinen Kummer mit ihm teilte. Und nun hoffte er, Pia würde aus der Vorstellung, dass ein gutes und sehr mächtiges Wesen über sie wache, nicht nur ein Gefühl sicherer Geborgenheit gewinnen, sondern auch Kraft und Zuversicht für die Zukunft schöpfen. „Ich wünsche dir eine gute Nacht, meine Kleine.“ Nach einem weiteren Kuss auf die kindliche Stirn richtete er sich auf.
„Aber …“ Pia schluckte sichtlich, bevor sie fortfuhr: „Wenn … Du machst das Licht nicht wieder aus, ja. Es … Ich kann es nicht leiden, wenn es ganz doll dunkel ist und man gar nichts mehr sehen kann, wenn man die Augen aufmacht.“
„Die Lampe bleibt die ganze Nacht an, wenn du das möchtest“, versicherte er.
„Und du lässt auch nicht zu, dass jemand anderer sie ausmacht?“, wollte sie wissen.
„Niemand darf sie ausmachen“, versprach er. „Und in meinem Zimmer lasse ich auch eine an, damit du mich findest, wenn du mich brauchst. Gut?“
„Ich habe dich furchtbar lieb.“ Die Lippen zu einem erleichterten Lächeln verzogen, richtete sie sich schnell auf und versetzte ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange. „Als ich noch ganz klein war, hab’ ich Gott gebeten, dass er mir jemanden schicken soll, der mich versteht. Danach wusste ich auf einmal, dass es dich gibt und hab’ dich gerufen. Und jetzt bin ich froh, weil du endlich bei mir bist.“ Sich wieder hinlegend, strahlte sie ihn weiterhin an. „Geh ruhig“, sagte sie. „Ich will jetzt nämlich die Augen zu machen und auf die Traum-Fee warten.“
„Ich habe dich auch sehr lieb“, raunte er weich, während er aufstand, um anschließend den Raum zu verlassen. Aber warum war das so, fragte er sich, während er die Tür vorsichtig hinter sich zuzog. Wieso hatte er bei diesem Kind das Gefühl, als wäre es ein Teil seiner selbst? Lag es vielleicht nur daran, dass Pia genauso einsam und verlassen wirkte, wie er sich immer fühlte? Oder war es einfach nur grenzenloses Mitleid, das ihn bewog, Zuneigung zu einem kleinen Mädchen zu empfinden, welches ausgerechnet ihn zu seiner Bezugsperson auserkoren hatte? Er wusste es nicht, gestand er sich ein. Ebenso wenig konnte er sich erklären, warum sich seine Gedanken seit der ersten Begegnung mit Pia ständig um seine leiblichen Eltern drehten. Selbstverständlich hatte er sich in den vergangenen Wochen oft mit der Frage beschäftigt, wer ihn gezeugt und wer ihn geboren hatte, nur um ihn dann wie ein Stück Müll wegzuwerfen. Nächtelang hatte er wach gelegen, im Geiste damit beschäftigt, sich auszumalen, wie die beiden Menschen wohl aussahen, von denen er abstammte. Am Ende war er dann zu dem Entschluss gekommen, dass er das gar nicht so genau wissen wollte, weil es im Grunde ja ohnehin keine Bedeutung hätte. Aber jetzt musste er wieder ständig daran denken, dass er seine wahren Wurzeln nicht kannte. Sein Vater konnte ebenso eine hochgestellte Persönlichkeit sein, als auch ein gemeiner Mörder. Und seine Mutter … Nein, rief er sich selbst zur Räson, nie, niemals wollte er die Frau, die ihn in die Welt gesetzt und dann schmählich im Stich gelassen hatte, mit dieser Bezeichnung betiteln! Er würde ihr irgendwann eine passende Bezeichnung geben, nahm er sich vor. Aber nicht gleich. Nicht an diesem Abend.
„Schläft sie schon?“
Fabian sah erschrocken hoch, denn ihm war zuvor entgangen, dass Kerstin auf ihn gewartet hatte und ihm nun am unteren Treppenabsatz entgegentrat.
„Ja“, antwortete er nach kurzem Zögern. „Allerdings habe ich ihr versprechen müssen, dass niemand ihre Nachttischlampe ausmacht.“
„Oh …“ Kerstin biss sich kurz auf die Unterlippe, bevor sie fortfuhr: „So was Blödes. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen, dass sie Angst im Dunkeln hat? Ich … Na ja, die einzige Entschuldigung, die ich anführen könnte, ist die Tatsache, dass sie selbst nie etwas gesagt hat. Aber das ist nicht wirklich akzeptabel, nicht wahr?“ Sie wandte sich in die Richtung des Wohnzimmers, wobei sie Fabian mit einer einladenden Geste zum Mitkommen aufforderte. „Du … Sie scheint einen Narren an dir gefressen zu haben, sodass ich fürchte, dass du die nächste Zeit wenig Freiraum für dich haben wirst.“ Da die Tür zum Gemeinschaftsraum erreicht war, blieb sie stehen, um ihn wieder voll anzusehen.
„Das macht mir nichts“, versicherte er ernst. „Ich mag sie sehr.“
„Ja, das merkt man“, erwiderte Kerstin mit einem halbherzigen Lächeln auf den Lippen. „Und deshalb möchte ich dir etwas über sie erzählen: Sie ist im März sieben Jahre alt geworden, in ihrer gesamten Entwicklung aber erst auf dem Stand einer Vierjährigen. Sie ist ein Kind, das viel Aufmerksamkeit und Liebe braucht, also jemanden, der nahezu rund um die Uhr für sie da ist, was dir schnell zu viel werden könnte. Also überlege dir gut, ob du dich wirklich auf sie einlassen willst. Falls du nämlich in ein paar Tagen die Geduld verlierst und sie wegstößt, wird sie das kaum verkraften können.“ Weil Fabian nicht gleich zu verstehen schien, entschied sie sich zu einer näheren Erklärung: „Sie ist ursprünglich adoptiert, mit zwei Jahren allerdings zu Pflegeeltern abgeschoben worden. Ich meine, es seien in der Folgezeit drei oder vier Familien gewesen, in welchen sie betreut wurde. Sie blieb jedoch nirgends sehr lange, weil man nicht mit ihr zurechtkam. Na ja, das letzte Paar hat wohl versucht, sie mit unnachgiebiger Strenge und Gottesfurcht zu erziehen, hat damit aber vermutlich weit mehr Schaden angerichtet als all die anderen zuvor. Als sie uns letztlich anvertraut wurde, war ihr Körper völlig ausgemergelt und mit Misshandlungsspuren übersät. Außerdem wollte sie weder sprechen noch sich anfassen lassen, sodass wir sie erst einmal in Ruhe gelassen haben, bis sie sich ein bisschen erholt hatte. Und jetzt … Es scheint so, als ob sie beschlossen habe, dass du der Einzige bist, dem sie vorbehaltlos vertrauen kann. Und ich weiß nicht genau, ob ich das gut finden soll, oder nicht?“
„Wieso?“, wollte Fabian wissen, wobei ihm der Schock nicht im Geringsten anzusehen war, den er angesichts von Kerstins Eröffnung empfand. Adoptiert, kreiste es ihm immerfort durch den Sinn. Pia war nicht besser dran als er! War das vielleicht der Schlüssel zu ihrer merkwürdig innigen Beziehung?
„Na ja …“ Kerstin biss sich erneut auf die Unterlippe, bevor sie fortfuhr: „Sie ist unbestritten in ihrem Verhalten gestört und könnte somit zu einer nicht einzuschätzenden Belastung für dich werden, weil du ja absolut keine Erfahrung mit so was hast. Wenn sie sich aber wiederum abgelehnt fühlt, könnte es passieren, dass sie sich noch mehr in sich selbst zurückzieht und nie wieder Vertrauen zu einem anderen Menschen fasst.“
Was nur verständlich wäre, schoss es ihm daraufhin durch den Kopf.
„Ist schon in Ordnung“, ging er dann auf die Warnung seines Gegenübers ein. „Ich weiß, was ich mir zutrauen kann und was nicht.“ Ja, bekräftigte er insgeheim seine eigene Entscheidung, er wollte sich um Pia kümmern, auch wenn das hieß, dass er dafür Nachteile für sich selbst in Kauf nehmen musste. Schließlich wusste keiner so gut wie er, wie es sich anfühlte, wenn man niemanden hatte, der bedingungslos zu einem stand. Was hatte die Kleine vorhin gesagt? Hatte sie nicht erwähnt, sie habe Gott um Beistand gebeten? War es nicht denkbar, dass der allwissende Schöpfer den sehnlichsten Wunsch eines unschuldigen Kindes erfüllte, indem es ihm einen Menschen mit ähnlicher Hintergrundgeschichte schickte? Ja, entschied er, so musste es sein. Er war dazu bestimmt, die Herzenslast des Mädchens ein bisschen erträglicher zu machen.
8
Von seinen neuen Mitschülern wurde Fabian zunächst voller Neugierde aufgenommen. Als man jedoch von seinen guten Noten erfuhr, schlugen ihm jäh unverhohlener Neid und Misstrauen entgegen. Doch das legte sich schnell, sobald man herausfand, dass er bloß leicht und schnell lernte. Allein die fast schon aufdringliche Aufmerksamkeit der Mädchen in seiner Klasse stürzte ihn vorübergehend in arge Verwirrung. Bedingt durch seinen eigenwilligen Kleidungsstil, der ihn älter erscheinen ließ, als er tatsächlich war, und sein ernstes Auftreten, welches im krassen Gegensatz zu dem noch oft sehr albernen und meist übertrieben großtuerischen Gehabe seiner Geschlechtsgenossen stand, war er plötzlich der absolute Mittelpunkt des weiblichen Interesses. Da ihm seine Mitschülerinnen im Internat immer nur Gleichgültigkeit entgegengebracht hatten, war es eine völlig neue Erfahrung für ihn, jetzt so umschwärmt zu werden. Anfangs fühlte er sich denn auch sehr geschmeichelt. Welcher heranwachsende Junge hätte sich da nicht toll gefühlt? Daher wurde er ein bisschen zugänglicher. Als ihm jedoch aufging, dass man sich durch seine Freundschaft eine gewisse Berühmtheit versprach, und bloß aus Geltungssucht seine Nähe suchte, zog er sich ernüchtert zurück. Die Bemühungen seiner Klassenkameradinnen jetzt eher gleichmütig als erfreut zur Kenntnis nehmend, widmete er sich wieder ausschließlich seinen Büchern, was bei seinen Verehrerinnen rasch zu einem beleidigten Stimmungsumschwung führte. Und so war er schon bald wieder der steife Lulatsch, der arrogante Blödmann, oder der verlachte Bücherwurm, der keine Ahnung vom Leben hatte. Doch das störte ihn nicht im Mindesten, denn jetzt lief wieder alles so, wie er es seit Jahren gewohnt war. Er wollte gar keine Freunde! Für einen Einzelgänger gestaltete sich das Leben nämlich viel einfacher, weil der weder Rücksichten nehmen noch Kompromisse schließen musste, die den eigenen Interessen nur hinderlich waren.
Trotz seiner Differenzen mit seinen Mitschülern war Fabian so froh und ausgeglichen, wie schon lange nicht mehr, denn sobald er aus der Schule zurückkehrte, flog ihm Pia förmlich entgegen, um ihn mit ihrer Zuneigung zu überschütten. Keinen Augenblick ließ sie ihn aus den Augen, während er sein Mittagessen vertilgte. Anschließend saß sie still in seinem Zimmer, wenn er seine Schularbeiten erledigte, und malte Bilder für ihn. Allerdings fühlte er bei deren Anblick eher Schrecken als Freude.
Warum Pia anhand von schwarzen und braunen Bunt-oder Filzstiften oder dunklen Wasserfarben ausschließlich grausliche Monster und schreckliche Szenen malte, wagte Fabian nicht zu deuten. Er ging aber davon aus, dass sie damit ihre größten Ängste offenbarte. Hin und wieder lieh er die Zeichnungen und Aquarelle an Kerstin aus, die sie wiederum mit einem Kinderpsychologen besprach. Aber Pia selbst sprach er niemals darauf an, aus Furcht, er könne mit seinen Fragen etwas bei ihr auslösen, was er nicht kontrollieren, geschweige denn wiedergutmachen konnte. Stattdessen spielte er mit ihr alberne Spiele, tobte sich dabei selbst zum ersten Mal völlig ungeniert auf dem hauseigenen Spielplatz aus, und bereute dabei nicht eine Sekunde, die er dem Kind widmete.
*
An einem sonnigen, aber kalten Oktobertag kam Fabian wie gewohnt von der Schule zurück und wurde schon im Vorgarten von seiner kleinen Freundin erwartet. Die Arme weit ausgebreitet, fing er sie aus dem Lauf heraus auf, um sie dann voller Zärtlichkeit an sich zu drücken.
„Ich habe dich so lieb. Ich habe noch nie jemanden so furchtbar liebgehabt. Es tut richtig weh, weißt du.“ Seinen Nacken loslassend, umfasste Pia seine Wangen mit beiden Händen und machte Anstalten, ihn küssen zu wollen. Doch dann verlor ihr Gesicht plötzlich alle Farbe, wobei ihre Züge zu einer starren Maske wurden. Goldene Lichtpunkte blitzten auf einmal in dem intensiven Grün ihrer Augen auf, während ihr Blick durch ihn hindurch auf etwas gerichtet wurde, was nur sie wahrnehmen konnte.
„Minka liegt auf der Treppe“, ließ sie in einem monoton klingenden Tonfall verlauten. „Und Kerstin fällt.“ Das letzte Wort war kaum zu Ende gebracht, da schwand die maskenhafte Starre aus dem Gesicht der Kleinen. Sich leicht schüttelnd, so als wollte sie etwas loswerden, was sie störte, sah sie Fabian mit großen Augen an und erweckte dabei den Eindruck, als wüsste sie gar nicht mehr, was sie soeben gesagt hatte.
Pia erinnerte sich tatsächlich nicht daran, was geschehen war. Sie wusste bloß, dass sie wieder einmal weggetreten war und in dieser Zeit vermutlich etwas von sich gegeben hatte, was niemand hören wollte. Daher fühlte sie Panik in sich aufsteigen, weil sie nun fürchtete, man würde sie wieder als scheußliche Satansbrut bezeichnen und vor ihr zurückschrecken, so als sei sie eine eklige Kröte, die man nicht anfassen wollte. In ihrer Angst klammerte sie sich so fest an den Jungen, den sie mehr als alles andere auf der Welt liebte, dass diesem das Atmen schwer wurde. Gleichzeitig begann sie zu tonlos weinen.
Fabian indes war viel zu erschrocken über ihre unheimliche Wandlung, als dass er sich Gedanken über den Sinn ihrer Worte gemacht hätte. Davon ausgehend, dass sie eine Art epileptischen Anfall gehabt hatte, drückte er sie seinerseits an sich und hoffte dabei von Herzen, dass es nicht schlimmer kommen würde. Doch dann ging ihm auf, was sie gesagt hatte, sodass er augenblicklich von großer Sorge um die Pflegemutter erfüllt wurde.
„Ist ihr was passiert?“, wollte er wissen.
„Wem?“, fragte Pia erstickt, indem sie ihr Gesicht noch ein wenig fester in seine Halsbeuge drückte.
„Kerstin.“ Die Kleine mit sanfter Gewalt ein wenig von sich wegschiebend, suchte er gleich darauf den Blickkontakt zu ihr. „Du hast gerade gesagt, dass sie über Minka gefallen ist. Und ich möchte jetzt wissen, ob ihr dabei was passiert ist.“ Das weißblonde Haar aus dem feuchten Gesicht wischend, ließ er am Ende seine Hand auf ihrer Wange liegen, um sie mit dem Daumen sanft zu streicheln. Dabei sah er sie so eindringlich an, als wollte er die Antwort auf seine Frage von ihren Lippen ablesen.
„Ich weiß nicht.“ Pia hatte sichtlich Mühe, seinem Blick standzuhalten. „Hab’ ich das wirklich gesagt?“
„Weißt du das denn nicht mehr?“, wunderte er sich.
„Ich …“ Hätte man sie mit Prügel bedroht, sie hätte nicht furchtsamer dreingesehen. Entsprechend steif hielt sie sich, und wagte sich dabei kaum noch Luft zu holen. „Ich … Es ist …“ Sie musste es erklären, ermahnte sie sich selbst. Vielleicht … Er war anders als die anderen und würde es bestimmt verstehen! „Manchmal trete ich einfach so weg, weißt du, und sage dabei Sachen, die böse sind. Ich mach das bestimmt nicht mit Absicht. Es ist nur … Wenn ich wegtrete, ist es so, als hätte man mich auf einmal in ein Zimmer gesperrt, wo es dunkel und ganz still ist. Ich denke, ich bin ruhig. Aber in Wirklichkeit sagt mein Mund schlimme Wörter.“
Fabian schwieg zunächst, um das Gesagte zu überdenken. Am Ende runzelte er die Stirn, was deutlich machte, dass ihm etwas an ihrer Aussage nicht ganz einleuchten wollte. Allerdings fand er nicht die Gelegenheit, seine Frage in Worte zu fassen, denn Pia kam ihm zuvor.
„Ich kann mich ganz bestimmt nicht erinnern“, versicherte sie. „Aber ich weiß, dass ich immer böse Sachen sage, wenn ich wegtrete, weil es mir die Leute erzählt haben, bei denen ich früher gewohnt hab. Sie haben erst nur mit mir geschimpft, weil ich dummes Zeug geblubbert hätte. Aber dann … Sie haben gesagt, ich wäre besessen, und wollten mich nicht mehr bei sich haben. Darum wurde ich wieder woanders hingebracht. Ich … Mein letzter Papa hat mich verhauen und dann in der Kirche ganz lange vor einem Jesusbild knien lassen, damit der Teufel aus mir herauskäme und ich wieder brav werde. Ich … Das Beten hat nicht geholfen, weißt du. Und dann … Er ist sehr böse geworden und hat mich wieder gehauen. Ich weiß auch nicht, wie es passiert ist, aber ich bin dann wieder weggetreten und erst in einem Krankenhaus wieder wach geworden. Danach hat es nicht lange gedauert, bis Kerstin kam, um mich zu holen. Ich … Sie ist so lieb, weißt du. Deshalb hab’ ich mir vorgenommen, dass ich nie wieder böse sein würde. Es … Ich dachte, wenn ich nicht rede, kann auch nichts Böses aus meinem Mund kommen. Und … Ich hab’ es irgendwie geschafft, nicht wegzutreten. Es … Heute ist es zum ersten Mal wieder passiert. Aber ich will das nicht! Ich werde mir ganz viel Mühe geben, damit es nicht wieder passiert! Ich … Du glaubst mir doch, ja?“
Fabian merkte, dass das Kind immer noch von einer schier bodenlosen Furcht beherrscht wurde, und zog es daraufhin wieder an sich, um es anhand einer liebevollen Umarmung zu beruhigen. Dabei fiel ihm wieder seine Besorgnis um seine Pflegemutter ein, sodass er mitsamt seiner Last umgehend zum Haus ging. Minka, eine weiß gestiefelte schwarzbraune Katze, gehörte zwar zum Paulus-Haushalt, streunte aber lieber durch die Nachbarschaft, als auf dem eigenen Grundstück gegen Maus und Co vorzugehen. Gegen Abend kam sie manchmal heim, um sich das bereitgestellte Futter zu holen, blieb dabei aber immer vor dem Hinterausgang sitzen, weil sie anschließend gleich wieder weiterwollte. Dass sie ausnahmsweise mittags zurückgekehrt und ins Haus gelaufen war, erschien ihm zwar ungewöhnlich aber nicht wirklich verwunderlich. Katzen waren nun einmal unberechenbare Individualisten, dachte er.
Fabians Hand war noch nicht ganz auf der Klinke, da wurde die Tür von innen geöffnet. Und im nächsten Moment trat ihm Joachim entgegen, der offenkundig auf dem Weg nach draußen war. Also grüßte er kurz und tappte sogleich an dem Pflegevater vorbei. Dabei schaute er die Treppe zum Obergeschoss hinauf und entdeckte auf der drittletzten Stufe den faul ausgestreckten Körper der Katze. Kerstin hingegen war gerade im Begriff, von der Galerie aus die mit Teppich bespannten Stufen herabzukommen. Dabei sah sie jedoch nicht zu Boden und somit auf ihren Weg, sondern auf den Einkaufszettel in ihrer Hand.
„Pass auf!“, schrie Fabian, indem er Pia hastig absetzte. „Minka ist direkt vor dir!“ Die Warnung war noch nicht ganz ausgesprochen, da lief er schon hin, um die Pflegemutter auffangen zu können, falls sie wirklich stürzte. Dabei scheuchte er das dösende Tier auf, sodass es wie angestochen aufsprang und im nächsten Moment vollkommen verschreckt zur Galerie hoch raste, um sich angriffslustig buckelnd in die nächstbeste Ecke zu drücken.
„Du liebe Zeit!“ Kerstin hatte gerade noch rechtzeitig stoppen können und stand nun leicht schwankend auf der obersten Stufe. In der Linken nach wie vor ihren Einkaufszettel festhaltend, klammerte sie sich mit der Rechten am Geländer fest. „Wärst du nicht gewesen, hätt’ ich mir jetzt vielleicht das Genick gebrochen. Dumme Mieze!“ Dem immer noch fauchenden Tier einen bösen Blick zuwerfend, kam sie anschließend die Treppe herunter und lächelte dabei Fabian dankbar an. „Ein Glück, dass du sie rechtzeitig bemerkt hast.“
Die Lippen zu einem gezwungenen Grinsen verzogen, nickte er bloß. Gleich darauf flog sein Blick zu Pia zurück, die immer noch an der Haustür stand und nicht recht zu begreifen schien, was da gerade geschehen war. Sie hatte die Gefahr vorausgesehen, schoss es ihm durch den Sinn. So als wäre sie in der Zeit vorausgeeilt, um etwas Schlimmes in Erfahrung zu bringen, damit sie es hinterher durch eine Warnung verhindern konnte. Allerdings schien sie das …
„Die anderen haben schon gegessen“, unterbrach Kerstin seine Überlegungen. „Deine Portion hab’ ich im Backofen warm gestellt.“ Ein weiteres Mal tief durchatmend, ging sie zur Garderobe, um ihre Jacke zu holen und dann ihrem Mann nach draußen zu folgen.
Fabian indes hatte ganz andere Sorgen als seinen leeren Magen. Pia zu sich heranwinkend, nahm er sie gleich darauf auf den Arm und stieg mit ihr zu seinem Zimmer hinauf. Er musste mit ihr reden, nahm er sich vor. Sie besaß offenbar eine Gabe, die nicht nur äußerst ungewöhnlich war, sondern auch sehr beängstigend für sie sein musste, weil sie es nicht verstehen konnte. Und ihre Umwelt hatte das offenbar ebenso wenig vermocht! Ja, sie war fast zu einem seelischen Wrack gemacht worden, weil keiner die vermeintlich festgesetzten Grenzen seines Verstandes verlassen hatte, um sich neuen Ideen zuzuwenden. Na ja, er selbst konnte auch nicht wirklich begreifen, was mit ihr los war, gestand er sich ein. Aber er würde nicht den gleichen Fehler machen, wie die anderen vor ihm. Er wollte sich nicht mit bloßen Vermutungen zufriedengeben, sondern sicheres Wissen erlangen, nahm er sich vor. Vielleicht … Wenn das ihr Problem war, gab es vielleicht eine Möglichkeit, ihre traumatisierte Psyche zu therapieren! Sie brauchte wahrscheinlich ganz dringend fachliche Hilfe! Die jedoch konnte nur greifen, wenn sie zuerst einmal neues Vertrauen zu ihren Mitmenschen fasste und ihre Fähigkeiten selbst als etwas Normales anzusehen lernte.
„Du …“ Pia schluckte schwer. „Du hast mich doch noch lieb?“
„Aber klar hab’ ich das“, versicherte er, indem er die Tür seines Reiches öffnete, um eintreten zu können. „Es gibt nichts, was mich davon abhalten könnte, dich gern zu haben.“
„Auch meine Hände nicht?“, wollte sie wissen, sobald sie drinnen waren.
„Auch deine Hän …“ Fabian stockte, denn mit einem Mal meinte er wieder ihre Finger auf seinen Wangen zu spüren und erinnerte sich jäh an das merkwürdige Prickeln, welches sie auf seiner Haut ausgelöst hatten. „Du …“ Er räusperte sich ausgiebig und setzte dann neu an: „Was ist mit deinen Händen?“
Pia brauchte ein bisschen Zeit, um sich die Antwort zurechtzulegen, denn es war nicht einfach, das in Worte zu fassen, was sie ihm mitteilen wollte. Doch dann straffte sie die schmächtigen Schultern und sah ihn wieder voll an.
„Wenn ich wen anfasse“, begann sie mit belegter Stimme, „dann kann ich fühlen, was er fühlt. Und ich merke gleich, ob er mich mag oder nicht.“ Sie schluckte hart, bevor sie fortfuhr: „Und bei dir … Da ist mehr! Ich … Ich kann es nicht richtig beschreiben, weißt du. Als ich dich zum ersten Mal richtig gesehen und angefasst hab, da war es, als ob ich endlich was gefunden hätte, was mir die ganze Zeit gefehlt hat. Das war komisch, weißt du. Es war, als wären du und ich zwei verlorene Teile von etwas, die endlich wieder an ihrem richtigen Platz angekommen sind.“ Sie empfand immer noch sehr viel Furcht, was man ihr auch deutlich ansehen konnte. Dennoch hielt sie den Blickkontakt aufrecht. „Du glaubst mir doch, ja?“
„Ja, ich glaube dir“, versicherte er mit sanfter Stimme, indem er sie auf die Stirn küsste, um sie dann auf der Kante seines Bettes abzusetzen. „Aber du musst mir noch mehr darüber erzählen, damit ich es besser verstehen kann.“ Er wollte weiterhin in Augenhöhe mit ihr sein und kniete sich daher vor sie hin. Auch in ihm hatte sich gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen dieses Gefühl von Zusammengehörigkeit festgesetzt, erinnerte er sich dabei. Ein schon fast unheimlich anmutendes Empfinden von tiefer Verbundenheit. Warum das so war, konnte er sich nach wie vor nicht erklären, nahm es aber als gegeben hin, weil es ihm müßig erschien, Antwort auf eine Frage suchen zu wollen, die nicht wirklich wichtig war. Er liebte sie von ganzem Herzen. Nur das zählte!
„Ich …“ Wieder schwieg sie eine geraume Zeit. „Es sind nicht nur meine Hände“, gestand sie schließlich. „Ich … Wenn Leute, die ich besonders gern hab’, in der Nähe sind, dann merke ich das. Es ist … Jeder fühlt sich anders an, aber alle sind wie warmer Wind. Und manchmal kann ich hören, was andere Leute denken.“
„Oh wow.“ Er zweifelte nicht eine Sekunde lang daran, dass sie die Wahrheit sagte. Allerdings hatte er einige Schwierigkeiten damit, das ganze Ausmaß ihres Geständnisses zu begreifen. Natürlich gab es Leute, hielt er sich vor Augen, die telepathische und visionäre Kräfte besaßen. Aber die mussten doch vorher in irgendeine Art von Trance fallen, bevor sie ihre Gabe gebrauchen konnten! Oder nicht? War es möglich, dass die Kleine einfach so in die Köpfe anderer hineinhorchen konnte?
„Ich horche ganz bestimmt keinen aus“, versicherte sie in seine Überlegungen hinein. „Und gehen tut es auch nicht immer. Aber dich kann ich einwandfrei und ganz deutlich hören, wann immer du an mich denkst – sogar, wenn du in der Schule bist.“
Das klang so unglaublich, dass Fabian am liebsten losgeprustet hätte. Doch blieb ihm das Lachen buchstäblich im Halse stecken, denn Pias Lippen waren fest geschlossen, während sie die letzten Sätze formuliert und in sein Hirn gepflanzt hatte. Allein ihr Blick fesselte den seinen, sodass er die Augen nicht abwenden konnte.
„Du kannst hören, was ich denke?“, brachte er endlich mit heiserer Stimme hervor.
„Nein, nicht alles.“ Diesmal sprach sie tatsächlich. „Sachen, die du mit niemandem teilen willst, haben keinen … Sie sind nicht zu verstehen, weißt du. Es ist, als ob da eine Wand drum herum ist, die keinen Ton durchlässt.“
Das war beruhigend zu wissen, dachte er.
„Meine Schule ist aber ziemlich weit weg von hier.“ Er zwang sich zu einem lockeren Plauderton, in der Hoffnung, dass seine folgende Frage nicht wie eine gemeine Unterstellung aufgefasst werden würde: „Bist du sicher, dass ich es bin, den du hörst? Kann es nicht …“
„Zwischen uns ist ein ganz besonderes Band“, unterbrach sie ihn, wobei sie gleichzeitig den Kopf schüttelte, was eine Reaktion auf seine unausgesprochene Frage darstellte. „Es macht, dass ich deine Stimme sogar dann hören kann, wenn du am anderen Ende der Stadt bist.“
Diese Behauptung erschien ihm nun doch ein bisschen übertrieben. Als ihm jedoch einfiel, dass er in letzter Zeit häufig ihre Stimme vernommen hatte, obwohl sie nicht in Hörweite gewesen war, schluckte er hart. Es waren also keineswegs Erinnerungen an ihr kindliches Geplapper, die ihn hin und wieder vom Unterricht ablenkten, erkannte er. Wie auch immer sie es anstellte, es gelang ihr offenbar tatsächlich, ihn zu kontaktieren, wann immer sie Lust dazu verspürte! Nein, er fand das gar nicht beängstigend, denn laut ihrer eigenen Aussage waren ihr Grenzen gesetzt, die sie nicht überwinden konnte. Und er vertraute ohne jeden Vorbehalt darauf, dass sie in dieser Beziehung niemals lügen würde. Dennoch war er nun gewarnt und würde in Zukunft ihre Gabe … Nein, berichtigte er sich sogleich selbst. Sie besaßen beide dieses Talent. Wäre es anders, er könnte ihre mentalen Botschaften weder auffangen noch verstehen! Also musste er der Sache unbedingt mehr Beachtung schenken. Und lernen. Er musste diese neu entdeckte Gabe erforschen und wenn möglich weiterentwickeln. Es konnte ja sein, dass sich daraus ein gewisser Nutzen ziehen ließ!
„Ist doch toll!“ Seinen Mund zu einem sorglosen Lächeln zwingend, sah er Pia offen an. „Wir zwei werden also nie ein Telefon brauchen, wenn wir mal weit voneinander weg sind aber trotzdem miteinander reden wollen!“
„Vielleicht liegt das daran, dass wir Geschwister sind“, erwiderte sie ernst.
Fabian hörte zwar die Worte, begriff aber deren eigentlichen Sinn nicht sofort. Als ihm jedoch aufging, was sie gerade gesagt hatte, lachte er. Sie wäre nicht das erste von allen verlassene Kind, das sich selbst eine imaginäre Familie schuf, indem es Wildfremde zu Verwandten erklärte, dachte er.
„Ich habe das nicht erfunden“, reagierte sie auf seine unausgesprochene Feststellung. „Ich weiß genau, dass du mein Bruder bist. Ich habe gefühlt, dass da noch jemand ist, der zu mir gehört, da war ich fast noch ein Baby. Und als du dann hier ankamst, wurde das Band zwischen uns noch fester. Ich … Gott hat mir ein Zeichen geschickt, weißt du. Als du mich zum ersten Mal in den Arm genommen hast, hat er gemacht, dass ich das Band spüre, das zwischen uns ist. Danach war ich mir ganz sicher, dass wir von der gleichen Frau geboren wurden.“
War das möglich, fragte er sich unterdessen. Konnte das wirklich sein? Warum nicht, gab er sich selbst zur Antwort. Wer auch immer ihn in die Welt gesetzt hatte, konnte auch ein zweites und vielleicht auch ein drittes Mal ohne jeden Skrupel sein Kind im Stich gelassen haben!