Kitabı oku: «Unendlich», sayfa 7
„Solange du mehr zuhörst als selbst zu reden…“, scherzte ich und bekam dafür gleich seinen Ellenbogen in meinen Rippen zu spüren. „Okay, kleiner Spaß am Rande. Du wolltest mir auch noch die Frage weiter beantworten, warum es deiner Meinung nach keine falschen Menschen gibt.“
„Richtig.“ Er machte eine kurze Pause und grüßte eine vorbeigehende Frau. „Also, ich glaube daran, dass du Menschen immer aus einem bestimmten Grund triffst. Manche triffst du, um eine gute Zeit zu haben, für Spaß und um dich zu amüsieren. Von wieder anderen kannst du lernen und dich weiterentwickeln. Sie sind gut für dich und helfen dir, in einer bestimmten Situation in deinem Leben weiterzukommen. Auf welche Art und Weise auch immer. Vielleicht ist es bei deiner besten Freundin genauso, dass dieser Typ ihr hilft, sich weiter zu entwickeln oder es hilft ihr dabei, in eine andere Richtung zu gehen. In eine, in die sie sich bisher noch nicht getraut hat. Das kann sie jetzt nicht wissen und vielleicht wird es sich auch erst in ein paar Wochen, Jahren oder Monaten zeigen. Aber sinnlos wird es nicht gewesen sein, dass der Kerl sie schnell wieder abserviert hat. Auch wenn es jetzt nicht schön sein mag, es wird seinen Grund haben.“
„Das heißt also, dass du von diesen ‚falschen‘“, ich malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, „Menschen im Endeffekt nur lernst?“
„Nicht unbedingt. Meiner Meinung nach brauchst du auch ein gewissese Maß an Reflexion, um das zu merken. Sonst machst du unter Umständen so weiter wie bisher auch und begehst die gleichen Fehler ein ums andere Mal. Sozusagen eine Art Teufelskreis oder ein Muster. Das Leben konfrontiert dich mit den Aufgaben, die du noch nicht gelöst hast in deinem Leben. Und das so lange, bis du es schaffst dieses Muster zu durchbrechen. Wenn du es irgendwann erkennen kannst, dann kannst du vielleicht auch damit aufhören, die Menschen um dich herum und in deinem Leben in richtig und falsch zu unterteilen.“
„Du widersprichst dir selbst ein wenig.“
Seine Augenbrauen hoben sich ein wenig. „Inwiefern?“
„Na ja, du hast ja gesagt, dass man aus diesen Menschen lernt oder dass diese Menschen dich in eine gewisse Richtung lenken. Und jetzt meinst du, dass man das erkennen muss und diese… Offenheit oder den Blick dafür braucht, damit das eintreten kann. Das wiederum würde ja bedeuten, dass wir gar nicht von den Menschen aus unserem Leben lernen können, wenn uns dieses Verständnis fehlt.“
„Offenheit, das ist ein gutes Wort“, murmelte Benny in seinen Schal hinein. „Aber du bist aufmerksam, das gefällt mir.“ Er lächelte. „Ich glaube, ich habe es nicht so gut ausgedrückt, lass es mich noch einmal probieren. Um aus solchen Situationen zu lernen ist es von Vorteil, wenn du dich selbst reflektieren kannst, sonst projizierst du es einfach nur auf dein Gegenüber. Also du gibst den anderen immer die Schuld daran, dass das, was ist, nicht richtig ist. Oder um es auf deine beste Freundin zu übertragen, dass sie dem Kerl die Schuld dafür gibt, dass er sie hat sitzen lassen.“
„Hat er ja auch“, warf ich ein.
„Ja, er hat sie sitzen gelassen. Aber kennst du die ganze Geschichte? Weißt du, was sie vorher geschrieben haben? Vielleicht, und das ist nur eine Vermutung, weil ich sie nicht kenne, ist irgendetwas in ihrem Leben passiert, weshalb sie sich nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnt. Und am Ende ist dieses Verlangen so ausgeprägt, dass sie sich etwas eingebildet und einfach wahnsinnig viel Hoffnung in diesen Typen gesetzt hat, den sie gar nicht so gut kannte, und sich an ihn geklammert hat, ohne den Blick dafür zu haben, was wirklich ist. Im Endeffekt wollte er vielleicht nur höflich sein und sie hat es als Versprechen aufgefasst. Verstehst du?“
„Nicht ganz, nein. Es sei denn du willst mir sagen, dass sie einen Fehler gemacht hat, dass sie sich auf ihn eingelassen hat.“
„Nein, das meinte ich so nicht.“ Er zögerte kurz. Seine Stirn war gerunzelt. „In dem Moment, in dem sie sich so an ihn geklammert, sich so auf ihn fokussiert hat, kann es sein, dass sie sich selbst den Blick für anderes genommen hat, was um sie herum ist. Sie wollte unbedingt diesen einen Kerl, dabei… keine Ahnung, sitzt vielleicht ein anderer vor ihrer Nase oder sie ist einfach nicht bereit dafür, eine feste Beziehung zu haben, weil es Dinge in ihrem Leben gibt, die nicht gelöst sind und die ihr im Weg stehen, um weiterzukommen. Vielleicht ist es auch eine fehlende Selbstakzeptanz, weshalb sie die Liebe im Außen und bei anderen sucht anstatt bei sich selbst.“
„Ich verstehe immer noch nicht ganz, was du damit ausdrücken möchtest“, gestand ich. „Du meinst ja, dass sie sich nicht auf diesen einen Typen hätte fixieren sollen. Aber das machen wir automatisch, wenn wir verliebt sind.“
„War das wirklich Liebe bei deiner besten Freundin? Wie lange sagtest du, kannte sie ihn schon?“
„Sie haben erst ein paar Tage geschrieben und dann haben sie sich getroffen. Aber es hätte sich ja wirklich etwas daraus entwickeln können.“
„Auf einer Dating-App? Bist du dir sicher, dass es dabei darum ging, die wahre Liebe zu finden? Ich kenne mich damit ja nicht aus, aber ich glaube nicht, dass das die Ansicht von jedem dort ist“, warf Benny ein.
„Das ist alles schon vorgekommen“, bemerkte ich.
„Natürlich. Aber ist es die Ausnahme oder die Regel?“
„Ich verstehe deinen Punkt. Aber was ich damit sagen möchte ist, dass es auch anders hätte laufen können.“
„Aber das ist es nicht. Und deine beste Freundin wird lernen müssen, damit zu leben. Vielleicht wird sie durch all das auch einfach stärker. In ein paar Monaten wird sie es wissen. Oder auch nicht. Das wird sie für sich selbst herausfinden müssen.“
„Da kann ich dir zustimmen. Dass sie dadurch stärker wird. Aber den ganzen Teil vorher habe ich immer noch nicht verstanden. Von wegen Offenheit und Liebe. Das macht doch keinen Sinn.“
„Auf den ersten Blick bestimmt nicht, nein. Ich habe auch eine ganze Weile gebraucht, bis ich es für mich verstanden habe. Vielleicht musst du erst noch deine eigene Erklärung dafür finden. Nicht alles möchte auf Anhieb einen Sinn ergeben.“
Schweigend gingen wir nebeneinander her. Für einige Minuten war nur unsere Schritte auf dem Asphalt zu hören. Ein Auto fuhr an uns vorbei. Meine Gedanken waren ein einziges Wirrwarr, das ich selbst nicht verstand.
„Kannst du noch einmal versuchen, es mir zu erklären?“, bat ich ihn dann doch.
Leise lachte Benny auf. „Gerne. Du musst es aber nicht teilen, was ich denke.“
„Das ist in Ordnung. Ich sag dir dann schon, ob mir das gefällt oder nicht. Es ist nur… Ich kenne niemanden sonst, der so denkt.“
„Das nehme ich mal als Kompliment.“ Leise lachte er auf. „Es geht hierbei ja nicht um Gefallen, aber das ist eine andere Sache.“
Ich runzelte die Stirn und warf wieder einen kurzen Blick zu ihm hinüber. Mittlerweile hatten wir die Innenstadt hinter uns gelassen und waren auf dem Weg zum Stadtrand.
„Mir hat das Wort Offenheit gut gefallen, das du vorhin erwähnt hast. Ich glaube, dass es mich ganz gut beschreibt oder die Art, wie ich mein Leben gestalten möchte. Ich versuche, die Dinge nicht zu planen, sondern auf mich zukommen zu lassen. Natürlich habe ich Ziele in meinem Leben. Dinge, die ich erreichen möchte, aber ich mache mir keinen ganz genauen Plan, wie ich sie erreichen werde. Das Schicksal hat dabei ja immer ein Wörtchen mitzureden. Das wie kann ich nicht planen, aber ich kann mich dafür darauf konzentrieren, was ich möchte.“
„Moment, das heißt du planst nichts in deinem Leben?“, ging ich nun doch dazwischen.
„Doch, natürlich. Ich plane meine Woche, was ich erledigen muss, wann welcher Termin ansteht oder was ich am Wochenende zu Mittag essen möchte.“ Ein leises Lachen entfuhr ihm. „Aber ich plane nicht auf die Minute mein Leben durch. Ich lasse Platz für neue Erfahrungen und Menschen. Wenn ich jemanden kennenlerne, dann stelle ich mir nicht vor, wie unsere Kinder in zehn Jahren aussehen, sondern lasse all das auf mich zukommen. Ich weiß, dass ich einmal glücklich sein werde und mit meiner eigenen Familie in meinem Haus leben werde und mit dem, was ich liebe, mein Geld verdienen kann. Aber ich weiß nicht, wer dort an meiner Seite stehen wird und ob zu meiner Familie auch Kinder gehören oder wie ich genau dorthin komme und was ich alles tun muss, um meine zukünftige Frau kennenzulernen. Oder ob mein Haus hier stehen wird oder in einer anderen Stadt. Wenn es eine schmerzhafte Erfahrung ist, die mich auf diesen Weg bringen wird, dann werde ich damit umzugehen lernen und daran wachsen. Aber ich werde mich nicht auf Dinge, die nicht da sind, konzentrieren. So, wie deine Freundin es bei diesem Typen getan hat. Gewissermaßen könnte man sagen, dass ihr die Offenheit gefehlt hat, sich auf ihn einzulassen.“
„Das heißt, dass sie deiner Meinung nach nicht offen war, als sie ihn getroffen hat?“
Benny neigte den Kopf etwas zur Seite. „Vielleicht, ich kann es schwer sagen, ich war nicht dabei und ich kenne sie auch nicht. Du hast ja erzählt, dass sie schon vor dem Treffen mehr als angetan von ihm war und sich etwas mit ihm vorstellen konnte. Der Typ hat erkannt, dass sie klammern könnte und hat sich dann schnell aus dem Staub gemacht. Mir würde es zumindest eine ziemliche Angst einjagen, wenn ich ein Mädchen gerade erst kennengelernt hätte und sie schon Hochzeitspläne schmiedet. Es hätte doch auch sein können, dass sie sich mit ihm angefreundet und durch ihn andere Leute kennengelernt hätte. Wer weiß, vielleicht hätte sie am Ende dadurch noch ihren Traummann gefunden?“ Ein leises Lachen entfuhr ihm. „Verstehst du jetzt ein wenig besser, was ich denke?“
„Ein wenig“, gab ich zu.
„Aber du bist nicht damit einverstanden.“
„Wie kommst du überhaupt auf solche Überlegungen? Ich meine, du bist erst sechzehn und redest so, als wüsstest du schon genau Bescheid über das Leben und wie alles läuft.“
„Warum sollte mein Alter ausschlaggebend dafür sein, wie ich mein Leben lebe und mit welcher Einstellung ich alles um mich herum betrachte? Letztendlich ist es doch nur eine Zahl. Meiner Meinung nach sagt die ziemlich wenig über mich als Person aus. Ich kenne viele in meinem Alter, die eine ganz andere Einstellung haben und meine niemals teilen würden und auch ältere, die sich nicht so verhalten oder nichts mit dem anfangen können, was ich manchmal so von mir gebe.“
„Das ist nicht meine Frage. Wie kommst du auf solche Gedanken? Was hast du erlebt, dass du so denkst?“
„Nichts.“
„Wie meinst du das? Nichts?“ Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Es muss doch irgendeinen Auslöser dafür gegeben haben. Von allein kommst du doch nicht auf so etwas.“
„Doch. Ich war quasi schon immer so.“ Leise lachte er auf.
„So?“
„So, wie ich eben bin. Anders als meine Freunde und Klassenkameraden und mit einem ganz anderen Blick auf die Dinge, die um mich herum geschehen. Ein wenig sonderbar eben.“
„Du bist nicht sonderbar“, erwiderte ich ohne groß darüber nachzudenken.
„Nicht?“ Die Überraschung war ihm deutlich anzumerken. „Wie würdest du es dann nennen?“
„Keine Ahnung. Darüber habe ich nicht nachgedacht. Aber sonderbar bist du nicht. Das klingt so… abwertend.“
„Wie lebst du dein Leben, Jo? Ich habe dir jetzt so viel von mir erzählt und weiß nur, dass du meine Ansichten nicht teilst.“ In dem schwachen Licht sah ich das schiefe Grinsen auf seinen Lippen. „Wer bist du?“
„Ich bin Jo, aber das haben wir ja schon vor einer Weile geklärt.“
„Das… Egal. Erzähl mir von dir. Was ist deine Einstellung zum Leben?“
„Ich sitze nicht herum und warte darauf, dass irgendetwas zu mir kommt, sondern ich gehe auf die Suche danach. Ich lebe mein Leben. Ich gehe aus und treffe Menschen und hab Spaß und genieße es in vollen Zügen.“
„Und was davon macht dein Leben lebenswert?“
Ich zögerte. Das kam unerwartet. Und die Frage erfüllte mich mit einer unerwarteten Ratlosigkeit und Leere. „Ich… keine… Wie meinst du das?“
„Was lässt dich morgens aufstehen? Ist es die nächste Party? Oder deine beste Freundin? Das Studium? Was ist der Grund, warum du hier bist.“
„Ich… ich denke, dass es einfach der Spaß und die Freude an meinem Leben ist. Die Partys, mein Studium, meine Freunde. Alles zusammen.“ Ich sagte es, aber irgendetwas ließ mich die Stirn runzeln. Ich konnte es selbst nicht beschreiben. Das Gefühl in meiner Magengegend war komisch, flau. „Was ist es bei dir?“
„Das Vertrauen, dass ich Liebe finden werde.“
Warum hörte sich diese Aussage von einem Jungen, der deutlich jünger war als ich, so viel reifer an als meine eigene? „Also suchst du nach etwas im Leben.“
„Nein, ich finde. Das ist ein großer Unterschied.“ Leise lachte er auf. „Ich bleibe nicht Zuhause und tue gar nichts, sondern vertraue einfach darauf, dass das Schicksal mich dorthin führen wird, wo ich etwas oder jemanden finden werde. Jetzt kann ich ja nicht wissen, was das Leben noch für mich bereithalten wird.“
Wir passierten das Ortsschild zu dem Vorort, in dem wir wohnten. Es war nicht mehr weit bis nach Hause. Die Zeit war wie im Flug vergangen.
„Jetzt habe ich dich wahrscheinlich ziemlich schockiert, oder?“
„Ich bin eher schockiert, dass wir schon hier sind“, lachte ich. „Es kam mir gar nicht so vor, als wären wir schon so lange gelaufen.“
„Bei guten Gesprächen vergeht die Zeit immer schnell.“
„Nur gut, dass du überhaupt nicht eingebildet bist“, entgegnete ich trocken.
„Bin ich auch nicht. Ich habe dich als gute Gesellschaft bezeichnet.“
„Ähm, danke?“ Meine Selbstsicherheit bröckelte. Er brachte mich total aus dem Konzept. Dabei tat er noch nicht einmal irgendetwas.
„Eine Frage habe ich noch an dich, Jo“, begann Benny.
„Ja?“
„Wie geht es dir?“
„Was?“
„Wie geht es dir?“, wiederholte er die Frage ruhig und geduldig. „Wegen all dem, was du mir von dem Typen erzählt hast, in den du verliebt warst oder bist.“
„Erstens, ich war nicht verliebt, ich fand ihn gut. Das ist ein Unterschied.“ Zumindest wollte ich mir das weiterhin einreden, dadurch wurde es leichter. „Zweitens hat er eine Freundin, was mich ärgert, weil ich ihn eben gut fand und ihn gerne kennengelernt hätte. Und drittens geht es mir bestens, danke der Nachfrage“, antwortete ich ruppiger als beabsichtigt. Bei dem Gedanken an Konstantin krampfte sich mein Magen zusammen und ich schaltete in einen Abwehrmodus. Ich hatte ihn erfolgreich verdrängt und in den letzten Stunden alle Gedanken an ihn und seine bezaubernd langweilige Freundin beiseite schieben können und jetzt erinnerte mich Benny wieder daran. Nein, ich wollte nicht mehr daran denken. Ich brauchte das alles nicht.
„Warum sagst du, dass du nicht verliebt warst? Daran ist doch nichts schlimm.“
„Ich bin niemand, der auf so Gefühlszeug steht, egal auf welche Art. Ich bin niemand, der sich verliebt. Ich… Nein, ich war noch nie verliebt und brauche es auch nicht. So ein Mensch war ich noch nie.“ Meine Kiefer pressten sich fest aufeinander. Mein Blick war starr geradeaus gerichtet. Mein Herz pochte schneller. Ich war froh, dass meine Hände fest in meinen Taschen vergraben waren. Benny konnte nicht sehen, dass meine Fäuste zitterten.
„Was ist passiert? Warum denkst du so?“ Bennys Stimme war sanft und einfühlsam. Genau das, was ich nicht haben wollte. „Die Liebe ist doch der Grund, warum wir hier sind.“
„Nicht alles hat einen tieferen Grund. Ich bin einfach so, wie ich bin. Akzeptiere es und versuch bitte nicht, nach irgendetwas zu suchen, das es nicht gibt“, entgegnete ich schnippisch.
Benny erwiderte nicht direkt etwas auf meine Worte. Mein Puls beruhigte sich langsam wieder. Einige Meter später schaffte ich es schon wieder, tief durchzuatmen. Die kalte Nachtluft tat mir gut und brachte mich wieder runter.
„Okay“, war das Einzige, was Benny nach einigen Metern dazu sagte.
„Nichts weiter?“ Erstaunt schaute ich ihn an.
„Nein. Ich glaube nicht, dass ich im Moment so viel sagen könnte, was dir irgendwie weiterhilft. Aber… wenn du reden möchtest, dann kannst du zu mir kommen. Immer und überall. Ich bin für dich da.“ Er lächelte.
Synchron verlangsamten wir unsere Schritte. Wir waren fast an meiner Haustüre angekommen.
„Warum? Warum sagst du so etwas? Warum bietest du mir all das an? Wir kennen uns doch kaum.“
„Ich hab dich gern, Jo. Das allein sollte Erklärung genug sein.“
„Aber…“ Ich blieb stehen, die Stirn gerunzelt. Die Fenster bei mir Zuhause waren dunkel. Ich wusste nicht, ob mein Vater Zuhause war oder nicht und es war mir auch egal.
„Warum brauchst du noch eine weitere Erklärung? Denk darüber nach, Jo, dann wirst du die Antwort darauf finden.“
„Aber…“, setzte ich erneut an.
Mit einem leisen Lachen legte er mir den Finger auf die Lippen. Abrupt stoppte ich, mein Puls schnellte wieder in die Höhe.
„Das waren genug Fragen für heute. Du bist klug. Wenn du darüber nachdenkst und ehrlich mit dir selbst bist, dann wird es nicht schwer sein für dich, die Antworten auf deine Fragen zu finden.“ Noch immer war da dieses schiefe Grinsen auf seinen Lippen. Er beugte sich zu mir vor. Halb erwartete ich, dass er versuchen würde, mich zu küssen, aber er hauchte mir nur einen sanften Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, Jo. Schlaf gut.“
„Er hat dich geküsst?“
„Nein, hat er nicht.“ Ärger stieg in mir auf. Ungeduldig wippte ich mit meinem Fuß. Beinahe bereute ich, dass ich spontan zu Milena gefahren war, um ihr alles zu erzählen, was gestern Abend passiert war. Es wäre besser gewesen, wenn ich Zuhause geblieben wäre. „Er hat mich auf die Wange geküsst. Wobei das kein richtiger Kuss war.“
„Also spätestens jetzt kannst du mir nicht mehr erzählen, dass er nicht auf dich stehen würde. Das ist ja sowas…“ Milena wurde von einem Niesen unterbrochen. „…sowas von offensichtlich.“
„Gesundheit. Und nein, tut er nicht. Wir haben uns nur sehr gut unterhalten. Er hat keinerlei Fragen gestellt oder Andeutungen in diese Richtung gemacht.“ Verärgert seufzte ich. Warum musste Milena auch nur alles so kompliziert sehen? Sie könnte es mir auch einfach glauben, wenn ich ihr etwas erzählte. „Wie geht es dir?“
„Wie soll es mir schon gehen? Ich niese und huste die ganze Zeit und mein Kopf tut weh und es ist einfach nur ätzend.“ Wie um ihre Worte zu unterstreichen putzte sie sich geräuschvoll die Nase.
„Ich meine wegen dem Typen von der App. Habt ihr nochmal geschrieben?“
„Nein, haben wir nicht.“ Dieses Mal war es Milena, die den Mund fest zusammenkniff.
Ich schaute sie an. Richtig. Ihre Augen waren rot geädert. Sie sah blass aus. Die Augen glanzlos und traurig. Es war nicht allein der Schnupfen, der ihr zusetzte. Ich kannte sie zu gut, sie konnte mir nichts vormachen.
„Dann ist es besser so, denke ich. Es gibt noch andere, Milena. Das war mit Sicherheit nicht der letzte Mann auf der Erde, den du getroffen hast.“
„Du hast leicht reden. Dich will ja jeder mit deinen langen blonden Haaren und deiner Figur.“ Sie rollte mit den Augen. Wieder putzte sie sich die Nase.
„Ach was, das stimmt nicht. Du weißt, dass du die Hübschere bist von uns beiden und die bessere Figur hast. Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie dir im Sommer am See die Kerle die ganze Zeit nachgeschaut haben?“ Ich grinste. „Und die haben definitiv nicht auf meinen Hintern geguckt.“
„Aber warum meldet sich dann keine von den Modelagenturen mehr, bei denen ich war?“, jammerte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Ach Milena.“ Ich setzte mich neben sie auf ihr Bett und legte den Arm um ihre Schultern. „Du bist toll und das weißt du auch. Manche Leute brauchen eben länger, bis sie das merken. Und wenn der Typ zu blöd ist, um zu sehen, was du für ein toller Mensch bist, dann ist es definitiv sein Pech. Glaub mir, da draußen sind noch viel bessere Kerle, mit denen du glücklich werden kannst.“ Wenn du nur offen bist für das Leben und es auf dich zukommen lässt anstatt kontrollieren zu wollen, wo und wie du deinen Freund kennenlernst. Das Gespräch mit Benny von gestern Abend war mir noch lebhaft im Gedächtnis. So schnell würde ich es auch nicht mehr vergessen können.
„Vielleicht“, gab sie kleinlaut zu und lehnte den Kopf an meiner Schulter an. „Aber er war so toll, weißt du? Ich habe noch nie einen Kerl gehabt, der so gut ausgesehen hat wie er.“
Beruhigend strich ich ihr über den Rücken. Für den Moment sagte ich nichts dazu. Was sollte ich auch tun? Unweigerlich dachte ich wieder an das, was Benny dachte. Dass ihr die Offenheit gefehlt hatte. Nein. Ich dachte zu viel an das, was ein Sechzehnjähriger sagte. Aber das Alter ist nur eine Zahl, die nichts über dich selbst aussagt. So wie dein Aussehen nichts über deinen Charakter aussagen kann.
Wie schaffte er es, dauerhaft so präsent in meinem Kopf zu sein?
„Schreibt ihr jetzt gerade wieder?“, riss Milena mich aus meinen Gedanken.
„Wen meinst du?“, stellte ich mich dumm. Es gab ja nur einen, auf den sie dauernd anspielte.
„Na wen wohl.“ Ich hörte ihr geradezu an, wie sie mit den Augen rollte. „Dein kleiner Nachhilfeschüler und du natürlich.“
„Nein. Warum sollten wir?“
„Weil er dich mag. Deshalb.“
Jetzt war ich wieder an der Reihe, mit den Augen zu rollen. Es gab keinen Grund, warum ich mit Benny schreiben sollte. Den nächsten Termin für die Nachhilfe hatten wir schon ausgemacht. Ansonsten gab es nichts weiter zu besprechen. Und über alles andere konnten wir schwer schreiben.
„Du solltest ihm besser klar machen, dass du nicht auf ihn stehst. Nicht, dass du dem Kleinen unnötig lange falsche Hoffnungen machst.“
Schweigend strich ich ihr weiterhin über den Rücken, den Blick ins Leere gerichtet. Ganz egal was ich noch sagen würde, es würde nicht bei ihr ankommen.
„…und dann teilst du am Ende noch einmal durch vier Komma fünf“, erklärte ich und deutete auf die Rechnung.
„Vier Komma fünf? Nicht die siebzehn von hier?“ Benny deutete mit dem Stift auf den Anfang der Aufgabe.
Ich unterdrückte ein Seufzen und begann mit meinen Erklärungen noch einmal von vorne. Wir saßen schon eine ganze Weile hier und es ging nicht sonderlich voran, aber ich übte mich in Geduld. Er tat es ja nicht mit Absicht. Mathe und er hatten sich einfach schon vor einer ganzen Weile auseinander gelebt. „Versuch es noch einmal von vorne“, meinte ich und lehnte mich zurück, mit einem halben Auge aber noch immer auf seinem Aufgabenblatt.
Es war das erste Mal, dass wir uns seit dem Kinobesuch wiedersahen. Und Milena hatte falsch gelegen. Diese Verabredung im Kino hatte rein gar nichts verändert zwischen uns. Höchstens, dass wir uns besser verstanden als vorher und noch ein wenig länger geredet hatten als sonst, bevor wir tatsächlich mit Mathe angefangen hatte. Aber er hatte keinerlei Andeutungen gemacht oder sich anders verhalten als sonst. Wir waren einfach Freunde. Mehr nicht. All diese Anspielungen von den anderen waren vollkommen unberechtigt gewesen. Es war kein Date gewesen. Benny hatte auch nichts mehr darüber gesagt. Ich auch nicht. Warum auch? Es war nichts vorgefallen.
Die Haustür fiel laut ins Schloss und die Stimmen von Bennys Mutter und seiner Schwester hallten durch das Haus.
„Oh, hallo Joanna. Ich wusste gar nicht, dass ihr noch am Lernen seid.“ Frau Winter bleib kurz stehen, als sie uns am Tisch sitzen sah. Ariane balancierte eine übervolle Einkaufstüte weiter in die Küche.
„Hallo Frau Winter.“ Höflich stand ich auf und reichte ihr die Hand.
„Einfach nur Marianna, ja? Für diese Förmlichkeiten haben wir uns jetzt wirklich schon zu oft gesehen.“ Lachend drückte sie meine Hand. Um ihre Augen bildeten sich kleine Fältchen.
„Dann einfach nur Jo.“ Ich grinste ebenfalls. Die gute Laune im Haus der Winters war ansteckend. Es musste wohl in der Familie liegen, dass alle lächelten und gut drauf waren.
„Wie macht er sich so?“ Marianna hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte zu ihrem Sohn, der noch immer über der Aufgabe grübelte.
„Denk dran, dass ich alles hören kann“, sagte Benny laut ohne zu uns zu schauen. „Und es ist demotivierend, wenn du etwas Falsches sagst.“
Ich lachte. „Es wird langsam.“
„Sehr schön. Ich danke dir, dass du ihm hilfst.“
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „So schlimm ist er ja meistens nicht.“
„Ja? Er kann sich benehmen?“
„Das habe ich gehört, Mama.“ Jetzt warf er seiner Mutter doch einen vernichtenden Blick zu. Naja, ganz gelang es ihm nicht.
Und dieses Mal lachten wir alle zusammen. „Bleibst du noch zum Abendessen, Jo?“
„Das ist nett, aber…“
„Überleg es dir gut, wir machen Lasagne. Und nichts ist so gut wie Mamas Lasagne“, rief Ariane aus der Küche.
„Ich esse kein Fleisch, von daher wäre das sowieso nichts für mich.“
„Wir machen den vegetarischen Teil einfach etwas größer. Ariane isst auch kein Fleisch.“
„Wirklich, überlege es dir gut. Du verpasst sonst etwas“, meinte Ariane. Sie lehnte locker in der Tür zum Wohn- und Esszimmer.
„Ich möchte euch keine Umstände machen“, erwiderte ich zurückhaltend.
„Tust du nicht, keine Sorge. Und jetzt macht ihr beide weiter. Ariane und ich haben das Kommando in der Küche.“ Marianna zwinkerte mir zu.
„Kann ich euch nichts helfen? Wenn ich schon zum Essen bleibe?“ Ich biss mir auf die Lippe. So viel Offenheit und Freundlichkeit war ich nicht gewohnt.
„Ich habe das Gefühl, dass Benny deine Hilfe viel eher braucht als wir“, schmunzelte Marianna. „Und wenn du dein schlechtes Gewissen beruhigen möchtest, kannst du nachher einfach beim Abwasch helfen“, lachte sie.
Verlegen stimmte ich mit ein, nahm mir aber fest vor, das auch wirklich zu tun. Es war das erste Mal, dass wir uns wirklich unterhielten und sie war so unheimlich nett. War das normal? „Also, wo bist du hängengeblieben?“ Ich setzte mich wieder neben Benny, der mit gerunzelter Stirn auf seinem Bleistift herumkaute.
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