Kitabı oku: «Die lustlosen Touristen», sayfa 2

Yazı tipi:

03 Sie hatte ihn gesehen. Mal hier, mal da. Als sie endlich genug Mut beisammenhatte, fragte sie nach seinem Namen. Möglichst ohne allzu großes Interesse durchscheinen zu lassen. Man nannte ihn ihr. Einen Namen. Dann einen anderen. Sie hat nicht weiter nachforschen wollen. Das klingt nicht einmal wie ein richtiger Name. Eher wie ein Spitzname, ein Deckname. Jetzt steht er da vorne, am Altar. Ohne Bart, mit kurzem Haar – unverkennbar er. Und dann seine Stimme. Vor allem diese Stimme. Seine Stimme. Es ist nicht so sehr, was er sagt, vielmehr wie er es sagt. Dieser selbstsichere Ton. Irgendwie erinnert er sie an den gutaussehenden Geschichtslehrer aus der achten Klasse. Der dann einen Monat nach der Hochzeit ein für alle Mal miesepetrig wurde. Diese Stimme. Sie hallt von den Zementwänden der Kirche wider. Und die Gemeindemitglieder sind ganz Ohr, alle sind sie fügsam, wie gezähmt. Jetzt heißt es Ruhe bewahren und Widerstand leisten. Natürlich, das ist es. Die Gemeindemitglieder nicken, applaudieren, machen sich gegenseitig Mut. Aber die Nervosität ist spürbar. Die Polizei bewacht beide Eingänge der Kirche. Schutzhelme, Waffenmündungen. Eine Rückkopplung, das schrille Kreischen des Mikrofons füllt die Kirche. Die Messe ist gleich zu Ende.

Ihre erste Begegnung mit den Schreckgespenstern, die jetzt den Kircheneingang bewachen, ereignete sich in der Calle Reyes Católicos. Zwei von ihnen sind auf sie zugekommen, haben ihre Lehrerinnenmappe durchsucht. Weshalb sind Sie nicht im Unterricht, Fräulein? Ich bin krank, ich bin auf dem Weg nach Hause, hat sie ihnen erklärt und war sich nicht sicher, ob sie husten sollte oder lieber nicht; immerhin hat sie den Mantel fest über der Brust zusammengezogen. Ihre Beine haben gezittert. Dann ab nach Hause und halten Sie unterwegs ja nirgendwo an. Jaja, ich gehe schon. Aber sie ist nicht nach Hause gegangen. Sie ist in die Kirche gegangen.

— Auf der Avenida haben sie angegriffen, sagt einer in der Bank hinter ihr, im Flüsterton. — Und hier, hier werden sie auch nicht untätig zuschauen, du wirst schon sehen.

Kaum hatte sie diesen beängstigenden Gesprächsfetzen mit angehört – fast wirkte es wie ein schlechter Witz! –, war von draußen das erste Wummern zu hören. Bumm-bumm-bumm. Sofort hämmerte es auch an den Türen. Bumm-bumm-bumm. Und wieder hat die Stimme die Kontrolle übernommen, sicher, die Hand fest am Mikrofon: Alle ganz ruhig, hier werden sie nicht reinkommen, das wagen sie nicht.

Es heißt jetzt Widerstand leisten. Im Sitzen auf den Bänken. Oder im Stehen. Jedenfalls Widerstand leisten. Die Kräfte vereinen. Der Stimme zuhören. Die Schreie hören, die von draußen kommen. Warten. Friede sei mit dir, Bruder.

Es ist der dritte Generalstreik seit Schuljahresbeginn. Die Mädchen freuen sich. Mit dreizehn Jahren braucht es nicht viel, um überglücklich zu sein. Sie applaudieren jedes Mal heftig, wenn sie ihnen ankündigt, dass am nächsten Tag keine Schule ist. Sie muss um Ruhe bitten. Bitte, Mädchen, ich bitte euch.

Zum Beispiel einen Monat vor Weihnachten, als Schwester Mercedes ganz niedergeschlagen und verzagt in ihre Klasse kam:

— Der Caudillo ist gestorben, beten Sie mit den Mädchen ein Vaterunser für den Frieden seiner Seele und schicken Sie sie für drei Tage nach Hause.

Der Gefühlsaufruhr jener Tage, das Lachen der Backfische, das dringende Bedürfnis, rauszugehen und tief durchzuatmen. Kommt schon, Mädchen, packt eure Sachen ein und ab nach Hause, aber ganz ruhig, ja? Mari Carmen, was habe ich gerade gesagt? Eine nach der anderen und ohne Radau. Am Montag geht es weiter. Ja, am Montag schreiben wir den Test, vergesst das bloß nicht.

Der Gefühlsaufruhr jener Tage ist heute auch in der Stimme des Mannes. Aufregung und Angst. Er legt das Gefühl hinein, die anderen steuern die Angst bei. Junge Körper, nicht mehr ganz so junge, schwitzend, zitternd, alle warten. Zum ersten Mal sucht sie mit dem Blick nach ihrem Bruder. Er kann nicht weit sein. Aber das ist, als suchte sie die Nadel im Heuhaufen, hier drängen sich tausende Menschen. Er ist erst sechzehn Jahre alt. Versteht fast nichts. Er arbeitet nicht, rasiert sich nicht. Aber sicher ist er gekommen. Ohne sich darum zu scheren, was der Vater ihm gesagt hat. Ihr war das auch egal. Doch sie ist ja auch schon erwachsen. Zwanzig Jahre. Eine richtige Frau. Und plötzlich schlägt ein Stein durch ein kleines Fenster in die Kirche, und als zwei- oder dreitausend Blicke in die Richtung fliegen, segelt eine harmlos aussehende Rauchbombe durch die Öffnung. Die Bombe segelt weiter und fällt zu Boden, direkt vor den Beichtstuhl. Und von dort beginnt sie ihr Gift zu verbreiten. Stille tritt ein, auch am Mikrofon. Es braucht noch zwei weitere Rauchbomben, bis Panik ausbricht. Dann kommen noch mehr, aber keiner verfolgt mehr ihre Flugbahn. Man sieht nichts mehr. Nur noch Rauch überall, und plötzlich sind da auch Schüsse. Bumm-bumm-bumm. Gummigeschosse prallen gegen den Zement. Aber vor allem der Rauch, der Rauch, der Rauch. Die Geschosse sind nicht zu erkennen, treffen aber Jung und Alt gleichermaßen. Schreie. Angst, totgetrampelt zu werden. Alle wollen hier raus, doch es scheint unmöglich, es gibt keine Fluchtmöglichkeit, keinen Ausweg. Angst zu ersticken. Niedergetrampelt und erstickt, doppelte Todesangst. Eine neue Angst, eine konkrete Angst. Der Rauch brennt in der Kehle. Sie hustet. Diesmal wirklich.

— Wir müssen hier raus! Wir müssen hier raus!

Mit tränenden Augen, die Füße bleiern vor Angst, versucht sie auf das Licht zuzulaufen. Sie muss aus dieser Kirche raus, mit dem Frieden des Herrn. Das Licht ist dort, so nah. Zwei- oder dreitausend fromme Seelen drängen dem Licht entgegen. Ein grauer Tag, alle wollen raus in den grauen Tag. Splitterndes Glas. Die Fenster sind zerschlagen, die Leute klettern durch sie hindurch ins Freie. Das ist die Rettung. Alles andere ist Rauch. Glassplitter, Schnitte an den Händen. Auf der anderen Seite der Fenster warten die Maschinengewehre. Die Flüchtenden drücken jetzt nach hinten zurück, niemand möchte jetzt noch raus, sie kommen zurück nach drinnen und überrollen die, die hinter ihnen waren. Und dann hört man: die erste Gewehrsalve, sie dauert ewig, eine Schussorgie. Alle Schreie verstummen, wie im Unterricht, wenn sie mit dem Lineal auf den Tisch klopft. Nur für einen Moment, es ist der Schreck. Dann beginnt das Schreien wieder, das Schubsen, der Druck auf der Brust. Sie möchte nicht mehr raus, sie möchte ganz still bleiben, vom Rauch verborgen. Die Augen schließen. Ein bisschen ersticken, ohnmächtig werden und später aufwachen, wenn alles wieder vorbei ist.

Doch dann kommt es so, dass sie plötzlich draußen ist, sie weiß nicht, wie das geschehen ist, die Menge hat sie bis hierher gedrängt. Sie ist draußen, und die Schüsse wummern weiter. Sie ist draußen und sieht Männer, fast noch Jungs, einige Frauen. Viele fallen. Sie schreien, ohne dass ein Laut aus ihren Mündern dringt (und wo ist ihr Bruder? Ist das nicht ein Freund von ihm aus Jesús Obrero?). Manche werden ohnmächtig. Ein paar starke Männer versuchen, die Gefallenen aufzuheben, doch die Schüsse pfeifen zu dicht an ihren Ohren vorbei, und sie fliehen mit eingezogenem Kopf. Wo entlang flüchten? Wieder denkt sie daran, sich tot zu stellen, bis alles vorbei ist. Die Schüsse wummern weiter, und das Geschrei schrillt unaufhörlich. Da sind blutdurchtränkte Hemden und Kinder, die in die Knie sacken und nicht wieder aufstehen. Und dann, mitten im Getümmel, eine Hand:

— Mariluz, hierher, los, komm!

Auch er hat nach ihrem Namen gefragt, hier und da. Sie müssen einander nicht vorgestellt werden, offiziell. Das wird nie geschehen. Seine Stimme. Und jetzt auch seine Hand. Ist sie gerettet? Der Mann weiß, wo sie langgehen, wo entlang sie fliehen können. Die Schüsse wummern weiter, und der Platz färbt sich allmählich rot. Sie springen über eine niedrige Mauer und entkommen.

Gehet hin in Frieden.

04 Wir sind also in Vitoria. Hier bin ich vor zwanzig und etlichen Jahren zur Welt gekommen. Hier habe ich fast zwanzig Jahre lang gelebt. Hier bin ich an den frühreifen Oktoberabenden zuerst zum Ballett-, später zum Klavierunterricht gegangen. Hier habe ich das Radfahren gelernt, und wie wichtig es ist, den Hals immer schön zu bedecken, wenn man das Haus verlässt. Hier wurde ich zum Milchkaffee-Fan. Hier habe ich mich allmählich zur Exzentrikerin entwickelt oder einfach begriffen, dass ich nie im Zentrum würde stehen können. Hier habe ich mein erstes Mal erlebt, gegen eine Tür gepresst: Und dieses Detail habe ich hervorgehoben, als ich dir die ganze Geschichte erzählte, dabei hätte ich vielleicht andere Aspekte betonen sollen. Von hier bin ich voller Ungeduld aufgebrochen, bin geflüchtet und unversehens dir begegnet, an einem Märzmorgen, gegen Ende des Winters.

Es ist drei Uhr nachmittags, als wir endlich das Haus meiner Mutter betreten. Einen Parkplatz zu finden war schwierig: Meine Überzeugung, dass das Parken im Sommer in dieser Stadt kein Problem wäre, ist offensichtlich veraltet. Beim Eintreten fällt mir als Erstes die Stelle auf, wo bis vor sechs Jahren das Klavier gestanden hat. Denn die leere Stelle an der Wohnzimmerwand gibt es immer noch. Ein befreiter Raum.

— Ich komme um vor Hunger, sagst du.

— Lass uns irgendwo zum Mittagstisch gehen.

— Es ist schon spät, ich gehe besser runter zum Supermarkt und besorge ein paar Kleinigkeiten. Ruh du dich aus.

Und so lässt du mich im Haus meiner Mutter allein. Hier stelle ich sie mir normalerweise vor, hier, auf diesem Sofa. Oder am Küchentisch, auf der Stuhlkante sitzend. Oder wie sie vom Balkon, falls der Regen und die Temperaturen es zulassen, auf den Río Batán schaut und dabei eine Mandarine schält, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, um mit mir zu sprechen. All diese Orte, an denen ich sie mir vorstelle, habe ich jetzt vor Augen, sie aber fehlt, ihre Stimme, ihr Körper. Ich gehe zu ihrem Schlafzimmer und schaue von der Tür aus hinein, traue mich nicht einzutreten. Über dem Kopfende des Bettes hängt ein Druck von Chagalls »Les mariés dans le ciel de Paris«, der den ganzen Raum beherrscht. Hier und da etwas Hippie-Kram, kaum mehr als Fossilien: An der Wand hängt ein Pashmina, ein paar bunte Kissen im Patchwork-Stil liegen herum, auf der Kommode steht ein Räucherstäbchenhalter aus Holz, ohne Reste von Räucherstäbchen. Ich schließe die Augen und meine, sie zu riechen. Genau wie mir der Geruch von Aldeburgh in den Sinn kommt. Der von der Nordsee kommende Wind mischt sich mit Möwenkacke. In Wirklichkeit ist es nicht leicht, in Wirklichkeit rieche ich gar nichts.

Etwas beschämt schließe ich die Tür und gehe in mein Zimmer. Mein Zimmer. Jetzt ist es voller Bücher, die nicht mir gehören, Bücher auf dem Boden, zu wackligen, schiefen Stapeln aufgetürmt. Bücher über reisende Frauen, Bücher übers Abnehmen, Biographien von Mata Hari und Mary Pickford. Neben dem Bett zwei Gedichtbände von mir unbekannten Autoren. Nur an den Wänden sind noch Spuren von mir geblieben, die Poster von damals: eine Ankündigung für das Konzert, das mein Chor unter der Schirmherrschaft des Instituto Cervantes in Moskau gegeben hat (viele durcheinandergewürfelte, umgedrehte Buchstaben), und ein anderes Poster, vom Instituto de la Mujer aus den achtziger Jahren: »Beschneide ihre Bildung nicht: Sie ist eine Frau des 21. Jahrhunderts.« Auf dem Foto ein Mädchen in einer Jeanslatzhose, die auf einer Obstkiste steht; vor einem Notenständer mit einer Partitur aus großen bunten Noten hält sie einen Stab in der Hand und tut fröhlich so, als dirigierte sie ein großes Orchester. Sie muss etwa sieben oder acht Jahre alt sein, ungefähr so alt, wie ich war, als meine Mutter mir dieses Plakat an die Wand hängte. Jetzt blickt mich das Poster ironisch an, mich, diese Frau des 21. Jahrhunderts, eines Jahrhunderts, in dem eine Frau, die ein Orchester leitet, nichts weiter ist als eine exotische Ausnahme. Wenn überhaupt.

Neugierig durchstöbere ich den Schrank (alte Mäntel und Geruch nach Mottenpulver), als ich die Wohnungstür aufgehen höre.

— In fünf Minuten ist das Essen fertig!, rufst du begeistert.

Ich antworte nicht, setze mich aufs Bett und teste die Matratze.

05 Bei dem, was je nach Blickwinkel unser erstes oder unser zweites Rendezvous sein könnte, gingen wir in ein Jazzkonzert. Du hast mich mitgenommen, nach Huertas. Es war ein Flamenco-Jazz-Konzert, mit Chano Domínguez am Klavier. Damals mochte ich Jazz nicht sonderlich und Flamenco überhaupt nicht. Aber du hast die wenigen Infos, die du über mich hattest, zusammengezählt und eine in jeder Hinsicht forcierte Schlussfolgerung gezogen: Du warst nämlich der Meinung, dass Jazz mir gefallen müsse, oder vielleicht gingst du einfach davon aus, dass du mich mit Jazz beeindrucken könntest. Jedenfalls hast du die Tickets gekauft und dir das ganze Konzert lang nichts anmerken lassen. Damals mochtest du Flamenco eher weniger und Jazz absolut gar nicht. Aber manchmal ist es halt so, perfekte Momente sind nur möglich, wenn wir uns trauen, die Grenzen, die uns von unserem Charakter her gesetzt sind, zu überschreiten. Die Vorsicht fällt von uns ab, je weiter wir uns auf unbekannte Wege vorwagen. Innerhalb der Grenzen unserer Persönlichkeit mögen wir angenehme, ruhige, ja sogar glückliche Momente genießen können. Aber keine perfekten. Denn perfekte Momente haben unweigerlich etwas Überraschendes an sich: Ist es nicht ausgesprochen sonderbar, wenn man keine Wünsche mehr hat, dieses unwirkliche Gefühl vollkommener Zufriedenheit? Zusammen haben wir den Jazz lieben gelernt, wie die Pawlow’schen Hunde, an einem Tischchen im Café Central. Dort, vor ein paar Gin Tonics, berührten sich unsere Knie zum ersten Mal, und du sahst mir in die Augen, während ich auf deine Zigaretten schielte. Ich dachte, Sängerinnen rauchen nicht. Einmal wird schon nichts machen, sag’s keinem weiter, ja? All das, während Chano Domínguez eine besonders langsame Version von »La Tarara« spielte.

Nehmen wir mal an, so war es. Wort für Wort.

Später dann, nachdem wir uns geoutet hatten, beschlossen wir, zum Spaß weiterzumachen. Wir kehrten oft ins Café Central zurück und probierten neue Sachen aus, die uns bis in die Sala Clamores an der Metrostation Bilbao brachten. Und genau wie die Mode mit den Gin Tonics sich weiter ausbreitete, genau so, wie wir mit neuer Coolness Cocktails mit Kardamom und Süßholz bestellten, genau wie wir streng diese oder jene Art von Tonic für diesen oder jenen Gin verlangten, auf genau dieselbe Art wurde unser Geschmack bei allem, was mit Jazz zusammenhing, immer raffinierter. Zum Spaß, aber voller Ernst. Wir verpassten kein Konzert. Wir fingen auch an, Platten zu kaufen. Lasen Rezensionen in Fachzeitschriften. Immer du und ich, ohne diese Vorliebe mit irgendwem zu teilen. Damit niemand sonst etwas davon mitbekam.

Und dieser Vorliebe frönen wir immer noch. Du hast mir viel beigebracht. Von Anfang an habe ich deine Fähigkeit bewundert, Liebhabereien zu kollektionieren. Im Allgemeinen ist die Tendenz eine andere: Es gibt Menschen, die viele Hobbies ausprobieren, ja sogar versuchen, ein paar davon leidenschaftlich zu verbinden. Aber nach einer gewissen Zeit geben die meisten fast alle dieser Hobbies wieder auf (die Ölfarben kommen in die Rumpelkammer, die Ski in den Second-Hand-Laden). Bestenfalls ist es, als ob der Geschmack nach einer Jugend voll trial and error nach und nach ausgefeilter wird und es nur noch Zeit und Lust für eine einzige Sache gibt: Ölfarben oder Ski, aber nie beides zusammen. Ich komme aus der Welt der Musik, einer manischen, in sich geschlossenen und selbstbezüglichen Welt, in der Musik das einzige Gesprächsthema ist, ebenso auch Tätigkeit, Nahrung, Leidenschaft, Ansporn. Und plötzlich lerne ich dich kennen, Gustavito, der du es liebst, viele Interessen gleichzeitig zu unterhalten, sie zu sammeln und zu praktizieren, und dabei einem für mich völlig neuartigen Phänomen folgst, das ich bei mir »Harmonische Polymanie« nenne.

So warst du mein Mentor und hast mir geholfen, diese neue Vorliebe auszubauen. Jazzmusik. Das ist nicht der Raum, der alle Elemente enthält, die A und B, also du und ich gemein haben, wie die Mengenlehre es behauptet. Sondern eher ein Raum, der aus unseren Kreisen herausgelöst ist, den wir beide miteinander geschaffen haben, und der uns hermetisch von allen anderen absondert.

Und der nennt sich in der Mengenlehre Ehe.

Dennoch herrscht im tiefsten Inneren unserer Herzen weiterhin unser wahres Wesen vor. Weiterhin hältst du an deiner Liebe zur Popmusik fest, und ich werde mich, komme was wolle, zur kulturellen Überlegenheit der klassischen Musik bekennen. Der Pop ist in meinen Augen wenig mehr als eine kindische Schnapsidee (Pop! Schon der Name sagt alles!), während die klassische Musik für dich ein schwülstiges Marmordenkmal ist, mit dem du nichts anzufangen weißt. Deshalb soll auf deiner Beerdigung einmal »Watching the Wheels« gespielt werden, der posthume Song von John Lennon. Ich hingegen werde dafür sorgen, dass jemand »Erbarme dich, mein Gott«, die schmerzvollste Arie aus der Matthäus-Passion singt. Nichts davon wird aus unseren Testamenten gestrichen werden. Wir werden uns wehren. Und selbst wenn wir bis zum Ende unserer Tage zusammenbleiben, werden wir zur letzten Party weder Esperanza Spaldings Kontrabass einladen, noch Lorraine Feathers Scat und Vocalese und erst recht nicht Brad Mehldaus Klavier. Nach dem letzten Atemzug werden wir zum Ursprung zurückkehren.

Auch wenn wir momentan noch leben und den Jazz haben.

06 Gustavo, ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber wenn du in Madrid in einen Supermarkt gehst, kaufst du Milch, Eier, Müsli der Hausmarke und Coca-Cola. Doch wenn du hier in la Patria in einen gehst, hast du nur Augen für die Delikatessen. Falls das Ministerium für Handel und Tourismus der baskischen Regierung je einen lebenden Beweis für den Erfolg seiner Werbekampagnen braucht, dann bist du das, Gustavito, komm her und iss es.

— Ich wollte einen Weißwein besorgen und hatte an einen Txakoli gedacht, aber schließlich bin ich auf den hier gestoßen. Der Korken ploppt genau im passenden Moment. — Ein weißer Rioja, von denen gab es jede Menge, deshalb habe ich den teuersten genommen, hier, probier mal, wie findest du den? Zu Hause wäre ich, ehrlich gesagt, nie auf die Idee gekommen, ein weißer Rioja? Wozu denn? Aber ich weiß nicht, ich hatte so eine Eingebung. Wie ist er? Remelluri Blanco heißt der, wenn du sagst, er ist gut, schreibe ich mir das auf.

— Er ist hervorragend.

— Zum Glück, das waren dreißig Euro.

— Gustavo!

— Um den Ferienanfang zu feiern, chica!

— Du kannst dich nicht beherrschen und das nennst du dann eine Eingebung!

Danach schaue ich mir den Rest der Leckereien an, die Gustavo auf dem Küchentisch ausgebreitet hat, und ich habe keinen Zweifel daran, dass sie ihm einen roten Teppich ausgerollt haben, als er den Supermarkt verließ. Ventresca de Bonito del Norte, Bauchfleisch vom weißen Thunfisch in Olivenöl, Käsespezialitäten aus Idiazábal und Roncal, Paprika aus Ibarra und als Einziges, was kein Eusko-Label trägt: norwegischer Räucherlachs mit seinem unzertrennlichen Begleiter, dem Dijon-Senf.

— Was ist denn? Das sind doch nur ein paar Häppchen, mach doch nicht so einen Wirbel. Um den Ferienanfang zu feiern.

Wir konzentrieren uns also aufs Essen. Du, wie üblich ganz erfüllt von deinem Gourmet-Geist. Ich stelle mir dich in acht oder zehn Jahren vor, dann rundlicher, eigentlich schon dick. Deine Haare halten momentan noch durch, aber gegen die Fettansammlung im Bauchbereich wirst du mittelfristig nicht viel tun können. Über dem Gürtel ist schon ein bisschen was zu sehen. Du wirst ein glücklicher Dicker sein, einer von der alten Schule. Einer von denen, der das Abendessen vom Vortag nochmal Gang für Gang mit seinen Freunden durchkaut – seinen dicken Freunden –, während ihm der Saft eines guten Koteletts am Kinn herunterläuft. Einer von denen, die jede Menge vino de autor trinken, mit dem Argument, der sei viel leichter als ein normaler Wein. Oder der das Schnäpschen nach dem üppigen Festmahl nur deshalb nimmt, weil es verdauungsfördernd ist. Und dann, vielleicht mitten bei einem Bankett, oder in einem beliebigen anderen Moment: akuter Herzinfarkt, kaum das Erschauern eines Blattes, ein freundliches und feinsinniges Ende. Du wirst zu Boden stürzen, lang wie du bist. Oder vielleicht auch in meinen Armen sterben. La pietà. Ich werde da sein.

Kurz gesagt, ich bin unfähig, mich in den Freuden dieser Welt zu verlieren. Die Natur hat mir diese verquere Vorstellungskraft geschenkt, dieses Murphy-Neuron, die Gabe der Schwarzmalerei. Wo du Pata-Negra-Schinken siehst, sehe ich nur Cholesterin. Du, Gran Reserva; ich, Leberzirrhose, oder zumindest einen Mordskater, wenn ich meinen optimistischen Tag habe. Und deshalb wäre es mir auch lieb, wenn ich nur an eines denken könnte, während du mich nach unserem ersten Ferienessen stolpernd, strauchelnd, gegen die Wand prallend, mit vielen Ohs und Achs in mein Zimmer schiebst, an eine einzige Sache, während ich dich beiße, zwicke, ziehe, lecke. Nur an eines oder besser noch an gar nichts, wenn ich meine Haut vergessend mich ganz in deiner verlieren dürfte. Worte flüstern, ohne vorher darüber nachzudenken. Aber ich kann nicht. Im Flur, im Bett, auf dem Stuhl, wo ich das Periodensystem auswendig gelernt habe – ständig dieses Rumoren. Die strengen Grenzen meines düsteren Charakters.

₺666,05

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
232 s. 5 illüstrasyon
ISBN:
9783949558085
Tercüman:
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 3,8, 57 oylamaya göre
Ses
Ortalama puan 4,2, 761 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 4,7, 392 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 4,9, 156 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 4,8, 35 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre