Kitabı oku: «Die Säulen der Dummheit (E-Book)», sayfa 2

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02 Weil wir uns auf eigene Erfahrungen verlassen

Human beings, who are almost unique

in having the ability to learn from the experience

of others, are also remarkable for their

apparent disinclination to do so.

Douglas Adams

Die Menschen, fast einzigartig darin,

aus den Erfahrungen anderer lernen zu können,

sind überdies bemerkenswert für ihre deutliche

Abneigung dagegen, das auch zu tun.

Douglas Adams

Selbst ausprobiert!

Frauen in die Aufsichtsräte! Wie stehen Sie dazu? Wenn Sie eine Frau sind, beantworten Sie die Fragen 1 bis 3. Wenn Sie ein Mann sind, beantworten Sie die Fragen 1, 4 und 5.

1. Wie stehen Sie zur Forderung nach mehr Frauen in deutschen Aufsichtsräten?

Find ich nicht gut 1—2—3—4—5—6—7 Find ich sehr gut


Fragen für Frauen Fragen für Männer
2. Als Frau haben Sie dazu sicher wertvolle Erfahrungen gemacht, die ein Mann einfach nicht haben kann. 4. Frauen haben dazu sicher wertvolle Erfahrungen gemacht, die ein Mann einfach nicht haben kann.
Wie sehr trifft das auf Sie zu? Wie sehr trifft das auf Frauen zu?
Gar nicht 1—2—3—4—5—6—7 Sehr Gar nicht 1—2—3—4—5—6—7 Sehr
3. Andererseits könnten Sie als Frau bei dem Thema auch voreingenommen sein und es wäre schwer für Sie, fair zu sein. 5. Andererseits könnten Frauen bei dem Thema auch voreingenommen sein und es wäre schwer für sie, fair zu sein.
Wie sehr trifft das auf Sie zu? Wie sehr trifft das auf Frauen zu?
Gar nicht 1—2—3—4—5—6—7 Sehr Gar nicht 1—2—3—4—5—6—7 Sehr

Natürlich weiß ich nicht, wie hier jeweils geantwortet wurde. Dennoch wage ich eine Diagnose. Sie heißt «Blind Spot Bias»02-01 für Fragen 2 bis 5. Die Symptome? Man überschätzt die Vorteile eigener Erfahrungen und unterschätzt gleichzeitig ihre Nachteile. «Ja, meine Erfahrungen sind wirklich wesentlich!» Und: «Nein, ich bin doch nicht parteiisch!» Mein Tipp: Der Mittelwert für die Antworten dürfte also bei Frage 2 höher liegen als bei Frage 4 und bei Frage 3 niedriger als bei Frage 5.

Wo nun der wahre Wert einer Erfahrung liegt, lässt sich so nicht ermitteln. Allerdings ist klar, dass es eine große Abweichung zwischen Selbstbild (ich) und Fremdbild (die) gibt. Dem «Meine Erfahrungen sind wertvoll!» steht ein «Sie sind voreingenommen!» gegenüber. Deshalb müssen wir uns wahrscheinlich auch noch gedulden, wenn es um einen ausgewogenen Anteil an Frauen in den Aufsichtsräten geht.

Darf ich vorstellen? Suzanna Hupp & Leslie Ervin

Suzanna Hupp ist eine US-Amerikanerin, die gelernt hat, mit einer Waffe umzugehen. Sie tritt vehement für das Recht auf Selbstverteidigung ein. Vor allem, nachdem sie ihre Eltern bei einer Schießerei in einem Restaurant verloren hat. Suzanna war mit ihren Eltern dort. In ihrer Handtasche hatte sie manchmal auch ihre Waffe versteckt. Ein Freund sagte zu ihr: Als alleinstehende Frau in einer großen Stadt musst du die Waffe immer bei dir haben. Hatte Suzanna aber damals nicht. Weil es verboten war. Sie wollte nicht damit erwischt werden und ihre berufliche Existenz gefährden. Nun lag Suzanna mit den anderen Gästen auf dem Boden des Restaurants, in dem auf wehrlose Menschen geschossen wurde. Sie hätte den Verrückten vielleicht mit ihrer Waffe stoppen können. Doch die Waffe war, wie das Gesetz es verlangte, nicht bei ihr. Suzanna macht dieses Gesetz für den Tod ihrer Eltern mitverantwortlich.02-02 23 Menschen verloren ihr Leben, bevor der Schütze sich selbst tötete. Eigene Erfahrungen haben Suzanna überzeugt, dass strikte Waffengesetze die Kriminalität steigern. Schließlich können sich rechtschaffene Bürger dann nicht wehren und ihre Lieben beschützen. Ihre eigenen Erfahrungen können es bezeugen.

Leslie Ervin02-03 ist eine US-Amerikanerin, die auch Schlimmes durchgemacht hat. Sie tritt daher für striktere Waffengesetze ein. Sie hat ihren Mann verloren. Der gemeinsame Sohn hat ihn im Wahn umgebracht. «Weg da. Ich arbeite für die CIA. Dieser Mann ist ein Hochstapler. Er will die Familie töten und ich bin hier, um euch zu beschützen!», herrschte er seine kleineren Geschwister an. Leslies Sohn hatte Asperger, litt unter Schizophrenie und mochte Waffen. Therapien mochte er nicht. Er hat sich ein Waffenarsenal angelegt. Als Volljähriger, obwohl psychisch labil, durfte er sich Waffen kaufen. Und Therapien verweigern. Der Vater, ein Anwalt, wusste, dass rechtlich nichts unternommen werden konnte. Die Eltern sahen ein Unglück kommen, aber ihnen waren die Hände gebunden. Auch die Polizei konnte nichts tun. Als Leslie eines Abends das Haus verließ, erstach der Junge seinen Vater und hinderte die Geschwister daran, dem Verblutenden zu helfen. Unzurechnungsfähig lebt er jetzt in einem Krankenhaus, wo ihm geholfen wird. Leslie macht fehlende Gesetze für den Tod ihres Mannes mitverantwortlich. Eigene Erfahrungen haben Leslie überzeugt, dass strikte Waffengesetze die Kriminalität senken. Schließlich ist es für labile Menschen viel zu einfach, Waffen zu bekommen. Ihre eigenen Erfahrungen können es bezeugen.

Was steckt dahinter?

Vertrauen Sie Ihren Erfahrungen? Natürlich vertrauen Sie Ihren Erfahrungen. Alle Menschen vertrauen ihren Erfahrungen. Doch wir alle haben unterschiedliche gemacht. Und das ist gut so. Ein neunjähriges Mädchen steht mitten auf einem Platz und schreit alles zusammen, weil es gestolpert ist. Es lässt sich nicht von der Mutter und anderen herbeigeeilten Erwachsenen beruhigen. Dabei sieht niemand auch nur eine Schramme. So ein Verhalten ist heutzutage für ein Mädchen sinnvoll. Das arme Kind bekommt dadurch besonders viel Aufmerksamkeit und Mitgefühl. Und auch noch eine Cola. Oder ein Eis. Wenn es nur aufhört, alles zusammenzuschreien. Das Mädel hat sicher in seinem Leben die Erfahrung gemacht: Heulen hilft und Übertreiben schadet nicht. Ein neunjähriges Mädchen in Aleppo, aufgewachsen im Streubombenhagel russischer Flieger, hat sicherlich andere Erfahrungen gemacht. Alles zusammen schreien wird für das Mädchen nach einem Stolperer nicht zielführend gewesen sein. Wie war das bei Ihnen, als Sie neun Jahre alt waren? Wäre es gut gewesen ganz besonders laut, mit weit aufgerissenem Mund zu heulen, wenn etwas nicht nach Plan geht? Oder wäre das nach hinten losgegangen? Hätte es vielleicht sogar eine Backpfeife gegeben, «damit du weißt, warum du heulst!»?

Menschenkinder kommen ziemlich hilflos auf die Welt. Es gibt fast nichts, was wir gleich nach der Geburt können. Weder sitzen noch laufen, weder verstehen noch sprechen, nach der Geburt können wir noch nicht mal richtig gucken. Aber die Natur hat uns etwas sehr Wertvolles mitgegeben: die Fähigkeit, aus eigenen Erfahrungen abzuleiten, was man tun und lassen sollte. So sind wir in der Lage, genau das zu lernen, was zu jedem und jeder Einzelnen von uns in seiner ganz konkreten Umgebung richtig gut passt. Und wir sind bestens gerüstet für das, was kommt. Wir haben unsere Erfahrungen gespeichert.

Was ist das eigentlich, eine Erfahrung? Douglas Adams meinte: «Eine Lernerfahrung ist eines dieser Dinge, die sagen: ‹Du weißt, was du gerade getan hast? Tu das nie wieder!›».02-04 Das ist vielleicht ein wenig einseitig. Schließlich machen wir auch allerhand gute Erfahrungen. Eine Erfahrung ist allgemein ein Trio, bestehend aus einer Situation, der eigenen Reaktion darauf und einem bemerkenswerten Ergebnis. Damit ist eine Erfahrung so etwas wie eine Formel. Eine einfache Addition: Situation + Reaktion = Ergebnis. Das Ergebnis bewerten wir entweder als so gut oder so schlecht, dass wir uns das Ganze als Erfahrung merken. Sie wird in die große Formelsammlung unseres Lebens aufgenommen. In der Formelsammlung des gestolperten Mädchens steht vermutlich das Folgende:


In anderer Leute Formelsammlungen stehen andere Erfahrungen, vielleicht trotz ähnlicher Situationen und Reaktionen.


Unsere Erfahrungen sind wertvoll. Keine Frage. Oft sind sie allerdings sehr einseitig. Vielfach sind unsere Erfahrungen nur passend für einen kleinen Kreis an Menschen, die unter ähnlichen, nämlich unseren Bedingungen leben. Wir und die anderen in unserer Blase betasten wie Blinde den Rüssel eines Elefanten und bestehen darauf, dass der Elefant wie eine Schlange ist. Aber ein Elefant ist nicht nur wie eine Schlange. Doch bevor wir nicht die anderen Erfahrungen gemacht haben, kennen wir den ganzen Elefanten nicht und können ziemlich dumm und ignorant rüberkommen. Arthur Schopenhauer meinte: «Die eigene Erfahrung hat den Vorteil völliger Gewissheit.» «Oder den Nachteil», möchte man ergänzen.


©Khoon Lay Gan/Alamy

Es ist dumm, mit zu wenig Erfahrung einen Elefanten oder irgendetwas anderes zu beurteilen. Es ist aber noch dümmer, deshalb Leuten mit andersartigen Erfahrungen Dummheit vorzuwerfen. Vielleicht sind sie dumm. Vielleicht haben sie aber auch einen Punkt. Doch das wird nie wissen, wer sie sofort als dumm abkanzelt.

Übrigens: Erfahrungen in unserem Gedächtnis

Manche Erfahrungen verblassen nicht. Es fühlt sich an, als hätten sie sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Suzanna Hupps Erfahrung, auf dem Boden zu liegen im Restaurant mit dem Todesschützen vor ihr, das ist so eine eingebrannte Erfahrung. Auch der Telefonanruf «Lex hat Papa erstochen! Komm schnell nach Hause!», den Leslie Ervin bekam, ist so eine. Alle unseren bedeutsamen Erlebnissen kommen in das sogenannte episodische Gedächtnis. Die üblen wie die prächtigen. In bedeutsamen Momenten wird im Gedächtnis eine Art Aufnahmetaste gedrückt, alles abgespeichert und dann sicher verwahrt.

Aber nicht alle Erfahrungen sind so. Die «Aufnahmetaste» gibt es nicht und sie wäre ein völlig falsches Modell für die anderen Gedächtnisarten. Fast jeder kann ein Frühstücksei köpfen oder eine Kartoffel schälen. Viele von uns haben die entsprechenden Erfahrungen gemacht. Wir wissen gekonnt mit Ei und Kartoffel umzugehen. Aber diese Erfahrungen, im sogenannten prozeduralen Gedächtnis gespeichert, brauchten einiges an Übung. Und Übung. Und Übung. Nicht sofort klappte es mit der nötigen Fingerfertigkeit. Ein weiterer Unterschied: Wir erinnern uns nicht an viele dieser einzelnen geköpften Frühstückseier und geschälten Kartoffeln. Sie verschwimmen zu einem Ei- und zu einem Kartoffelschema.

Dass China als der weltweit größte Kartoffelproduzent und die Niederlande als größter Kartoffelexporteur gilt, ist (wenn wir es denn wissen) Teil des sogenannten semantischen Gedächtnisses. Dort ist auch angesiedelt, dass es die Proteine sind, die sich im Eiklar anders anordnen und damit ab 85 Grad das Eiweiß hart werden lassen. Unwiderruflich. Mit Erfahrungen hat das eher wenig zu tun. Was ins semantische Gedächtnis reinkommt, kommt rein durch Auswendiglernen, Wiederholungen oder Eselsbrücken. Und dann vergessen wir es doch wieder. Oder wer bekommt noch den Zitronensäurezyklus aus dem Bio-Unterricht zusammen?

Wir machen Erfahrungen. Aber es gilt genauso: Die Erfahrungen machen uns. Sie verändern unsere Gehirne. Was wir erleben, und besonders auch das, womit wir unsere Wochen, Monate und Jahre füllen, verändert unser Gehirn. Beispiel gefällig? Versuchspersonen übten fünf Tage lang für zwei Stunden täglich am Klavier eine Tastenfolge. Dadurch vergrößerten sie die Gehirnregion, die für ihre Finger zuständig ist. Wer anschließend nicht weiterübte, verlor diese Vergrößerung aber wieder innerhalb einer Woche. Noch mehr Beispiele? Bei Londoner Taxifahrern, die sich tagtäglich in der Millionenstadt ohne Navi zurechtzufinden, fand man die Gehirnregion vergrößert, die für räumliche Orientierung zuständig ist. Bei jungen Erwachsenen, die über drei Monate hinweg Jonglieren übten, vergrößerten sich die Gehirnregionen, die für die Auge-Hand-Koordination zuständig sind. Junge Erwachsene, die fünf Tage lang ihre Augen verbundenen hatten und Braille-Schrift übten, begannen vorübergehend den Teil des Gehirns für das Tasten zu nutzen, der normalerweise für das Sehen zuständig ist. Und schließlich: Jungen Erwachsenen wurden die Finger einer Hand betäubt. In den nachfolgenden drei Stunden schrumpften die Gehirnregionen, die für ihre Tastempfindungen an diesen Fingern zuständig waren. Gleichzeitig wurde ihre Tastempfindung im Gesicht besser. Die „arbeitslosen“ Nervenzellen hatten sich einen neuen Job gesucht.

Nancy, ihre Erfahrungen und das Klima ihrer Heimatstadt

Über Nancy gibt es verschiedene Geschichten zu erzählen. Hier sind vier:


1. Nancy schwimmt gerne. Sie wollte zum Schwimmbad, hat sich aber verlaufen. Nancy hat dann einen alten Mann, der am Bus wartete, nach dem Weg gefragt. Doch der alte Mann konnte ihr nicht helfen. Aber als der Bus kam, hat er den Fahrer gefragt. Der Fahrer hat Nancy den Weg erklärt. So kam Nancy dann doch noch zum Schwimmbad. 2. Eines Morgens war Nancys Wecker kaputt und sie hat verschlafen. Als sie aufwachte, merkte sie, dass es spät war und sie eine wichtige Vorlesung verpasst. Nancy hat sich so schnell wie möglich angezogen, hat das Haus verlassen und ist zur Vorlesung gerannt. Als sie ankam, war niemand mehr da. Sie hatte die gesamte Vorlesung verpasst.
3. Nancy hat ein Verhältnis mit ihrem Professor, der verheiratet ist. Jetzt ist sie schwanger von ihm. Er hatte versprochen, seine Frau für sie zu verlassen. Aber seit sie schwanger ist, will er nichts mehr von ihr wissen. Nancy hat der Frau des Professors von dem Verhältnis erzählt. Die war am Boden zerstört und hat ihren Mann verlassen. 4. Das Klima in Nancys Heimatstadt ist im Sommer trocken und heiß. Der Boden trocknet aus und die Pflanzen verdorren. Die trockene Vegetation fängt schnell Feuer und es gibt oft Waldbrände. Diese Waldbrände sind dafür verantwortlich, dass sehr viel CO2 in die Atmosphäre gelangt. Das trägt zur globalen Erderwärmung bei.

Diese vier Geschichten sind Teil einer Studie02-05, die herausfinden wollte, welche Art von Information sich wie weit und wie genau verbreitet. Die Versuchspersonen spielten dafür so etwas wie Stille Post: Einer las eine der Geschichten und erzählte sie dem Zweiten. Der Zweite erzählte sie dem Dritten. Der Dritte erzählte sie dem Vierten. Wer schon mal Stille Post gespielt hat, weiß, da kommt am Ende nicht mehr viel an. Aber die Geschichten unterschieden sich in dieser Hinsicht. Besonders viel verloren ging auf dem Weg der Geschichte Nr. 4. Über das Klima in Nancys Heimatstadt hat die vierte Person im Durchschnitt kaum noch etwas aus der Originalgeschichte erfahren. Die staubtrockene Geschichte vom staubtrockenen Klima schmiert ab. Besonders gut überstand die Geschichte Nr. 3 die Weitergabe. Über Nancys Affäre und die Folgen hat die vierte Person noch immerhin ein Drittel korrekte Aussagen aus der Originalgeschichte erhalten. Klatsch und Tratsch, die schlimmen Erfahrungen von uns mit anderen Menschen, werden am weitesten und genausten verbreitet.

Sie vertrauen Ihren Erfahrungen. Vertrauen Sie auch den Erfahrungen von anderen? Egal, Sie hören jedenfalls eine Menge davon. Wenn wir uns mit anderen treffen, reden wir vor allem über persönliche Beziehungen und Erlebnisse, also über soziale Erfahrungen.02-06

Übrigens: «Unpassende» Erfahrungen

Erfahrungen lassen uns im Autopilot-Modus das Leben meistern. Wir kennen die Situationen, auf die wir treffen. Wir wissen, wie wir darauf reagieren können. Wir verstehen, mit welchem Ergebnis wir zu rechnen haben. Nachdenken nicht nötig. Aufmerksamkeit auch kaum. Manchmal passiert es allerdings, dass etwas nicht stimmt. In der Formelsammlung steht ein Duo aus Situation und Reaktion, das aber überraschenderweise nicht zum angegebenen Ergebnis führt. Der Autopilot springt sofort auf AUS. Und wir fragen uns, was ist denn jetzt los?

Schlanke Frauen erleben das gegen Ende ihrer Schwangerschaft. So manches geht aufgrund der Körperfülle nicht mehr. Es ist passé, sich im Supermarkt an einer engen Stelle zwischen Regal und einsamen Einkaufswagen wie immer seitwärts vorbeizudrücken. Wer es trotzdem versucht, erlebt eine von diesen unpassenden Erfahrungen.

Paula Williams02-07 hat eine Fülle unpassender Erfahrungen in ihrer Formelsammlung. Gesammelt hatte sie diese Erfahrungen 60 Jahre lang als Paul, ein erfolgreicher Geschäftsmann. Wenn Paul in einem Businessmeeting ärgerlich geworden ist, galt das als Zeichen seiner Leidenschaft für das Thema. Wenn Paula dasselbe tut, gilt sie nun als hysterisch. Man nimmt sie beiseite und erklärt ihr, dass sie viel zu emotional sei. Auch bei Gesprächen mit Unbekannten muss Paula nun ihre alten unpassenden Erfahrungen gegen neue tauschen: Ständig wird sie von Männern unterbrochen und behandelt, als wisse sie nicht, wovon sie spreche. Diese Dinge standen nicht in ihrer alten Formelsammlung.

Auch Günter Wallraff machte neue Erfahrungen, als er sich in der Bundesrepublik der 90er Jahre als Türke Ali verkleidete.02-08 Saß er als Ali im überfüllten Bus, setzte sich niemand auf den leeren Platz neben ihm. In Restaurants und Kneipen wurde er als Ali geflissentlich übersehen. Beim politischen Aschermittwoch der CSU gelang es ihm nicht, ein Bier zu bestellen. Die Bedienung ignorierte ihn und beim Ausschank hieß es zu Ali: «Geh, schleich dich, aber hurtig!» Nichts davon war ihm zuvor als blauäugigem Deutschen passiert. Seine alten deutschen Erfahrungen passten so gar nicht zu seinem Leben als Türke.

Darf ich vorstellen? Günter Wallraff

Günter Wallraff hat in seinem Bestseller «Ganz unten» das Leben von Türken in der Bundesrepublik beschrieben. Für das Buch präparierte er eine alte Aktentasche mit einer Videokamera und schlüpfte in die Rolle des Türken Ali, mit dunkler Perücke, dunklem Schnauzer und dunklen Kontaktlinsen. Das hätte er einfacher haben können. Vom Sessel aus. Ganz ohne die eigene Gesundheit zu untergraben. Seine Beobachtungen und Befragungen hätte er zusammenfassen können zu «Türkische Arbeiter werden ausgenutzt». Die Aussage wäre in beiden Fällen dieselbe. Aber wie viel mächtiger ist die Erfahrung, die der Leser und die Leserin zusammen mit Ali im Buch durchleben können.

Als Ali bei einer Bäuerin täglich zehn Stunden nur für Kost und Logis arbeitet: Wobei die Logis nicht etwa ein freies, warmes Zimmer in ihrem Haus war, sondern eine Baustelle ohne Tür mit einem Plastikeimer als Toilette.

Als Ali ohne Schutzmaske bei Thyssen mit Pressluftgebläsen die Staubschichten auf den Maschinen und in den Ritzen aufwirbeln und dann in Plastiksäcke schaufeln muss: Der Staub war so dicht, dass Ali und seine Kollegen die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnten. So dicht, dass sie den Staub nicht nur einatmeten, sondern auch schluckten, daran würgten. «Beeilung!», rief der Vorarbeiter wie ein Aufseher eines Sträflingskommandos. «Dann seid ihr in zwei, drei Stunden fertig und dürft wieder an die frische Luft.» Nach einer halben Stunde kam der Sicherheitsbeauftragte. Monteure hätten sich beschwert. In dem Dreck könnten sie nicht mehr arbeiten. Der Sicherheitsbeauftragte meint dazu: «Macht gefälligst mal schnell, dass ihr damit fertig werdet.»

Als Ali und sein Kollege Osman beim Chef der Leihfirma im noblen Vorort sind: Für die Arbeiten bei Thyssen haben Ali und Osman seit Wochen kein Geld bekommen. Osman gibt auf und will zurück in die Türkei. Vorher wollte er sein Geld abholen. Zum vereinbarten Termin war der Chef nicht da. An Osmans letztem Abend versucht er noch einmal, begleitet von Ali, sein Geld zu bekommen. Beide werden nach kurzen Diskussionen rausgeschmissen. «Raus jetzt, ihr lästigen Kerle.» Draußen auf der Straße treten Osman Tränen in die Augen: «Der hat mich um mein Geld betrogen. Jetzt bin ich für immer in der Türkei und kann nichts mehr machen.»

Türkische Arbeiter wurden in der Bundesrepublik ausgenutzt. Wallraff hat das in seinem Buch gezeigt. Dadurch, dass wir als Ali bei der Bäuerin einen Eimer als Toilette nutzen mussten. Dass wir bei Thyssen mit Ali ohne Atemmasken giftigen Schwermetallstaub einatmeten und daran würgten. Dass uns mit Osman und Ali das Geld für die schwere und gefährliche Arbeit verweigert wurde.

Man wird sich einer Situation erst bewusst, wenn man sie durchlebt hat. Die Situation der türkischen Arbeiter kann man im Buch zusammen mit Ali erleben. Zwar meinte Fjodor Dostojewski: «Niemals lässt sich aus Büchern lernen, was man nicht mit eigenen Augen sieht.» Aber Wallraff hat seine Leser Alis Erfahrungen mit eigenen Augen sehen lassen.

Was kann man dagegen tun?

Wir alle machen unterschiedliche Erfahrungen. Und manchmal fehlen uns wichtige. Manchmal lässt uns so ein Mangel an Erfahrungen dumm aussehen. Was können wir tun, damit uns das nicht so oft passiert? Wir könnten unsere Erfahrungen erweitern.

Wir könnten versuchen, die Punkte der anderen, die ganz offensichtlich nicht unsere Meinung teilen, zu verstehen. Wir könnten versuchen, an ihren Erfahrungen teilzuhaben. Wir könnten mit dem Blinden neben uns, der im Elefanten einen Teppich sieht, ins Gespräch kommen. Oder Erfahrungsberichte über den Elefanten als Baumstamm lesen. Einen Podcast hören, in dem es um das Speerhafte im Elefanten geht. Ohnehin sollten wir unsere Hauptinformationsquelle genauer unter die Lupe nehmen: Geht es dort um eine balancierte Darstellung verschiedener Seiten? Geht es um Polemik und Meinungsmache? Oder geht es um nichts, außer um Klicks?

Doch nicht jeder Mangel an Erfahrung lässt sich leicht durch die Erfahrungen anderer Leute ausgleichen. Besonders in der Wissenschaft sind erlebte Erfahrungen oft Mangelware. Klimawandel ist nur langfristig erfahrbar und vom zufälligen Wetter überlagert. Kein Wunder, dass mancher Spaßvogel meint: «Klimaerwärmung?! So kalt wie es heute ist?» Quantenphysik ist kontraintuitiv und unsichtbar klein. Nachvollziehbar, dass Esoteriker sie gern als Erklärung des Unerklärlichen anführen. Und als wäre die Unerlebbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse noch nicht schlimm genug, sie sind in fast allen Fachrichtungen meist mit vielen Einschränkungen versehen, bilden «nur» den letzten Stand des Irrtums ab und sind oft furchtbar abstrakt. Erfahrungen, zumal selbst erlebte, versteht jeder. Bei komplizierten Formeln und bei Kurven in Koordinatensystemen ist das nicht immer der Fall.

Wie war das noch mit dem Zitronensäurezyklus und dem Klima in Nancys Heimatstadt? Aber das mit dem Prof wissen Sie noch, oder? Abstrakte wissenschaftliche Erkenntnisse haben es gegenüber am eigenen Leib gemachten Erfahrungen schwer. Wissenschaftsjournalisten versuchen deshalb, wenn immer es geht, auch die persönliche Perspektive betroffener Menschen zu schildern.

Kurz gesagt

•Erfahrungen sind wertvoll. Im Alltag greifen wir darauf zurück und fliegen damit quasi per Autopilot durchs Leben.

•Wenn sich unsere Umwelt ändert oder wir uns, passen manche Erfahrungen nicht mehr.

•Jeder und jede macht ihre eigenen Erfahrungen. Kein Wunder, dass es nicht dieselben sind.

•Wenn wir uns über Sachverhalte in die Haare kriegen, liegt das oft daran, dass wir verschiedene Erfahrungen dazu gemacht haben.

•Wer viele verschiedene Erfahrungen machen konnte, gilt selten als dumm und bezeichnet auch andere nicht so.

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