Kitabı oku: «REBELLION DER GEFÜHLE»
Kerstin von Schuckmann
REBELLION DER GEFÜHLE
Mallorca-Krimi
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Inhaltsverzeichnis
Titel
TAG EINS
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TAG ZWANZIG
EPILOG
DAS BUCH / DIE AUTORIN
IMPRESSUM
BISHERIGE VERÖFFENTLICHUNGEN
Impressum neobooks
TAG EINS
Kommissar Rafael Lopez betrachtete den aufgedunsenen Körper. Die neben einer Yacht mit einem Anker versenkte männliche Leiche wurde soeben von Tauchern der Einsatztruppe des Kommissariats Palma de Mallorca aus dem mit Neptungras bewachsenen Meeresboden geborgen. In den verfilzten, braunen, und vertrockneten Neptungraskugeln an Land, die den Strand hingegen wie einen Teppich bedeckten, lag eine strahlend weiße Kappe mit der Aufschrift „Luxury“. Unter dem Schriftzug war die Abbildung eines größeren Schiffes. Beim Aufheben der Kappe entdeckte die Spurensicherung darunter eine mallorquinische „Siurell“, einen kleinen, weißen, mit roten und grünen Strichen bemalten Menschen, geformt aus Ton. Eine modellierte Kapitänsmütze zierte ihren Kopf.
„Siurells können als laute Pfeife genutzt werden. Sie verkörpern angeblich eine mystische Verbindung von Mensch und Natur.“
Lopez schaute Kommissar Antonio Díaz tief in die Augen.
„Glauben Sie etwa, dass ich als Mallorquiner nicht weiß, was diese kleine Tonfigur zu bedeuten hat?“
Lopez hustete. Er wusste, dass er weniger rauchen sollte, da seine körperliche Kondition darunter litt. Hinzu kam in der letzten Zeit der psychische Druck noch mehr Leistung bringen zu müssen. Junge, geltungssüchtige und ehrgeizige Kollegen standen bereits als interne Konkurrenten in den Startlöchern. Beide Fakten sorgten dafür, dass seine durch Feingefühl, Ruhe und Humor geprägte Wesensart darunter litt.
„Rafael, ist Ihnen auf der Fahrt hierher nicht das im Hafen von Palma liegende riesige Kreuzfahrtschiff aufgefallen?“
Lopez schüttelte den Kopf.
„Auf dem Weg zum Tatort besteht meine Priorität sicherlich nicht in der Begutachtung der sich im Hafen befindenden Schiffe.“
Der Kollege der Spurensicherung legte die Kappe zurück auf ihren alten Platz und fotografierte sie erneut.
„Bereits ein kurzer Blick auf den Kreuzfahrthafen hätte Ihnen jetzt schon geholfen.“
Lopez schaute ihn irritiert an.
„Luxury heißt auch das sich zurzeit größte im dortigen Hafen befindende Kreuzfahrtschiff.“
„Ist das nicht sehr weit hergeholt?“
Lopez war skeptisch. Die kontaktierte Hafenbehörde bestätigte ihm, dass das größte zurzeit ankernde Schiff die „Luxury“ unter Leitung des ersten Kapitäns, Wolfgang Sturm war. Lopez zog seine Handschuhe an und hob die Mütze erneut auf. Beim Umdrehen entdeckte er im inneren Rand die in blau eingestickten Initialen „WS“. Trotzdem googelte er noch immer skeptisch in seinem Handy.
„Sie haben recht, Antonio. Der Schriftzug des Wortes und das abgebildete Schiff stimmen mit dem Logo des Schiffes überein. Die Initialen passen zu seinem Namen und schauen Sie…“ Lopez hielt seinem Kollegen das Handy vor sein Gesicht. „Das Crew-Foto des Kapitäns zeigt, dass es sich bei der Leiche mit etwas Fantasie um ihn handelt. Respekt! Durch Ihren Hinweis konnten wir innerhalb kürzester Zeit seine Identität feststellen.“
Lopez sah trotz allem ungeduldig, wie die Spurensicherung, die in circa einhundert Metern Entfernung im Seegras ankernde Yacht nach Indizien untersuchte. Er beschloss zunächst, den ersten Offizier zu informieren, und dann gemeinsam zum Kreuzfahrthafen von Palma zu fahren.
Die „Luxury“ lag an der Westmole der Pier „Dique del Oeste“, einem der vier Sektoren. Der informierte erste Offizier Holm wartete bereits an der Gangway und bat Lopez und Díaz in seine Kabine zu kommen.
„Wie Sie bereits wissen, ist Ihr Kollege Kapitän Sturm, heute ermordet im Seegras von Sa Rapita, in Mallorcas Süden aufgefunden worden. Er muss dort bereits über Nacht gelegen haben. Der Mörder hat ihn mit einem Anker im Seegras versenkt. Wo waren Sie die letzten zwei Tage, und was wussten Sie von den geplanten Landgängen des Kapitäns?“
Holm schaute Lopez in die Augen und setzte sich behutsam auf seinen Schreibtischstuhl. Ihm wurde bewusst, dass auch er unter Mordverdacht stehen könnte.
„Kapitän Sturm war ein erfahrener und beliebter Chef und Kollege. Er fuhr lange Zeit Frachtschiffe, Fähren und seit einigen Jahren auch große, luxuriöse Passagierschiffe wie dieses. Er hat die Welt mehrfach umrundet. Wie Sie wissen, übernehme ich als erster Offizier die Vertretung des Kapitäns, sobald er das Schiff verlässt, aber auch dann, wenn er während der Fahrt nicht selbst auf der Brücke ist. Sturm ist schon immer ein begeisterter Fan von kleineren Motoryachten gewesen. Da wir Mallorca sehr oft anlaufen, chartert er sich zur Erholung regelmäßig welche, mit denen er allein oder selten auch mit Bekannten die schönsten Buchten erkundet. Abends allerdings ist er, wenn auch spät, immer wieder an Bord. Nur dieses Mal nicht, so dass unser leitender Ingenieur und ich sofort wussten, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte.“
Lopez lehnte sich an die blau gestrichene Kabinenwand an und dachte sichtbar nach.
„Bevor ich den Yacht Charter Club kontaktiere, müsste ich noch wissen, ob Sie mitbekommen haben, dass er jemals in der Vergangenheit bedroht wurde. Sei es von Passagieren, Angestellten, Freunden oder anderen Personen.“
Holm rief den leitenden Ingenieur zur Runde dazu. Beide waren sich einig, dass Sturm nie über private Probleme gesprochen habe.
„Wissen Sie, Mallorca ist so etwas wie ein zweiter Heimathafen. Man legt an und fühlt sich gleich wie zu Hause. Geht der eine von Bord, muss der andere an Bord bleiben und umgekehrt. Nicht wie bei den schnulzigen TV-Sendungen, bei denen der Kapitän mal ein paar Tage von Bord geht und beim Ablegen wieder auftaucht.“
Lopez wusste, dass weder Holm noch der leitende Ingenieur aufgrund ihrer verpflichteten Anwesenheit an Bord zu den Tätern gehören konnten und bat zwei weitere Kollegen der Crew, deren Aufenthalt zu bestätigen.
Beide Kommissare beschlossen zunächst die nur fünfminütige Strecke zu dem Yacht Charter Unternehmen im Hafen von Port de Mallorca zu fahren, bei dem Sturm seine Privatyacht gemietet hatte.
„Hola, Buenos días! Wir möchten Sie darüber informieren, dass Ihre Yacht noch in Sa Rapita ankert und von unserer Spurensicherung untersucht wird. Hat Ihr Kunde das Boot allein betreten oder konnten Sie sehen, dass eventuell noch weitere Personen dabei waren?“
„Sturm chartert diese Yacht seit Monaten immer allein, fährt auch so los und kommt immer allein zurück. Was er während dieser Zeit unternimmt, wissen wir nicht.“
Lopez und Díaz hatten mit dieser Aussage fast gerechnet. Beide hofften in Kürze neue Erkenntnisse durch die Kriminaltechnische Untersuchung (KTU) zu bekommen.
Lopez brachte seinen Kollegen ins Präsidium und fuhr erneut nach Sa Rapita. Er setzte sich grübelnd in den Sand und schaute fast meditativ auf die meterlangen Seegraswiesen, die sich ins Meer hinauszogen. Ihn quälte die Frage, warum der Mörder Kapitän Sturm nicht weiter draußen im tieferen Wasser unterhalb der Yacht, sondern relativ nah am Ufer mitten in einem Seegrasteppich mit beschwertem Anker ertrinken ließ. Hatte diese Vorgehensweise einen Sinn, oder war es reiner Zufall? Lopez wurde durch das laute Motorengeräusch der startenden Yacht in seinen Gedankengängen gestört und sah, wie das prachtvolle Designerboot um die Ecke zurück nach Palma Richtung Yachthafen gefahren wurde.
„Hola Señor Lopez“ ertönte die bekannte Stimme seines Kollegen der Spurensicherung hinter ihm. „Wir haben unsere Arbeit beendet und werden sie direkt an die KTU zur schnellen Untersuchung weitergeben. Auf der Yacht lag unter der Eisenstange, mit der das Opfer aller Wahrscheinlichkeit nach erschlagen wurde, ein gedruckter Zettel. „Zerstörte Seegraswiesen und Entsorgung von Müll in deren Ökosystem entsprechen einem Massenmord.“ Zudem wurde ein Ohrstecker gefunden, der bei einem kurzen, aber heftigen Kampf verloren gegangen sein dürfte. Er muss dem Täter gehört haben, da Sturm keinen trug. Auf ihm abgebildet ist die Burg, der königliche Almudaina-Palast, der noch heute als Residenz des spanischen Königs dient, wenn er sich auf Mallorca aufhält. Daneben das Wappen der Insel, ein blauer Schrägrechtsbalken, der vier rote Pfähle überdeckt. Der Rest ist goldfarben.“
„Sie wollen wohl meine Aggressivitätsgrenzen austesten. Meinen Sie, dass ich als Mallorquiner nicht die Flagge von Mallorca kenne? Gegenfrage: Ist Mallorca eine Insel oder Festland?“
Beleidigt zog der Kollege seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche und fuhr mit den Indizien zur KTU nach Palma.
Fest stand, dass es sich bei dem Täter eventuell um einen überzeugten Mallorquiner gehandelt haben könnte. Vielleicht aber auch um einen Touristen, der den Ohrring einfach so in einem der zahlreichen Souvenirshops gekauft hatte. Für Lopez kam nun die Zeit, die er an seinem Job hasste und die hieß „Warten“. Warten, bis weiterführende Informationen halfen, die Suche nach dem Täter einzugrenzen. „Del dicho al hecho, hay mucho trecho“, auf Deutsch: „Leichter gesagt als getan.“ Lopez erinnerte sich an seinen letzten Fall des „Engelsmörders“, einem Serienmörder, der allen seinen Opfern Erzgebirgsengel an die Kehle legte. Es war zweifelsohne eine sehr interessante Erfahrung gewesen, die aus einer Deutsch-Mallorquinischen Kooperation mit diversen Kommissaren bestand. Auch hier war oft Geduld gefragt, die aber zum Schluss zu einem erfolgreichen Abschluss führte. Lopez hoffte, dass man durch Hautschuppen, die vielleicht noch am Ohrring hingen, weitere Erkenntnisse erreichen konnte. Er saß weiter grübelnd am Wasser. Ihn ließ nach wie vor nicht der Gedanke los, dass dieser Ort bewusst gewählt wurde. Ein Kreuzfahrtkapitän, der tot im Seegras versenkt liegt. Zwei Welten trafen aufeinander. Kreuzfahrtschiffe stehen bis heute für die Verschmutzung der Luft und des Wassers. Palma war oft Spitzenreiter bei der Luftverschmutzung durch Ozeanriesen in Europa. An vielen Tagen quoll seine geliebte Stadt zusätzlich zu den sonstigen Touristen über. Der Mord musste eiskalt geplant worden sein. Der Täter schien den Rhythmus und den Beruf seines Opfers zu kennen, da er regelmäßig an genau dieser Stelle ankerte. Warum hätte er sonst ausgerechnet eine Original Siurell in Form eines Schiffskapitäns hingelegt? Private Yachten lagen trotz hoher angedrohter Geldstrafen oft verboten in den Seegraswiesen, die Lebensraum für viele Meerestiere waren, und zudem ein Garant für sauberes Wasser, da es Kohlenstoffdioxid bindet. Der Mensch zog insbesondere auf Mallorca sehr großen Nutzen aus ihm. Neben Korallenriffen und tropischem Regenwald gehörte es zu den wichtigsten Ökosystemdienstleistern der Welt. Lopez wusste, dass dieses inzwischen sogar von Robotern und Booten von Umweltschützern überwacht wurde. Ihre größten Feinde waren die Yachten. Er zog sein Handy aus der Tasche. Achttausendfünfhundert dieser Boote sollen in den letzten zwölf Monaten im Poseidongras ihre Anker geworfen und es dadurch lokal zerstört haben. Er war begeistert von seinem meditativen Ergebnis. Es könnte sein, dass es sich bei dem Täter um einen militanten Umweltschützer handelt. Einer der einen Umweltzerstörer töten wollte.
Es war bereits später Nachmittag, Zeit für das „almuerzo“, das spanische Mittagessen. Die „Jefatura de Polícia“ lag in der Nähe des Passeig de Mallorca, einer Straße mit großer Auswahl an Tapas Bars, Cafés, Sterne- und Standardrestaurants. Lopez beschloss in die noch näher liegende Cafetaría Rosa zu gehen, in der es seines Erachtens die beste Tortilla von ganz Mallorca gab. Zudem stimmte das Preis-Leistungsverhältnis. Zufällig saß sein Kollege Díaz an der Bar und trank einen Cortado.
„Antonio, ich hätte Sie aufgrund Ihrer „Größe“ kaum an der Theke gesehen. Aber es gibt ja Gott sei Dank hohe Barhocker.“
Díaz wusste nicht, ob er den von Rafael humorvoll gemeinten Satz durch Lachen bestätigen wollte. Er entschied sich, diesen einfach zu ignorieren.
„Sie glauben nicht, zu welchem Ergebnis ich in der Zeit meines Aufenthalts am Meer gekommen bin.“ Lopez erzählte ihm seine Gedankengänge bis ins kleinste Detail und Díaz war begeistert.
„Eine bessere, logischere Erklärung für diesen Mord kann es eigentlich nicht geben. Wenn uns die Pathologie und die KTU jetzt noch stimmige Details mitteilen, könnten wir den Mörder vielleicht in den nächsten Tagen stellen.“
Lopez zahlte, und beide liefen zum Präsidium. Pedantisch tippte er jedes kleinste Detail des Tagesgeschehens in sein System ein, als unerwartet die Abteilung der Forensik anrief.
„Hola! Wir haben, wie immer zunächst versucht die daktyloskopische Untersuchung, also die Fingerabdrücke als Beweise zu nehmen. Allerdings ist es uns ausnahmsweise nicht gelungen, diese zu verwerten, was äußerst selten der Fall ist. Es gibt drei Möglichkeiten. Der Täter hat entweder eine extreme Abnutzung der Fingerkuppen durch seine berufliche Tätigkeit oder eine altersbedingte Abnutzung. Die zweite Möglichkeit wäre, dass der Mörder unter Adermatoglyphie leidet, also einer Genveränderung, die dazu führt, dass die Hautrippen an Fingern und Zehen nicht gebildet werden. Die Haut ist wie zum Beispiel am Bauch, einfach nur glatt. Es handelt sich hierbei allerdings um eine äußerst seltene Krankheit, sodass hier nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit besteht. Dritte Möglichkeit wäre das Tragen von Handschuhen. Oft entfällt diese Möglichkeit, und zwar dann, wenn der Totschlag spontan aus Affekt geschieht. Diese Tatsache wäre hier meiner Meinung nach auszuschließen, da der Mord geplant gewesen sein muss. Der Täter schwimmt nicht zufällig zur Yacht. Das war eiskalt geplant. Nichtsdestotrotz können wir von diesem Täter generell keine verwertbaren Fingerabdrücke nehmen. Die Ergebnisse der anderen, noch offenen Untersuchungen werden morgen mitgeteilt.“
Lopez konnte diese Tatsache nicht beunruhigen. Er schrieb zunächst das Protokoll zu Ende und beschloss danach seinen Arbeitstag zu beenden. Er wusste, dass in den nächsten Tagen und vielleicht sogar Wochen, sehr viel Arbeit und einige Überraschungen auf ihn und sein Team zukommen könnten.
TAG ZWEI
Lopez wippte ungeduldig auf seinem abgewetzten Bürostuhl hin und her. Er schaute auf seine kitschige Wanduhr. Diese bestand aus einem Brett aus Olivenholz mit dem bunten Motiv einer Ziege. Der kleine Zeiger stand bereits in Höhe der Ziegenhörner und er wusste, dass die Pathologie in den nächsten Minuten anrufen würde. Dennoch erschrak er, als genau in dieser Sekunde sein Telefon klingelte. Allerdings war es kein interner, sondern ein externer Anruf.
„Buenos días Kommissar Lopez. Ich bin von der Guardia Civil in Campos. Wir wurden heute Morgen früh von einem Bauern angerufen. Er entdeckte ein Fahrrad, das neben einem Brunnenschacht auf seinem Feld nahe seiner Finca in El Palmer lag. Zunächst dachte er, dass es geklaut wurde und der Dieb es aus schlechtem Gewissen einfach spontan entsorgte. Beim Herunterschauen in den Schacht allerdings machte er eine grausige Entdeckung. Metertief lag unten ein blutiger, regungsloser Körper im Wasser. Wir sind vor Ort, und es sieht wirklich schrecklich aus. Der Brunnen ist circa zehn Meter tief, und Gott sei Dank nicht wie andere auf unserer Insel, dreißig oder vierzig. Wir haben bereits die Spurensicherung informiert und bitten Sie auch sofort hierher zu kommen.“
Lopez schob die stillose, leere Vase auf seinem Tisch nach vorne und nach hinten. Er wusste, dass seine wenigen Kollegen mit Kriminalfällen aller Art mehr als versorgt waren. Auch Antonio Díaz erstickte vor Arbeit. Der Einzige, der im Vergleich dazu noch etwas Luft hatte, war er selbst. Sein geplanter Tagesablauf war damit Geschichte.
„Vale, ich bin in vierzig Minuten bei Ihnen und mache mir ein Bild. Hasta luego.“
Lopez fuhr mit Zigarette im Mund die MA-19 entlang und fragte sich, was ein Radfahrer im Brunnenschacht zu suchen hatte. Seine Gedankengänge wurden abrupt gestoppt, als ein Anruf ertönte.
„Pathologie, guten Morgen. Dank einiger Überstunden können wir Ihnen bereits einige Ergebnisse unserer bisherigen Untersuchungen mitteilen. Kapitän Sturm wurde auf jeden Fall mit einem stumpfen Gegenstand von hinten erschlagen. Vermutlich mit einer Metallstange. Man sieht die geformte Hautblutung noch als Teilabdruck des Instruments. Es gibt die sogenannte „Hutkrempenregel“, das heißt, wenn die Verletzung oberhalb der Hutkrempe ist, handelt es sich um fremde Gewalteinwirkung. Ist die Verletzung auf oder unterhalb der Hutkrempe, weist dieses auf einen Sturz hin. Er musste bereits tot gewesen sein, als ihn der Mörder mit einem Anker am Boden fixierte. Insofern hat er nicht sehr gelitten. Danach wurde ihm die Zunge abgeschnitten. Die Spurensicherung konnte die Zunge nirgendwo finden. Wir vermuten, dass er sie entweder mitgenommen hat oder direkt im Meer verteilte, wo sie von den Fischen verspeist wurde. Die zweite Möglichkeit scheint wahrscheinlicher. Sandproben, die unsere Kollegen im Umkreis von circa dreißig Zentimetern um die Siurell herum mitnahmen, wurden auf Haare untersucht. Allerdings waren in den Proben keine zu finden. Der Mörder könnte vom Land aus tauchend zum Schiff gekommen sein. Das dürfte bei dem ruhigen Seegang der letzten Tage und der Nähe des Schiffes zum Festland kein Problem gewesen sein. Nachdem er Sturm dann erschlagen, den Zettel unter der Eisenstange fixiert und im Neptungras mit einem weiteren Anker versenkt hatte, wird er ihm, so vermuten wir es, die Zunge abgeschnitten haben. Die Kappe nahm er beim Zurückschwimmen mit an Land. Diese war unseren Untersuchungen nach ursprünglich nass und salzig sowie mit einigen Algen versehen. Auch die Siurell muss er die ganze Zeit in seiner Hosentasche gehabt haben, denn auch diese war vom Salzwasser angegriffen. An Land angekommen legte er diese in den Sand, die Kappe darüber und flüchtete. Persönliche Fußabdrücke haben wir keine, da der Täter Badeschuhe getragen hat. Wir konnten diese Abdrücke in einiger Distanz zu den letzten Ausläufern der Wellen finden. Glücklicherweise waren keine Flut und kein starker Seegang. Wir haben dadurch das Profil und die Größe der Schuhe, nämlich einundvierzig. Ohrringe hat der Kapitän nicht getragen, aber das wussten Sie ja schon. Tätowierungen oder sonstige auffällige Merkmale hat das Opfer nicht. Die KTU untersucht derzeit noch den Ohrring auf Hautschuppen.“
Lopez bedankte sich, während er langsam eine rote Ampel überfuhr. Er war bereits kurz vor El Palmer. Das geschehene Verkehrsdelikt schob er auf seine derzeitig mentale Belastung zurück. In diesem Augenblick war er froh, beruflich und nicht privat unterwegs gewesen zu sein. Durch die weitläufigen Felder zogen sich Schotterwege, die auch von vielen Radfahrern zu Touren benutzt wurden. Leider bewahrheitete sich das an dem teilweise rücksichtslos hinterlassenen Müll. In der Ferne winkte bereits der Kollege der Guardia Civil. Der Bereich um den Brunnen war großzügig durch die Spurensicherung abgesperrt. Neugierige Radfahrer wurden sofort durchgewunken. Lopez fuhr mit seinem SUV etwas aufs Feld und lief direkt zum Brunnen. Beim Anblick der Leiche erkannte er unter Zuhilfenahme der Lampe eines Kollegen, dass es sich um einen mit einer Radhose und einem Trikot bekleideten mittelalten Mann handelte. Er schien sich den Hals gebrochen zu haben. Abgesehen von Brüchen anderer Körperteile.
„Señor“, fragte Lopez den Bauern. „Wie kann es sein, dass das Opfer überhaupt in Ihren Brunnen fallen konnte?“
„Kommissar, die Öffnung ist schon ewig mit Pflanzen bewachsen. Ich weiß es, und fremde Personen dürfen eigentlich nicht auf mein Feld. Insofern bin ich nicht schuld.“
„Darum geht es jetzt nicht. Sollte es sich um einen Mord gehandelt haben, müsste jemand gewusst haben, dass hier ein Brunnen ist, den man im Falle eines Mordes dazu nutzen könnte. Es gibt so viele alte, teilweise auch versteckte Brunnen auf Mallorca und Hunderte von circa dreißig Zentimetern breiten Bohrlöchern, mit denen das unterirdische Wasservorkommen getestet werden soll. Warum wurde dann gerade dieser Brunnen genommen? Wem haben Sie jemals von ihm erzählt, oder wer hat ihn in der Vergangenheit jemals wahrgenommen?“
Der alte Bauer seufzte verzweifelt.
„Eigentlich wusste es nur meine Frau, und sie ist vor drei Jahren gestorben. Sie mochte den Brunnen auch nicht sehr. Er war ihr immer zu unheimlich. Helligkeit wie Sonne, Meer und leuchtende Felder, das waren eher ihre Farben. Radfahrer konnten den Brunnen nie sehen. Sie heizen vorbei, da dieser Weg eine der beliebtesten Routen durch das Landesinnere der Insel ist. Sie werfen höchstens mal die Verpackung ihres Riegels in die Natur und fahren dann schnell weiter.“
Lopez wusste, dass die Arbeiten der Spurensicherung noch lange andauern würden und auch das Bergen des Opfers erst gegen Abend erfolgen dürfte.
„Ich werde direkt auf meinem Rückweg die Pathologie um eine Art Nachtschicht bitten, da ich so schnell wie möglich wissen muss, ob es sich hierbei um Mord, Suizid, oder einfach nur um einen unglücklichen Zufall handelt. Die Identität des Opfers benötigen wir auch noch, um Zeugenaussagen zu erhalten. Nach dem Bergen der Leiche dürften wir weitere Informationen erhalten.“
Lopez beschloss zurück zum Präsidium nach Palma zu fahren, dabei aber vorher noch dem rechtsmedizinischen Institut einen Besuch abzustatten.
„Buenos días Carmen! Ihnen wird nachher ein Opfer vorbeigebracht werden, das in einem Brunnen tot aufgefunden wurde. Ich bitte Sie, die Untersuchungen auf folgende Punkte besonders zu überprüfen: Wurde der Tote ermordet, und wenn ja, durch was oder wie. Oder handelte es sich um einen Suizid? Oder war es Zufall? Der Tote ist Radfahrer. Ansonsten benötige ich Auffälligkeiten und generelle Angaben.“
Carmen schüttelte den Kopf und lachte laut. „Rafael, das sind ja ganz neue Aufgaben für mich. Kann es sein, dass Sie etwas überarbeitet sind?“
Lopez war beleidigt, musste aber böse Miene zum guten Spiel machen, da die Ergebnisse noch bis heute Nacht erarbeitet werden sollten.
„Ich kann es ja nicht so gut nachvollziehen, dass Sie, als Pathologin gerne gegrilltes Fleisch essen. Schaffen Sie es allerdings noch heute Nacht wichtige Beweise herauszufinden, würde ich Sie dafür auch gerne in ein Steakhouse Ihrer Wahl einladen.“
Sie lachte erneut.
„Ich wusste doch, dass Sie noch etwas wollen, aber einem so gutaussehenden Mallorquiner wie Ihnen schlägt man seine Wünsche auch ohne Restaurantbesuch nicht aus. Außerdem ist es mein Job. Und den mache ich gerne.“
Lopez hatte sich die Nummer des Fahrradverleihers und des Fahrrads notiert, um an weitere Informationen kommen zu können. Entgegen erster Vermutungen handelte es sich nicht um den größten Verleiher der Insel, sondern um einen kleineren der vielen Anbieter direkt im Zentrum von Palma. Er beschloss dorthin zu laufen, da es in den engen Gassen in diesem Viertel keine Parkplätze gab. Beim Vorbeigehen an den alten Klöstern, Kirchen, Herrenhäusern und Plätzen wurde ihm wieder bewusst, in welcher schönen Stadt er doch wohnte. Geschichte verbunden mit Meer, Genuss und purem Leben. Er betrat den Fahrradverleih, in dem noch circa fünfzig weitere Fahrräder auf ihre Mieter warteten.
„Buenos días, Kommissar Lopez, ich benötige ein paar Informationen von Ihnen.“
Er zog sein Handy aus der Tasche und öffnete seine Bildergalerie.
„Dieses Fahrrad, laut Aufkleber Ihres Ladens mit der Nummer 6611, wurde gestern ohne seinen Fahrer auf einem Feld gefunden. Deshalb benötige ich dringend Informationen über ihn. Name, Adresse, Alter und sonstige Daten, die Sie von ihm haben. Ihr Fahrrad bekommen Sie wieder. Unsere Spurensicherung muss es nur noch untersuchen. Ich hoffe für Sie, dass er per Vorauskasse gezahlt hat.“
Lopez lachte kurz. Der Mitarbeiter zeigte keinerlei Emotionen und tippte wortlos die Fahrradnummer in sein Notebook ein.
„Unser Kunde heißt Michael Dreschke, wohnhaft in Freiberg, Sachsen. Geboren 1980. Privatadresse schreibe ich Ihnen auf. Also kein Mallorquiner, sondern ein strohblonder Deutscher.“
„Ich benötige nicht nur seine Privatadresse in Deutschland, sondern auch seinen Aufenthaltsort auf Mallorca.“
Murrend suchte der Verleiher erneut in den ihm zur Verfügung stehenden Daten.
„Er wohnt immer in dem kleinen Hotel namens „Esperanza“ in der Calle de Cervantes. Nicht luxuriös, aber sauber und mitten in der Stadt. Er hat bei mir schon oft Fahrräder aller Art geliehen, am liebsten aber Geländeräder, genannt Crossbikes. Solche, mit denen man so richtig fett über Wiesen und Felder durch die Natur heizen kann. Rücksicht auf die Vegetation wird hier nicht genommen. Hauptsache schnelles und kraftvolles Fahren. Dreschke lieh sich von Zeit zu Zeit aber auch Rennräder aus, um über die Berge zu kommen. Er war ein absoluter Einzelgänger. Er fuhr nie in Gruppen oder zu zweit. Dieses hat er mir sogar einmal selbst gesagt.“
„Freiberg/Sachsen“. Sofort kam Lopez erneut der letzte Fall gemeinsam mit Kommissar Gerhard Voigt in den Sinn. Irgendwie vermisste er seinen deutschen Kollegen und könnte ihn jetzt zudem gut gebrauchen. Vielleicht hatte er Hinweise zu Dreschke in seinem Informationssystem.
Lopez bedankte sich und lief zügigen Schrittes zurück zum Präsidium. Im Büro angekommen merkte er, dass er zunächst eine kleine Pause machen musste, um sein hörbar schweres Atmen zu reduzieren. Erst danach griff er zum vergilbten Telefonhörer.
„Hola Gerhard! Hier ist Rafael aus Palma.“
„Dorheeme is am scheensten. Für Sie auf Hochdeutsch Rafael, „Zu Hause ist es am schönsten.“ Das dachte ich bis jetzt, aber wenn ich an Mallorca denke, stimmt dieser Spruch nicht mehr so ganz. Was kann ich für Dich tun?“
„Wir haben einen toten Radfahrer in einem Brunnenschacht gefunden. Er heißt Michael Dreschke, wohnhaft bei Dir im Erzgebirge in Freiberg. Kannst Du spontan irgendetwas über ihn herausfinden?“
Voigt tippte hörbar auf seiner Tastatur.
„Ei verbibbsch. Siehe da. Dreschke hat diverse Male strafbare Eingriffe in die Natur vorgenommen, indem er zum Beispiel illegal Fäkalien in einen Bach laufen ließ. Hinzu kam, dass er mit seinem Motocross Rad nie die extra dafür gebauten Anlagen nutzte, sondern aggressiv zerstörend damit im Freiberger Biotopschutzgebiet herumfuhr.“
„Hervorragend Gerhard. Das reicht schon. Bis demnächst.“
„Nu, ma guggen.“
Lopez hielt es nicht länger auf seinem Lederstuhl aus. Er lief diverse Runden durch sein nicht allzu großes Zimmer und blieb abrupt am Fenster stehen. Er hielt den Griff desselben verkrampft in der Hand und schaute auf die belebte Hauptstraße. Sollte es Mord gewesen sein, stellt sich die Frage, ob beide Taten miteinander zusammenhängen könnten. Allerdings konnte er bei diesen Toten selbst mit noch so großer Kreativität keinen Zusammenhang erkennen. Ein Kreuzfahrtkapitän und ein Radfahrer. Zwei Welten trafen aufeinander. Lopez ließ den Griff los, um sich einen Cafe con leche zu holen. Auf dem Gang hörte er in der Ferne seinen bis zum Anschlag eingestellten Klingelton. Fluchend rannte er zurück in sein Büro und nahm schwer atmend den Hörer ab.
„Wo habe ich Sie denn hergeholt? Die Kriminaltechnische Untersuchung hat ergeben, dass am Ohrring des Mörders von Kapitän Sturm tatsächlich Hautschuppen gefunden wurden. Es liegt uns hierzu leider nur keine Vergleichsprobe vor. Der Verdächtige ist bisher nicht in einer DNA-Kartei gespeichert, woraus man schließen kann, dass er bis zum heutigen Zeitpunkt keine Verbrechen begangen haben dürfte. Auch die Schrittgröße zu den Badeschuhen hilft uns nicht weiter. Leider ist unsere Arbeit im Fall des Mordes an Sturm bisher ergebnislos geblieben. Erfolgsversprechender allerdings sind die Untersuchungen zum Tode des Radfahrers. Neben den dicht bewachsenen Sträuchern lag erbrochenes Essen des Opfers. Er musste dieses kürzlich zu sich genommen haben. Was den Tatort am Brunnen betrifft, so konnten hier keine Haare gefunden werden, da die ruppige Vegetation, die ihn überwuchert, dies nicht zuließ. An einem Strauch allerdings waren Blutspuren, die entweder vom Täter oder vom Opfer selbst stammen mussten. Dieses können wir aber erst herausfinden, nachdem die Pathologie ihre Arbeit getan hat. Beim Herausziehen der Leiche aus dem Brunnen stellten wir fest, dass der rechte Fuß des Opfers fehlte. Er wurde abgehackt. Voraussichtlich mit angezogenem Schuh. Wir konnten trotz intensivster Suche weder den Fuß noch den dazugehörigen Schuh finden. Er hatte, wie viele Radfahrer eine in diesem Fall günstige Pulsuhr am Arm. Diese wurde beim Aufprall beschädigt und ist seit halb elf, also seinem Todeszeitpunkt, stehen geblieben. Wir konnten die aktiven Zeiten des Vortages herausfinden und ich werde sie Ihnen gleich per E-Mail schicken.“
Lopez bedankte sich und nahm einen erneuten, erfolgreichen Anlauf zum Kaffeeautomaten, um den bevorstehenden langen Abend zu überstehen. Früher als geplant meldete sich Carmen Perez, die Lieblingspathologin von Lopez.
„Sitzen Sie Rafael? Die Obduktion ergab, dass das Opfer zunächst vergiftet wurde. Sein Mörder musste ihm beim Abendessen eine Überdosis von Cholinesterasehemmern in sein Getränk getan haben. Die Toxikologie hat mir das auch noch einmal bestätigt. Diese Überdosis führte beim Opfer zunächst zu Erbrechen. Das Erbrochene lag, wie mir die Spurensicherung erzählte, auch direkt neben den Sträuchern. Danach muss bei ihm eine zentrale Atemlähmung sowie der Herzstillstand eingesetzt haben. Oft wird diese Todesursache bei Morden angewandt, die wie Selbstmorde aussehen sollen. Aber das ist nicht alles. Die Blutgruppe, die auf den Pflanzen gefunden wurde, ist auch die des Opfers. Der Mörder muss Dreschke nach seinem Tod noch einmal mit seinen Armen von der Mauer heruntergezogen haben. Das erkennt man an den starken Kratzspuren, an den Waden vom Opfer, sowie an den Hautzellen, die vom Brunnenrand entnommen wurden. Danach muss er ihm den rechten Fuß abgehackt sowie den Körper umgedreht haben, um ihn noch einmal mit einer Glasflasche von hinten zu erschlagen. Vielleicht wollte er unter Adrenalin stehend, sicher sein, dass er wirklich tot ist. Danach muss er den schweren Körper wieder zum Brunnen geschliffen und ihn auf der Mauer liegend hinuntergeworfen haben. Wie Sie selbst gesehen haben, hatte das Opfer noch den Sturzhelm an. Die Brüche und Ödeme zeigen die genauen Aufschlagbereiche. Ich hoffe, das reicht Ihnen zunächst. Sie müssen auch nicht mit mir essen gehen.“