Kitabı oku: «Schreiben und Lesen im Altisländischen», sayfa 20
Die Unterscheidung in die Konzepte VERFASSEN und SCHREIBEN der bisherigen Forschung hat sich zwar als richtig erwiesen, jedoch sind die beiden Konzepte für sich nicht näher betrachtet worden, um daraus weitere Erkenntnisse über die mittelalterliche Schriftkultur zu gewinnen. Rita/ríta und skrifa sind mehr als nur Auf- oder Abschreiben. Sie umfassen Attribute wie SPRACHE, QUELLE, GRAPHIE, TEIL, TEXTSORTE, SCHRIFTTRÄGER, welche für das Konzept SCHREIBEN entscheidend sind. Dies gilt auch für setja saman, das sich vor allem im Attribut RHETORIK unterscheidet. Glauser (2010) hat zahlreiche dieser Attribute als Aspekte eines breiteren Rahmens der Schriftlichkeit erwähnt. In der vorliegenden Arbeit war es nun möglich, sie systematisch in die Konzepte der jeweiligen Lexeme einzuordnen. Die Kenntnis dieser Attribute und der Werte ermöglicht es erst, sie angemessen zu verstehen.
III Lesen
1. Der mittelalterliche Wortschatz des Lesens
Das Lesen im Mittelalter ist seit über vier Jahrzehnten ein Forschungsgegenstand in Mediävistik, Geschichtswissenschaft, Anthropologie und anderen Disziplinen. Dabei wurde auch immer wieder der Wortschatz – v.a. im Lateinischen und Mittelhochdeutschen – thematisiert. Der Schwerpunkt dieser Forschung lag auf dem Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Der Umfang der Publikationen zu diesem Thema ist allmählich geradezu unüberschaubar geworden, so dass es nicht möglich ist, an dieser Stelle einen Gesamtüberblick über den derzeitigen Stand der Forschung zu geben. Dieses Kapitel konzentriert sich daher vor allem auf Arbeiten, welche sich mit dem Wortschatz des Lesens auseinandersetzen, und auf jüngere Publikationen, welche andere Fragestellungen einbeziehen als nur das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Zuletzt wird auf die Forschung zum altnordischen Wortschatz des Lesens eingegangen, weil diese für diese Arbeit von besonderem Interesse ist.
Die mittelalterlichen Lesepraktiken haben ihre Vorbilder in der Antike, einer Zeit, als vor allem mit Stimme gelesen wurde. Diese Praxis stand in der Tradition der Rede, d.h. der schriftliche Text sollte wie eine Rede vorgetragen werden (vgl. Ludwig 2005: 44–57, Parkes 1999: 139f.). Stummes Lesen diente lediglich dazu, den Text vorher zu studieren, um ihn angemessen zu verstehen. Obwohl lautes Lesen noch während des ganzen Mittelalters vorherrschte, gibt es auch in antiken und frühmittelalterlichen Quellen Erwähnungen von Lesen ohne Stimme wie in der Ordensregel des Heiligen Benedikt oder bei Isidor von Sevilla (vgl. Parkes 1999: 139–141). Die scholastischen Philosophen des Hochmittelalters setzten sich nicht nur mit den verschiedenen Lesepraktiken, sondern auch mit dem Wortschatz auseinander. Laut Johannes von Salisbury umfasst das lateinische Verb legere zwei Aktivitäten: 1. den vorlesenden Lehrer mit dem zuhörenden Schüler und 2. den Leser, der für sich selbst liest. Erstere Aktivität lässt sich lexikalisch durch die praelectio ‚Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler‘ von letzterer, der lectio ‚individuelles Lesen‘ unterscheiden. Die Substantive leiten sich von den Verben praelegere ‚anderen vorlesen‘ und legere ‚für sich lesen‘ ab. Johannes von Salisbury war sich allerdings bewusst, dass seine Zeitgenossen legere und praelegere nicht konsequent verwendeten. Lateinisch legere ist gemäss Johannes von Salisbury zweideutig, es steht einerseits für Vorlesen und andererseits für individuelles Lesen (vgl. Green 2007: 5f., 9). Hugo von St. Victor verfeinert die Unterscheidung Johannes‘ von Salisbury, indem er dem Schüler neben dem Lehrer und dem individuellen Leser eine eigenständige Rolle gibt. Dem zufolge hat legere drei Funktionen, welche Hugo von St. Victor mit Beispielsätzen veranschaulicht: 1. der dem Schüler vorlesende Lehrer (lego librum illi ‚ich lese ihm das Buch vor‘), 2. der dem Lehrer zuhörende Schüler (lego librum ab illo ‚ich höre ihm beim Lesen des Buches zu‘) und 3. der individuelle Leser (lego librum ‚ich lese das Buch‘) (vgl. Green 2007: 6). Gerade diese zweite Funktion mutet heutzutage fremd an; sie unterscheidet sich aber nicht grundlegend von der ersten, denn im Mittelalter las der individuelle Leser nicht nur mit den Augen, um die Buchstaben zu entziffern, sondern auch mit den Ohren, indem er das von sich selbst Vorgelesene auditiv wahrnahm. Green (2007: 20) unterteilt dementsprechend in einen oral reader ‚sprechender Leser, der anderen vorliest‘, einen aural reader ‚hörender Leser, der sich selbst vorliest oder anderen zuhört‘ und einen ocular reader ‚sehender Leser, der still liest‘. Im Falle des individuellen Lesens ist die Unterscheidung zwischen aural und ocular reader allerdings schwer zu treffen, weil wir nicht nachprüfen können, ob ein mittelalterlicher Mensch den Text rein visuell oder rein auditiv wahrnahm. Obwohl die bei Hugo von St. Viktor beschriebenen drei Funktionen lexikalisch im Verb legere vereint sind, können sie syntaktisch mithilfe der verschiedenen Ergänzungen zusätzlich zum Akkusativobjekt librum wie das Dativobjekt illi oder Präpositionalobjekt ab illo unterschieden werden. Dies zeigt, dass nicht nur die Lexik, sondern auch die syntagmatischen Relationen auf die Lesepraktik hinweisen können. Das individuelle Lesen, das bei Hugo von St. Viktor nur aus Subjekt und Akkusativobjekt besteht, kann im Lateinischen auch durch das Reflexivpronomen im Dativ (sibi ‚(für) sich‘) verdeutlicht werden. Dadurch wird der Leser Empfänger seiner eigenen Lesung, d.h. er ist sowohl ocular als auch aural reader. Dies wird in den Volkssprachen ähnlich ausgedrückt wie beispielsweise im Althochdeutschen bei Otfrid für das Verb lësan ‚lesen‘ mit der Ergänzung im Dativ thir selbo ‚dir selbst‘ (vgl. Green 2007: 7f.). Die Markierung durch das Reflexivpronomen war aber fakultativ, so dass legere zweideutig bleibt und ‚still für sich lesen‘ oder auch ‚laut für andere lesen‘ bedeuten kann.
Zum einen sind es die schon erwähnten Dativobjekte, die sowohl im Latein als auch in den verschiedenen Volkssprachen Mittelhochdeutsch, Altfranzösisch und Mittelenglisch vorkommen und die Rolle des Hörers (lat. auditor, mhd. hœrære) wiedergeben. Zum anderen kann auf die Rolle des Hörers auch mithilfe eines Präpositionalobjekts mit lat. ante, mhd. vor, mengl. before, afrz. devant verwiesen werden. Das Lateinische bindet dieses ‚vor‘ auch als Präfix an das Verb praelegere (vgl. Green 2007: 16–18). Neben dem Dativobjekt gibt es noch andere Wege, die Art des Lesens zu verdeutlichen: Auf das Lesen vor einem Publikum kann im Mittelhochdeutschen beispielsweise mit dem Adverb offenlîche ‚offenbar, allen wahrnehmbar oder verständlich‘ (vgl. Lexer 1872–1878: II, 146f.) hingewiesen werden. Ausserdem gibt es sowohl im Latein als auch in den Volkssprachen Kausativkonstruktionen mit den Hilfsverben lat. facere, ahd. heizan, mhd. tuon, afrz. faire und den verba legendi lat. legere, ahd. lësan, mhd. lësen, afrz. lire im Infinitiv, die lautes Lesen implizieren, weil es neben dem Leser im Akkusativobjekt eine weitere Person im Subjekt gibt, welche die Lesung veranlasst und gleichzeitigt zuhört (vgl. Green 2007: 18f.). Das ‚Lesen‘ des Zuhörers (lego librum ab illo) wird auch durch entsprechende verba audiendi ausgedrückt wie lat. audire oder mhd. hœren. (vgl. Green 2007: 8).
Das stille Lesen wird im Lateinischen hingegen durch verba videndi ausgedrückt: Das Verb videre ‚sehen‘ kommt im 11. Jahrhundert zuerst auf den Britischen Inseln und später auf dem europäischen Festland als Synonym für Lesen vor. In diesem Zusammenhang steht auch das von Hugo von St. Viktor verwendete Verb inspicere ‚hineinsehen, -blicken‘ (vgl. Green 2007: 8; Saenger 1999: 85). Dazu gibt es parallele Beispiele aus den Volkssprachen: mhd. sehen, schouwen, ansehen, afrz. veoir, mengl. looke, ouersy ‚oversee‘, wobei mhd. schouwen, ansehen ein genaueres Betrachten der Schrift implizieren (vgl. Green 2007: 9). Curschmann (1984: 243) sieht im mhd. schouwen hingegen mehr, als wir heute unter Lesen verstehen. Die visuelle Wahrnehmung gilt nicht nur dem Geschriebenen und seinem Inhalt, sondern deutet „eine Gesamtsicht des materiellen Objekts“ an, wozu auch der Bilderschmuck gehört. Dies demonstriert auch sein Beispiel der Hereford-Karte, wo das Sehen sich eben nicht nur auf den Text, sondern auch auf das Bild bezieht (vgl. Curschmann 1984: 218). Bild und Schrift müssen aber gar nicht so strikt getrennt werden, denn auch Schriftträger ohne Illuminationen können durch ihr Schriftbild, ihre Ornamentik und Materialität eine Aura ausstrahlen, welche vom Leser visuell wahrgenommen wird. Diese Aura verleiht dem Schriftträger eine Autorität, welche zum Beispiel Urkunden und liturgische Handschriften auszeichnet (vgl. Rohrbach 2008: 199–201). Lat. legere und mhd. lesen unterscheiden sich also nicht nur in dem Merkmal [±laut] von den verba videndi, denn das Sehen bzw. Schauen beinhaltet auch die Wahrnehmung der Aura. Hinzu kommt, dass eine Unterteilung in stilles und lautes Lesen problematisch ist, weil es auf der Skala von stumm bis laut Zwischenstufen gibt, in denen der Leser unverständlich murmelt oder die Lippen bzw. Zunge unbewusst bewegt (Green 2007: 13), was entscheidend für die Rolle des aural readers ist. Wenn der Leser nur noch unverständlich murmelt, ist er lediglich ein ocular reader, so dass er sich nicht mehr vorliest, was das Reflexivpronomen sibi vorgaukelt. Legere, wenn es für individuelles Lesen steht, kann genauso gut für stummes, murmelndes Lesen stehen (vgl. Green 2007: 13–15). Die verba videndi sprechen zwar für ein stummes Lesen, da die Wahrnehmung über das Auge geschieht, aber auch da kann die Stimme nicht sicher ausgeschlossen werden.
Im Laufe des Spätmittelalters findet beim Lesen eine zunehmende Internalisierung statt, so dass stilles und individuelles Lesen sich allmählich durchsetzt. Dies hängt einerseits mit den Bibliotheken zusammen, in denen mehrere Personen gleichzeitig lasen und einander nicht stören sollten, andererseits mit der zunehmenden Menge an Texten, welche schnellere Lesepraktiken erforderten, was zu einer Bevorzugung des schnelleren stillen Lesens führte (vgl. Green 2007: 15).
Die Forschung von Green, Parkes und Saenger hat sich vor allem mit den Phänomenen des Medienwandels von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit beschäftigt. Schnyder (2006: 429) kritisiert daran, dass sie wegen der Quellenlage ihr Hauptinteresse auf die monastische und scholastische Lektürepraxis richtet, obwohl es diverse andere Praktiken in späterer Zeit und anderen Milieus gab. Schnyder konzentriert sich auf höfische Lesepraktiken und erklärt, wie sie auf religiöse zurückgehen, wobei Schnyder diese ebenfalls in lautes, öffentliches und stilles, individuelles Lesen unterteilt. Dabei spielt der Körper des Lesers eine zentrale Rolle. Bei den religiösen Lesepraktiken unterscheidet sie zwischen instrumentellem Lesen, bei dem der Körper des vorlesenden Geistlichen als Instrument für das Wort Gottes fungiert (vgl. Schnyder 2006: 434f.) und inkarnierendes Lesen, bei dem der Leser bei der meditatio das Wort Gottes wie Nahrung in sich aufnimmt (vgl. Schnyder 2006: 435–37), wobei diese Aufnahme in den Körper je nach Lektüre und Leser mit Gefahren verbunden ist (vgl. Schnyder 2006: 437f.). Bei den höfischen Praktiken ist der Körper des Vorlesers bzw. der Vorleserin nicht nur Instrument, sondern er verkörpert gerade den Text (Schnyder 2006: 441f.). Auch das stille, individuelle Lesen ist mit denselben Gefahren verbunden, wie bei der meditatio, was Schnyder affizierendes Lesen nennt. Trotz zahlreicher mittelhochdeutscher Zitate geht sie nicht näher auf den Wortschatz, bzw. darauf ein, wie sich diese unterschiedlichen Praktiken im Wortschatz und in der Bedeutung der Lexeme manifestieren.
Neben dem monastischen und höfischen gibt es auch einen juristischen Rahmen, zu welchem neben dem Lesen, Vorlesen oder Erzählen von Urkunden, Akten und Rechten auch immer die Präsentation des Dokuments gehört, die teilweise wichtiger ist als das Dokument selbst. Das Inszenieren und Betrachten des Dokuments, welche teilweise die Form eines Rituals annehmen, sind genauso sehr Teile des Leseprozesses wie das Entziffern der Buchstaben und das Aussprechen der Laute (vgl. Curschmann 1984: 243, Kwasnitza 2010: 134–137, Teuscher 2007: 261–263, 271f.). Aber auch hier fehlt eine Auseinandersetzung mit dem Wortschatz, so dass sich wiederum fragt, ob diese Praktiken in das Konzept LESEN gehören.
Wie vielfältig die Lesepraktiken im Mittelalter waren zeigen Lutz et al. (2010) in ihrem Sammelband Lesevorgänge, in welchem vor allem anhand einzelner Handschriften und Texte äusserst unterschiedliche Lesevorgänge dargestellt werden. Jedoch wird auch dort der Wortschatz nur marginal behandelt. Dies betrifft insbesondere die Inszenierung und Wahrnehmung der vorzugsweise untersuchten Pracht- und Prunkhandschriften. Es stellt sich dann die Frage, wie solche Lesevorgänge auf schlichte nordische Handschriften wie den Codex Regius der Lieder-Edda übertragen werden können. Dass diese Lesevorgänge von den konventionellen abweichen, demonstriert beispielsweise auch die von Thali (2010: 426) präsentierte Handschrift, welche eine „ausführliche Leseanleitung“ enthält.
Aus der bisherigen Forschung lassen sich verschiedene Dichotomien bei den Lesepraktiken zusammenfassen, die sich zum Teil überschneiden: Erstens gibt es öffentliches und individuelles Lesen, die beide durch das Verb lat. legere ausgedrückt werden können. Eng damit zusammen hängt zweitens das laute und stille Lesen. Öffentliches Lesen kann nur laut sein, während sich individuelles Lesen zwischen stumm und hörbar laut bewegt. Diese Dichotomie ist folglich problematisch, da in den meisten Fällen unklar bleibt, wie laut jemand im Mittelalter individuell las. Drittens kommt die Wahrnehmung hinzu. Einerseits ist diese visuell, da der Leser den Text sehen muss, um den Inhalt direkt über das Auge aufnehmen oder den Text vorlesen zu können. Wenn die individuelle Lesung laut ist, kann der Leser selbst den Inhalt über das Ohr aufnehmen. Dieses aurale Lesen gilt auch für die Zuhörer einer öffentlichen Lesung. Das visuelle Lesen beschränkt sich nicht nur auf die Aufnahme des Textinhaltes über das Auge, sondern bezieht sich auf den Schriftträger als Ganzes, d.h. Bilder, Schriftbild und Aura werden ebenfalls wahrgenommen. Das verdeutlicht auch das Zeigen des Schriftträgers in einem juristischen oder liturgischen Rahmen vor einem analphabetischen Publikum.
Neben den Medien Schrift und Stimme spielen auch der Körper des Lesers und die Aura des Schriftträgers, sowie festgelegte Vorgänge bei den mittelalterlichen Lesepraktiken eine wichtige Rolle. Die Lesepraktiken sind ausserdem von bestimmten Rahmen abhängig. So wird ein liturgischer Text nicht gleich gelesen wie ein höfischer Roman oder eine Urkunde. Gerade diese Rahmen wurden in der Forschung zum Wortschatz nicht berücksichtigt oder scheinen sich nicht im Wortschatz zu widerspiegeln. Das gilt aber auch für die oben genannten drei Dichotomien, denn lat. legere kann für individuelles oder öffentliches, lautes oder stilles, aurales, orales oder visuelles Lesen stehen. Teilweise können die syntagmatischen Relationen, wie ein Dativobjekt oder eine Kausativkonstruktion die Art des Lesens verdeutlichen. Daneben gibt es eine Reihe von Verben, welche diesbezüglich eindeutiger sind, beispielsweise praelegere, audire oder videre. Interessanterweise kommen die gleichen Dichotomien in den Volkssprachen Mittelhochdeutsch, Altfranzösisch und Mittelenglisch vor. Die obenerwähnten Forscher haben allerdings das Altnordische nicht berücksichtigt. Ist der altnordische Wortschatz ähnlich strukturiert? Im Folgenden soll ein Überblick zur Forschung im Altnordischen Sprachraum gegeben werden.
Es gibt keine altnordischen Quellen, welche das Lesen so vertieft wie die Scholastiker Johannes von Salisbury und Hugo von St. Viktor reflektieren, jedoch zahlreiche Belege in verschiedenen Texten, die das Lesen erwähnen. Es gibt trotz des grossen wissenschaftlichen Interesses an der Schriftlichkeit im mittelalterlichen Norden aber keine so umfassende Forschung zum Lesen und dem Wortschatz des Lesens wie für das Lateinische oder Mittelhochdeutsche, sondern es wurden nur punktuell einzelne Lexeme anhand einzelner Belege, Texte oder Handschriften diskutiert.
In der Kontroverse von Frei- und Buchprosalehre interessierte vor allem die Lesefähigkeit von Laien, zu der Sveinsson (1956) in seinem Aufsatz zur Lese- und Schreibfähigkeit („läs- och skrivkunnighet“) zwei Beispiele aus der Sturlunga saga erwähnt: Das erste („leit á bréfit“) übersetzt er wörtlich ins Schwedische als „tittade på brevet“ ‚schaute den Brief an‘ und ergänzt dies, ohne es genauer zu kommentieren, mit „och läste“ ‚und las‘, das im Originaltext fehlt und lediglich eine Präsupposition darstellt. Das zweite („en er hann sá þat“) übersetzt er ebenfalls wörtlich „men då han såg det“ ‚aber als er ihn [= den Brief] sah‘. Auf die Bedeutung der beiden verba videndi, welche an die Pendants im Lateinischen erinnern, geht er nicht näher ein. Er deutet sie einfach als Lesen und damit als Beweis für die Lesefähigkeit von Laien. Demselben Thema „läs- och skrivkunnigheten“ widmet Lönnroth (1964: 52–57) ein Kapitel, in dem er sich auch mit dem Wortschatz des Schreibens (vgl. Kap. II.1.) auseinandersetzt, der Wortschatz des Lesens bleibt jedoch völlig unbeachtet. Er verweist lediglich auf die oben erwähnten Belege Sveinssons (1956). Trotz des Interesses an der Lesefähigkeit in diesen beiden Arbeiten spielt der Wortschatz eine nebensächliche Rolle.
Im skandinavischen Mittelalter existierten zwei Schriftsysteme, das lateinische Alphabet und die Runen, welche sich nicht nur auf den Wortschatz des Schreibens (vgl. Kap II.1.), sondern auch jenen des Lesens auswirkten. Spurkland (1994) analysiert den Wortschatz des Lesens in Runeninschriften und in Belegen verschiedener mittelalterlicher Texte. In den Runeninschriften kommt in 15 von 17 Belegen zum Lesen das polyseme altnordische Verb ráða vor, das neben ‚für jdn. sorgen, bestimmen, entscheiden‘ auch ‚deuten, raten‘ bedeuten kann (vgl. Baetke 2002: 481–481). Einmal kommt noch das Verb sjá ‚sehen‘ und in einem unsicheren Beleg noch das Verb kunna ‚können, wissen‘ vor. Es ist nicht sicher zu entscheiden, ob ráða ‚deuten‘ oder gar ‚lesen‘ bedeutet. Das Lesen von Runen unterscheidet sich von jenem des lateinischen Alphabets, weil die Graphem-Phonem-Korrespondenzen die Interpretation erschweren und weil es ausserdem Geheim- und Begriffsrunen gibt, so dass das Lesen der Runen generell mehr ein Deuten oder Raten ist (vgl. Spurkland 1994: 7–10). Das Verb ráða kommt vereinzelt auch in mittelalterlichen Handschriften vor, wo sonst das Verb lesa dominiert, das meistens für lautes Lesen steht. Es gibt jedoch nicht eindeutige Belege, wo es auch ‚für sich lesen‘ bedeuten kann. Für das individuelle Lesen erwähnt Spurkland (1994: 13) noch die Partikelverben fyrirlesa und yfirlesa. Es ergeben sich für das nordische Mittelalter also drei Lesepraktiken und zwei Schriftlichkeiten: Das ‚Raten‘ von Runen mit ráða neben dem lauten und stillen Lesen der lateinischen Buchstaben mit lesa oder teilweise fyrir- und yfirlesa (vgl. 1994: 14). Dieser runischen Schriftlichkeit gibt Spurkland (2004: 342) auch einen Namen: runacy, analog zum englischen literacy gebildet, welches für die lateinische Schriftlichkeit steht. Diese beiden Schriftlichkeiten unterscheiden sich in drei Punkten: 1. sprachlich in Altnordisch und Latein, 2. schriftlich in Runen und lateinischem Alphabet und 3. materiell in Holz und Pergament. In einem weiteren Aufsatz verdeutlicht Spurkland (2005: 148f.), dass diese Dichotomie für das späte Mittelalter und nicht für die Wikingerzeit gilt. Spurkland (2000) vergleicht auch die Präsentation von Briefen in einzelnen Kapiteln und Handschriften norwegischer Königssagas. Hier nimmt er die Unterscheidung in lesa ‚laut lesen‘ und yfirlesa bzw. fyrirlesa ‚für sich lesen, durchlesen‘ wieder auf und führt sie auf das von Johannes von Salisbury erwähnte lateinische Verhältnis von legere – praelegere zurück.1 Bei der Präsentation von Briefen kommt zum lauten und stillen Lesen noch eine dritte Art hinzu, wie die Botschaft an den Empfänger gelangen kann, nämlich indem der Bote dem Empfänger unabhängig vom geschriebenen Text die Botschaft erzählt, wobei er den Brief zeigt. Dies erinnert an die von Teuscher (2007: 270f.) erwähnte Praxis der Ostentation. Das Zeigen und Erzählen des Briefes wird auf Altnordisch als bera fram bréf ok segja ørendi ‚den Brief vorweisen und das Anliegen sagen‘ ausgedrückt. Diese Form des Mitteilens der Botschaft an den Empfänger beobachtet Spurkland (2000: 53–55) vor allem in den älteren Texten, zum Beispiel in der Ólafs saga helga aus der Kompilation Heimskringla, aus der er zwei Belege mit bera fram ‚vorweisen, vortragen‘ anführt. In der jüngeren Magnúss saga góða, ebenfalls aus der Heimskringla, wird der Brief vom Empfänger bereits vorgelesen, was mit dem Verb lesa ausgedrückt wird. Nicht nur verschiedene Teile derselben Kompilation, die in unterschiedlicher Zeit handeln, unterscheiden sich, sondern auch der gleiche Abschnitt in verschiedenen Handschriften. Die Szene aus der Magnúss saga góða betrifft den Briefverkehr zwischen den Königen Edward dem Bekenner von England (anord. Játvarðr) und Magnús Ólafsson von Norwegen in verschiedenen Handschriften. Der Text der Heimskringla stammt aus den 1230/40er Jahren und ist in Handschriften aus dem 14. Jahrhunderts überliefert. Die Handschrift Fagrskinna ist älter als die Heimskringla und stammt aus den 1220er Jahren. Ihr Text ist allerdings nur in Papierabschriften einer Vorlage aus der Mitte des 13. Jahrhunderts erhalten, die beim Brand von Kopenhagen 1728 verloren ging. In der Fagrskinna hört (heyra) König Edward die Briefe. In der der jüngsten Handschrift Flateyjarbók kommt der Text in einem Teil von 1480 vor, der ursprünglich aus der Handschrift Morkinskinna von 1280 stammt, in welcher der Abschnitt wegen einer Lakune allerdings fehlt. Hier treten neben den Verben bera fram ‚vorweisen, vortragen‘, heyra ‚hören‘ und lesa ‚lesen‘ noch das polyseme yfirlíta ‚1. betrachten, übersehen; 2. sich einer Sache annehmen‘ auf (vgl. Spurkland 2000: 57). Interessant ist die Paarformel „heyrde og las“ ‚hörte und las‘, welche verschiedene Interpretationen zulässt: Entweder las zuerst jemand König Magnús den Brief vor und er las ihn darauf nochmals, wobei offenbleibt, ob es sich um lautes oder stilles Lesen handelt, oder König Magnús ist ein aural reader und heyra und lesa sind synonyme Teile der Paarformel. Spurkland geht von einer graduellen Literarisierung („gradvis litterarisering“) aus, denn die Fagrskinna und Heimskringla repräsentieren noch die Praxis des 13. Jahrhunderts, als der Brief eine hauptsächlich symbolische Funktion hatte, um den Boten, welcher die Botschaft dem Empfänger mündlich mitteilte, zu authentifizieren, während der Text aus der Flateyjarbók für ein späteres Stadium steht, als der Brieftext schon gelesen wurde (Spurkland 2000: 63). Die Forschung von Spurkland zeigt, dass es im nordischen Mittelalter die beiden bereits erwähnten Schriftkulturen runacy und literacy und vier unterschiedliche Lesepraktiken gab, Runen deuten (ráða), lateinische Buchstaben laut (lesa) und still lesen (fyrirlesa, yfirlesa, yfirlíta), sowie geschriebene Texte nacherzählen (bera fram, segja), welche sich auch im altnordischen Wortschatz widerspiegeln. Was die lateinische Schriftlichkeit (literacy) betrifft, entspricht dieses Wortfeld weitgehend dem Lateinischen. Weder Green (2007) noch Parkes (1999) erwähnen etwas Vergleichbares zu den Verben segja und bera fram, Teuscher (2007: 261f.) beschäftigt sich nur marginal mit dem Wortschatz und erwähnt mittelhochdeutsche und lateinische Entsprechungen für „in den Händen halten“. Eine skandinavische Besonderheit ist die runische Schriftlichkeit (runacy), welche sich lexikalisch von der lateinischen unterscheidet.
In meiner Lizentiatsarbeit von 2009 habe ich den Wortschatz und die Mentalität der Schriftlichkeit in der Sturlunga saga untersucht. Ein Teil der Ergebnisse sind in Müller (2018) publiziert. Beim Lesen gibt es in der Sturlunga saga in der Lexik und Semantik ähnliche Dichotomien, wie sie Green, Parkes und Spurkland festgestellt haben, jedoch auch lexikalische Unterschiede und mangels Belegen einige unklare Fälle. Das häufigste Verb in Bezug zum Lesen ist lesa, das in verschiedenen Kontexten vorkommt. In drei Belegen ist es in einer Kausativkonstruktion mit dem Verb láta ‚lassen‘ enthalten (vgl. Müller 2018: 154f.), also muss es sich, wie auch Green (2007: 18f.) schon festgestellt hat, um lautes Lesen handeln. Bis auf zwei Belege bedeutet lesa in der Sturlunga saga ‚laut lesen‘, da sich aus dem Kontext immer Zuhörer ergeben, sei es beim Lesen von Briefen, Sagas oder liturgischen Texten. Die Oralität wird auch durch andere Lexeme verdeutlicht, besonders in einem Beleg mit dem Adverb opinberliga ‚öffentlich‘ (vgl. Müller 2018: 155), welches semantisch Greens (2007: 18) offenlîche entspricht, und dem Verb heyra ‚hören‘, der altnordischen Entsprechung für lat. audire oder mhd. hœren. Drei Belege von lesa stellen Sonderfälle dar: Im ersten liest Oddr Þórarinsson seinen Psalter. Hier darf man wegen der liturgischen Praxis annehmen, dass er ihn laut las, aber stilles Lesen kann nicht ausgeschlossen werden (vgl. Müller 2018: 155). Green (2007: 63) behandelt einen vergleichbaren Fall legere psalmum, womit nicht das Ablesen des Psalms aus dem Psalter gemeint ist, sondern das Rezitieren aus dem Gedächtnis. In einem weiteren Fall liest der Bischof den Kirchenbann auf nordisch (á norrœna tungu), damit die Betroffenen ihn verstehen. Dies präsupponiert, dass der Kirchenbann in einer anderen Sprache geschrieben ist, nämlich in der Kirchensprache Latein. Möglicherweise übersetzte der Bischof den Text ad hoc beim Vorlesen. Das bedeutet, dass nicht unbedingt immer der Text wortwörtlich vorgelesen, sondern eine schriftliche Vorlage mündlich wiedergeben wurde (vgl. Müller 2018: 155). Der Frage des Ablesens widmet sich auch Mundal (2018), die vermutet, dass auch Sagas nicht unbedingt abgelesen, sondern frei erzählt wurden, obwohl sie in schriftlicher Form vorhanden waren. Die Beleglage zum Lesen bzw. Erzählen der Sagas ist aber relativ dünn. Lexikalisch stellt Mundal (2018: 109, 112, 115f.) eine Unterscheidung in lesa ‚(ab)lesen‘ und segja bzw. kveða ‚sagen, erzählen‘. Dies trifft aber gerade bei liturgischen Texten nicht zu, wo legere psalmum und wahrscheinlich lesa psaltara nicht ablesen, sondern rezitieren bedeuten.
Das andere Extrem zeigt sich in einem Beleg, wo Órœkja Snorrason, Snorri Sturluson und Sturla Þórðarson einen Brief mit einer nichtlesbaren Schrift (stafkarlaletr ‚Bettlerschrift‘, s. a. Kap. III.2.3.4.) nicht lesen können. Hier zeigt sich, dass lesa auch das Merkmal ‚entziffern‘ enthält (vgl. Müller 2018: 156), das Voraussetzung für lautes und stilles Lesen ist. Die Beispiele mit dem Verlesen des Kirchenbanns und dem Entziffern der Bettlerschrift zeigen, dass Lesen bei der Schrift beginnt und in der mündlichen Wiedergabe endet.
Weiter gibt es ein Verb lesa upp, welches mit lesa weitgehend synonym ist, und in den von Spurkland untersuchten Texten nicht belegt ist. Seine Bedeutung ist aber enger, da es nur in einem öffentlichen Rahmen vorkommt und damit immer ‚laut lesen‘ bedeutet, während lesa diesbezüglich neutral ist (vgl. Müller 2018: 157). Die Semantik erinnert an legere und praelegere bei Johannes von Salisbury.
Das bei Spurkland (2000) besprochene polyseme Verb bera fram mit den Bedeutungen ‚vortragen‘ und ‚vorweisen‘ kommt in der Sturlunga saga in einem schriftlichen Kontext – mit dem Objekt bréf ‚Brief‘ – nur einmal vor (vgl. Müller 2018: 157). Aus dem Kontext kann nicht erschlossen werden, ob es ‚vortragen‘ oder ‚vorweisen‘ bedeutet. Wenn letzteres zutrifft, dass der Brief als Objekt gezeigt wurde, stellt sich die Frage, wie die Botschaft des Briefes an den Empfänger gelangte. Wurde sie vorgelesen oder vom Empfänger selbst gelesen? In Spurkland (2000) wird die Polysemie von bera fram nicht näher thematisiert, weil es in den Kontexten seiner Belege mehr Informationen gibt. Ähnliche Fragen stellen sich bei den verba videndi sjá und líta á e-t, für die es nur drei nicht eindeutige Belege gibt, von denen Sveinsson (1956) zwei erwähnt hat, weil anhand des Kontextes nicht sicher entschieden werden kann, ob diese Verben ‚sehen‘ oder ‚lesen‘ bedeuten (vgl. Müller 2018: 158f.). Auf jeden Fall gibt es hier eine weitere Parallele zu den lateinischen Verben videre und inspicere, sowie den mittelhochdeutschen Entsprechungen sehen und schouwen.
Glauser (2010: 319) nennt in seiner Untersuchung des Schrift- und Medienbewusstseins in den Prologen verschiedener altisländischen Werke zum Lesen die Verben lesa ‚read, read aloud‘, heyra ‚hear‘, (til)hlýða ‚listen to‘ und sjá á ‚look at‘. Das Verb sjá erwähnt er auch im Zusammenhang der Materialität des Schriftträgers, was mit Curschmanns (1984) Feststellung bezüglich mhd. schouwen übereinstimmt. Das Verb sýna ‚zeigen‘ (vgl. Glauser 2010: 313f.) referiert auf die Präsentation des Dokuments wie in Teuscher (2007). Auch hier lassen sich wieder Parallelen zum übrigen altnordischen Wortschatz, sowie zum Lateinischen und den anderen erforschten mittelalterlichen Volkssprachen erkennen: lesa steht für Lesen oder Vorlesen, heyra und (til)hlýða für die Wahrnehmung des Zuhörers, und sjá á für stummes Lesen.
Die Forschung zum Lesen im Altnordischen gibt im Wortschatz somit ein vielfältiges Bild, das sicher den unterschiedlichen Texten geschuldet ist. Spurkland hat Runeninschriften und Königssagas als Korpus, meine Lizentiatsarbeit die Sturlunga saga und Glauser (2010) Prologe. Spurkland (2000) zeigt trotz des kleinen Korpus, dass die Lesepraktiken und ihr Wortschatz vom Alter des Textes abhängen, so dass diese unbedingt in der Analyse berücksichtigt werden muss. Bei den Prologen ergibt sich ein zu heterogenes Bild, weil sie eher kurz sind und ihre Überlieferung über das Mittelalter hinausgeht. Die Sturlunga saga gibt mit einem grossen Text einen zu einseitigen Eindruck. Trotz der Heterogenität existieren Parallelen zum lateinischen und mittelhochdeutschen Wortschatz. So entspricht das Verb lesa weitgehend lat. legere bzw. mhd. lesen und bedeutet vor allem ‚laut lesen‘. Mögliche syntaktische Relationen wie bei Hugo von St. Viktor wie illi und ab illo wurden aber nicht berücksichtigt. Kausativkonstruktionen und das Adverb opinberliga haben allerdings Parallelen bei Green (2007). Ein Pendant zu praelegere ist lesa upp in der Sturlunga saga. Die Partikelverben fyrir- und yfirlesa haben keine direkte Entsprechung im Lateinischen und Mittelhochdeutschen. Lesa steht bei Spurkland (2000) auch für aurales Lesen, während sonst verba audiendi wie heyra und tilhlýða gebräuchlicher zu sein scheinen. Verba videndi wie sjá und líta können hingegen als stilles Lesen gedeutet werden, es bleibt aber offen wie sehr das Betrachten des Schriftträgers dabei im Vordergrund steht. Keine Entsprechung im Lateinischen hat das Partikelverb bera fram, welches auch nicht ‚lesen‘ im eigentlichen Sinn bedeutet, sondern nur das Präsentieren und Nacherzählen eines schriftlichen Dokuments. Eine skandinavische Besonderheit ist die Unterscheidung in die beiden Schriftlichkeiten, welche sich auch im Wortschatz widerspiegelt, so dass für das Lesen der Runen das Verb ráða verwendet wird. Es bleibt allerdings offen, wie Runen gelesen wurden.