Kitabı oku: «Die Schiffe der Waidami»
Klara Chilla
Die Schiffe der Waidami
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Geheimnisse
Skrupellos
Abschiede
Begegnung
Seher
Navigator
Kidnapping
Kerker
Torek
Am Strand
Puerto de la Cruz
Entdeckt
Das Versprechen
Die List
Das Gefecht
Gezeitenhöhle
Die Trennung
Aufbruch
Cartagena
Waidami
Unter Pulverdampf
Epilog
Danksagung
Leseprobe "Die Tränen der Waidami"
Impressum neobooks
Prolog
Das kleine Fischerdorf schmiegte sich in der unheilvollen Sturmnacht schutzsuchend an die hinter ihm aufragenden Steilwände. Der Regen peitschte vom Meer aus gegen die Fenster der schlichten Hütten. Riesige Wellen griffen nach den Fischerbooten und drohten sie mit einem einzigen Bissen zu verschlingen.
Die Nacht war finster und schien nicht enden zu wollen.
Eine Frau beugte sich in der warmen Abgeschiedenheit ihrer Hütte über ihren kleinen Sohn, der auf dem Bett seiner Eltern eingeschlafen war. Sie wickelte ihn fürsorglich in ihre Decke und strich ihm über sein friedliches Gesicht. Ihre Blicke durchsuchten die Dunkelheit hinter dem Fenster, und sie atmete erleichtert auf, als sie ab und zu das Aufleuchten des kleinen Leuchtfeuers an der Küste sah. Zärtlich flüsterte sie dem Jungen die Worte ins Ohr, die schon ihre Mutter ihr in solchen Nächten zugeraunt hatte: „Dieses Licht ist Geborgenheit in einer dunklen Nacht. Solange es dieses Licht gibt, weißt du, dass die Welt noch existiert.“ Sie gab ihm einen Kuss und legte sich dann zu ihm, um kurz darauf ebenfalls in einen tiefen Schlaf zu fallen.
Niemand in diesem Dorf merkte, wie sich später in der Nacht dunkle Schatten der Fischerhütte näherten. Unbemerkt betraten sie die Fischerhütte, unbemerkt hoben sie das Kind aus seinem Bett und unbemerkt verließen sie für immer diese Gegend.
Geheimnisse
- Sieben Jahre später –
Das zehnjährige Mädchen saß vor der kleinen Hütte und malte gelangweilt mit der Spitze eines brüchigen Zweiges Bilder in den Sand. Nachdenklich blickte sie ihrem Vater hinterher, der ihr mit einem leisen Abschiedswort über den Kopf streichelte, um dann einen Weg in den Dschungel einzuschlagen. Einer plötzlichen Eingebung folgend sprang sie auf.
Wohin ging er bloß jeden Tag, seitdem sie auf diese Insel gekommen waren? Jeden Tag schlug er die gleiche Richtung ein und kehrte erst Stunden später wieder zu ihr und ihrer Mutter zurück.
Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter.
„Ich geh an den Strand, Mutter“, rief sie.
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie ihrem Vater hinterher. Auf leisen Sohlen schlängelte sie sich durch die Pflanzen und orientierte sich nur an dem Rascheln, das sie vor sich im Dschungel hörte. Ihr Vater gab sich keinerlei Mühe, lautlos den Dschungel zu durchqueren, also konnte es sich hierbei auch kaum um ein großes Geheimnis handeln. Mit diesem Gedanken verscheuchte sie schnell das aufkeimende schlechte Gewissen wie eine lästige Fliege.
Die eingeschlagene Richtung führte sie zweifellos an den Strand. Während sie vorsichtig über hochstehende Wurzeln kletterte und Blätter beiseiteschob, stellte sie die wildesten Vermutungen über das geheimnisvolle Tun ihres Vaters an.
Vielleicht traf er sich mit anderen Waidami, um endlich etwas gegen den Obersten Seher und seine Piraten zu unternehmen. Möglicherweise hatte er aber auch einen Piratenschatz gefunden, der so groß war, dass er immer nur kleine Teile davon unauffällig zu ihrer Hütte schaffen konnte.
Als sie noch über diese Ideen nachgrübelte, hörte sie plötzlich die Stimme ihres Vaters. Unwillig verzog sie das Gesicht. Hatte er sich bisher auch keine Mühe gegeben, sich leise fortzubewegen, sprach er nun leider in einem gedämpften Tonfall. Sie hatte also Recht, und er traf sich heimlich mit jemandem. Doch mit wem?
Die Augen des Mädchens verengten sich in dem vergeblichen Bemühen, das dichte Grün zu durchdringen, um endlich einen Blick auf den geheimnisvollen Unbekannten werfen zu können. Entschlossen schob sie sich durch die letzten Pflanzen. Ihr Atem beschleunigte sich vor Aufregung, und ihr Herz klopfte bis zu ihrem Hals. Vor ihr öffnete sich ein feinkörniger Sandstrand, gegen den das Meer in sanften Wellen auflief. Vereinzelte Palmen bogen sich dem klaren Wasser entgegen, dazwischen Felsbrocken wie hingeworfen. Ihr Vater stand vor einem dieser Felsen und redete mit jemandem, den sie nicht sehen konnte. Wenige Augenblicke später holte sie überrascht Luft, als ein Junge von dem Felsbrocken sprang und leichtfüßig vor ihrem Vater im aufwirbelnden Sand landete.
Ihr Vater unterhielt sich mit einem Kind? Das war also der geheimnisvolle Unbekannte?
Ihr Vater lachte, legte dann dem Jungen einen Arm um die schmalen Schultern und führte ihn zu einem Schattenplatz unter den Palmen.
Erstaunt fuhr sie sich über die Augen. Der Junge war ungefähr in ihrem Alter und offensichtlich kein Angehöriger ihres Volkes. Seine Haut war zwar gebräunt, doch viel heller, als sie es jemals zuvor gesehen hatte. Geschmeidig ließ er sich mit überkreuzten Beinen neben ihren Vater sinken, ohne seine großen Augen von ihm zu nehmen, die voller Interesse waren. Beide vertieften sich in ein intensives Gespräch, das sie zu ihrem Leidwesen nicht verstand. Angestrengt überlegte sie, wie sie sich unbemerkt dem Sitzplatz der beiden nähern konnte. Eine stetige Brise strich über den vor Hitze schwirrenden Sand, verfing sich in den Palmwedeln und Blättern der anderen Gewächse, sodass ein fortlaufendes Rascheln herrschte. Das Mädchen grinste breit. Diesen Umstand würde sie für sich nutzen. Sie konzentrierte sich auf das Rascheln der Blätter in ihrer unmittelbaren Umgebung und folgte dessen natürlichem Rhythmus, um sich so unauffällig wie möglich darin fortzubewegen. Es dauerte Ewigkeiten, aber sie arbeitete sich geduldig weiter. Als sie endlich auf gleicher Höhe angelangt war, ließ sie sich vorsichtig auf den Boden nieder und schob einen dornenbesetzten Zweig beiseite. Zufrieden sah sie sich in ihrem kleinen Beobachtungsposten um und richtete dann ihren Blick durch ein kleines Loch im Blattwerk vor sich. Die Stimme ihres Vaters erklang nun laut und deutlich.
„… werde ich dir erzählen, warum sie uns die Fähigkeit schenkte, aus den Schiffwracks einzigartige, neue Schiffe zu bauen, die mit ihren Kapitänen eine unvergleichliche Bindung eingehen.“
Er erzählte diesem Jungen also gerade eine der alten Geschichten ihres Volkes. Früher hatte er ihr diese Geschichten immer erzählt, und sie hatte sie geliebt. Mit seiner wohlklingenden Stimme hatte er sie immer wieder in seinen Bann geschlagen und die Bilder der Sagenwelt der Waidami vor ihrem inneren Auge lebendig werden lassen.
Das Mädchen richtete nur kurz ihr Augenmerk auf ihren Vater, dann wurde sie von dem Jungen angezogen, wie ein Moskito von der blutgefüllten Wärme eines Körpers. Seine eisblauen Augen waren gebannt auf sein Gegenüber gerichtet. Jedes Wort schien er in sich aufzusaugen, als wollte er nicht zulassen, dass er sie jemals vergessen könnte.
Die Zeit stand still, während sie ihn betrachtete. Während sie den Wind verfolgte, der auf seinem Weg über den Strand in den weizenblonden Haaren hängenblieb, als könnte er sich von der schulterlangen Pracht nicht trennen. Wie die Sonne den gebräunten Körper liebkoste und sich die fein geschwungenen Lippen bewegten, als er ihrem Vater eine Frage stellte.
Das Mädchen rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf, um sich besser auf das Gespräch konzentrieren zu können. Bereits nach wenigen Worten hatte sie die Geschichte der Göttin Thethepel erkannt. Es war die Geschichte der Göttin des Meeres und des Feuers, die der Sage nach die Insel ihres Volkes erschaffen hatte, indem sie diese mit der Hilfe eines Vulkans aus dem Meer erhob. Mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht versank sie in dem Anblick des Jungen und lauschte, ebenso wie dieser, fasziniert den Worten ihres Vaters.
*
Die Wochen zogen dahin, in denen das Mädchen tagtäglich ihrem Vater in den Dschungel folgte, um den geheimnisvollen Jungen zu beobachten. In ihrem Versteck lauschte sie den Erzählungen ihres Vaters und wie er dem Jungen die alte Sprache ihres Volkes lehrte. Zu ihrem Erstaunen berichtete er auch offen über die derzeitige Lebensweise der Waidami und wie sehr er den Missbrauch ihrer Fähigkeiten missbilligte. Ihr Vater zeichnete ein schonungsloses Bild von dem rücksichtslosen Einsatz der Piraten durch die Waidami, als wollte er den Jungen auf einen bestimmten Weg lenken unmerklich
Das Mädchen ließ den Jungen dabei so gut wie nie aus den Augen. Sie war inzwischen so mit seinen Bewegungen vertraut, dass sie an diesem Morgen bis ins Innerste erschrak, als sie ihn sah.
Sie hatte sich diesmal noch vor ihrem Vater davongestohlen, da sie nicht länger abwarten konnte, den Jungen wiederzusehen. Endlich würde sie ihn einmal ganz alleine betrachten können, ohne dass die Worte ihres Vaters sie ablenken konnten. Ein Hochgefühl trieb sie durch den Dschungel. Diesmal legte sie den Weg wesentlich schneller zurück, da sie erst kurz vor dem Strand vorsichtig sein musste. Ungeduldig suchte sie sich einen günstigen Platz, von dem sie eine gute Sicht haben würde. Doch der Anblick, der sich ihr auf dem friedvollen Strand bot, erschütterte sie zutiefst.
Er war bereits am Strand und trat gerade mit steifen und ungelenken Schritten aus dem Wasser. Die Augen des Mädchens weiteten sich, als sie die vielen kleinen und großen Wunden auf seinem Oberkörper entdeckte. Seine sonst so anmutigen Bewegungen wirkten mühsam, und er blutete stark aus einer tiefen Wunde auf der rechten Schulter. Sein Gesicht war bleich und tiefe Schatten lagen um seine Augen. Mit schweren Schritten ging er auf den üblichen Schattenplatz zu, wo er sich unter qualvollem Stöhnen in den Sand fallen ließ.
Als er ihr im Sitzen leicht die Rückseite zudrehte, unterdrückte sie gerade noch den erschrockenen Laut, der sich über ihre Lippen stehlen wollte. Blutige Striemen zogen sich über seinen Rücken. Ein unverkennbares Zeichen, dass er ausgepeitscht worden war. Zeugen grausamer Gewalt, die sich in das junge Leben einbrannten, seine Seele prägten und nie mehr auszulöschen waren.
Ihr eigener Herzschlag pochte schmerzhaft gegen ihre Schläfen. Schrecken und Mitleid schnürten ihre Kehle zu und hinderten sie daran zu atmen. Verzweifelt presste sie eine Faust gegen ihren Mund. Tränen des Zorns quollen aus ihren Augen. Ihre Schultern zuckten in einem krampfartigen Takt, während sie darum kämpfte, das hysterische Schluchzen, das sich ihren Hals hochquälte, zu unterdrücken. Ein nach Luft schnappendes Aufheulen entwich ihren zusammengepressten Lippen. Der Junge richtete sich auf und starrte sekundenlang auf die Blätter. Eine Welle der Panik brach über sie herein. Sie wollte aufspringen und kopflos in den Dschungel flüchten, als ein lautes Knacken, nicht weit von ihrer Position entfernt, die Ankunft ihres Vaters ankündigte.
Verstört kauerte sie sich auf den Boden und ließ ihren Tränen freien Lauf. Wer mochte dem Jungen das nur angetan haben und warum? Hatte man ihn schon öfters derart misshandelt? Saß deswegen immer der bittere Zug in seinen Mundwinkeln, als hätte er bereits zu viel Schmerz erlitten?
Sie weinte bitterlich und barg den Kopf auf ihren Knien, ihre Arme wie zum Schutz darübergelegt. Sie weinte, bis sie sich vollkommen leer fühlte. Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, gewann, trotz aller Erschöpfung, die Neugier wieder die Oberhand. Zu ihrer großen Erleichterung war ihr Vater bereits dabei, die Verletzungen des Jungen sanft, aber mit viel Geschick zu versorgen. Dieser ließ sich dankbar in die Fürsorge ihres Vaters fallen, und sie fragte sich einmal mehr, warum er das alles tat? Das Verhalten ihres Vaters war ihr ein Rätsel, aber vermutlich würde sie auf ihre Fragen keine Antwort erhalten.
Das Mädchen seufzte und holte tief Luft. Gerade gab ihr Vater dem Jungen etwas zu trinken. Als sie sich fragte, was er ihm wohl dort angeboten hatte, fiel sein Körper plötzlich auf die Seite und blieb reglos im Sand liegen.
„Nein!“
Mit einem Satz sprang sie auf, als sie sich auch schon ungläubig dem beruhigenden Gesicht ihres Vaters gegenübersah. Liebevoll nahm er sie an der Hand und zog sie hinter sich her. Er wirkte nicht im Mindesten überrascht, und ein wissendes Lächeln saß in seinen Augenwinkeln. Wahrscheinlich hatte er bereits gewusst, dass sie die beiden beobachtet hatte. Auf einmal kam sie sich unendlich dumm vor. Als sie an der Hand ihres Vaters durch das Blattwerk trat und auf den Jungen zuging, traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag.
„Er wird ein Pirat, nicht wahr?“, keuchte sie auf.
„Ja, in ein paar Tagen ist es so weit. Er ist nun alt genug, sein Schiff ist bereits gebaut, und das Bündnis kann vollzogen werden.“ Die grünen Augen ihres Vaters fixierten sie ernst.
„Warum …“ Ihre Stimme brach. Ihr Vater war niemals damit einverstanden gewesen, dass die Waidami Piraten heranzogen und sie dann auf Kaperfahrt schickten. Und jetzt lernte er selbst einen von ihnen an?
„Warum? Warum hast du all die Zeit mit ihm verbracht?“ Zorn brach in ihr aus und forderte eine Erklärung.
„Ich weiß, dass dieser Junge hier die Geschichte unseres Volkes verändern wird. Auch wenn es dir im Augenblick unverständlich sein mag, ist er die einzige Hoffnung, die wir haben, um Bairani einst vernichten zu können. Erst dann werden wir unsere alte, friedliche Lebensweise zurückgewinnen und nicht mehr mit unseren Piraten über andere Schiffe herfallen. Das ist alles, was die meisten in unserem Volk sich wünschen. Alles, was ich dazu beitragen kann, habe ich dem Jungen beigebracht.“
Ihr Vater wartete auf ein Zeichen des Verständnisses seiner Tochter. Doch das Mädchen war zu verwirrt. Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf, und sie sah ihn verständnislos an, als er sie anlächelte und auf den Jungen deutete, der immer noch leblos ausgestreckt im Sand lag.
„Komm, schau ihn dir genauer an. – Deswegen hast du schließlich die letzten Wochen im Gebüsch zugebracht, nicht wahr?“
Vorsichtig, fast als könnte sie ihn aufwecken, trat sie bedächtig an den schlafenden Jungen heran.
„Wird er auch …“ Sie wagte nicht, den Satz zu beenden und sah ihren Vater fragend an.
„Schiffe überfallen und versenken?“ Ihr Vater nickte ernst, und ihr Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken daran.
„Aber er wird es besser machen.“
„Wann?“
„Wenn ihr euch wiedersehen werdet.“
Langsam beugte sie sich über den Jungen und studierte das friedliche Gesicht. Immer wenn sie ihn sonst beobachtet hatte, war sein Gesicht voller Anspannung gewesen. Jetzt lag er völlig entspannt vor ihr, und seine gleichmäßigen Züge brannten sich fest in ihr Gedächtnis. Dann fiel ihr Blick auf seinen Oberkörper, und sie deutete auf die linke Brustseite.
„Wird er dort tätowiert werden?“
Ihr Vater nickte erneut und legte seine große Hand auf den Punkt über dem Herzen.
„Die Tätowierung kommt hierhin, damit eine Verbindung zum Herzen entstehen kann. Sie ist so tief, dass sie direkt von dort durchblutet wird und eins mit dem Körper wird. Deswegen wirken die Tätowierungen auch so lebendig.“
„Wird es ihm wehtun?“ Ihre Augen verfolgten voller Bangen das erneute Nicken ihres Vaters, der sie aufmunternd anlächelte.
„Er wird sich später nicht mehr daran erinnern können; so wie er alles vergessen wird, was vor der Tätowierung jemals geschehen ist.“
Ihr Vater hielt seine Hand weiterhin auf der linken Brusthälfte und murmelte kaum verständliche Worte einer ihr unbekannten Sprache. Er begann, die Worte zu einem Gesang zu verweben. Der Gesang klang eindringlich und schwebte förmlich über dem Jungen. Beinahe konnte sie die Klänge sehen, die sich einem Netz gleich über den Kopf des Jungen legten und in sein Ohr drangen. Mit einer plötzlichen Bewegung öffnete er seine Augen und starrte in den Himmel. Eine leichte Berührung an der Schulter ließ sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Vater richten, der ihr unmissverständlich klarmachte, dass sie sich über den Jungen beugen sollte.
Gehorsam kniete sie sich neben den Jungen, stützte ihre Hände auf beiden Seiten seines Kopfes in den Sand und schaute ihm erneut forschend ins Gesicht. Seine eisblauen Augen, die von langen dichten Wimpern umrahmt waren, waren weit aufgerissen, doch der Blick richtete sich ins Leere. Hätte sich die Brust nicht weiter in einem leichten Takt des Lebens gehoben und gesenkt, wäre sie überzeugt gewesen, dass er tot sein musste.
Sie zitterte und konnte ihren Blick nicht mehr von dem hübschen Gesicht abwenden. Das Murmeln ihres Vaters hatte sie inzwischen ebenfalls vollständig eingehüllt. Die Klänge schwirrten in einem intensiven Netz um ihren Kopf und drangen ungehindert an Stellen in ihrem Bewusstsein, von deren Existenz sie selbst nichts ahnte. Sie drangen dorthin, wo der Verstand keinen Zutritt erhielt und nur Gefühl und Instinkt die Handlungen lenkten.
Ihr Kopf wurde immer schwerer, und sie hatte Mühe, sich nicht einfach auf den Körper unter sich fallen zu lassen. Das Gesicht des Jungen verschwamm vor ihren Augen, doch sie wollte es nicht verlieren. Sie wollte ihn für alle Ewigkeiten ansehen.
Der Klang des Gesanges wurde noch eindringlicher, und sie gab den winzigen Widerstand auf, der sie zwang, die Augen weiterhin offenzuhalten. Ihre Lider senkten sich schwer über die Augen, und ihre Arme gaben unter ihr nach. Wie ein Stein sackte sie auf dem Körper des Jungen zusammen, der im gleichen Moment seine Augen schloss, als wäre eine Tür zugeschlagen worden.
Das Mädchen hörte nicht mehr, wie der Gesang gleichfalls endete, ihr Vater sie zärtlich in seine Arme nahm und sie zurück zu ihrer Mutter trug, die schon ungeduldig wartend in der Tür stand.
Sie bemerkte auch nicht, dass ihr Vater zu dem Strand zurückkehrte, um über den Schlaf des Jungen zu wachen und um sich anschließend, von ihm für immer zu verabschieden.
Skrupellos
- Fünfzehn Jahre später - Die Nebelbank war dicht und undurchdringlich. Jess lachte vergnügt auf, als der Spanier unter voller Fahrt vor ihnen hinein segelte. Offensichtlich hoffte er, dort seinen Verfolger abschütteln zu können. Ihm schien nicht klar zu sein, wer ihn verfolgte. Vor der Monsoon Treasure gab es kein Entkommen, für niemanden. Gerade verschluckte der Nebel die dickbauchige Galeone, als hätte es sie nie gegeben. Cale, sein Erster Maat, hielt direkten Kurs auf den Nebel. Seine braunen Augen funkelten Jess ungeduldig an, während er einen Schritt zur Seite machte, um das Steuer frei zu geben. „Ich denke, du willst übernehmen?“, fragte er mit einer spielerisch angedeuteten Verbeugung. Jess grinste und nahm seinen Platz am Steuerrad ein. „Möge die Jagd beginnen.“ „Aye, aye, Captain.“ Cale grinste zurück und ging gelassen zum Hauptdeck. Jess Morgans Hände umschlossen in einer fast liebevollen Geste das Steuerrad, dann gab er dreien seiner Männer einen Wink, die daraufhin Trommeln von ungewöhnlich großen Ausmaßen an Deck brachten. In geübten Bewegungen stellten sie die Trommeln dicht nebeneinander auf und begannen in wirbelnden Schlägen stakkatoartig einen Rhythmus zu schlagen, der den Männern der Monsoon Treasure in die Glieder fuhr und sie den Kampf herbeisehnen ließ.
*
An Deck der spanischen Galeone verfielen die Menschen in eine furchtsame Starre. Die dumpfen, aber kraftvollen Töne der Trommeln drangen wie Klänge aus einer anderen Welt herüber. Unheil schwang auf ihnen mit und brachte es mit jedem Wimpernschlag näher an sie heran. Panik breitete sich unter der Besatzung und den Passagieren aus, die an die Reling traten und verzweifelt versuchten, den dichten Nebel mit ihren Augen zu durchdringen. Doch die Quelle der unseligen Klänge blieb vor ihren Blicken verborgen. Sie selbst hatten mit ihrer Flucht in den Nebel dafür gesorgt, dass sie nun blind und hilflos den dröhnenden Schlägen der Furcht ausgeliefert waren.
Der Kapitän der Nuestra Senora di Hispaniola wich langsam von der Reling zurück und bekreuzigte sich.
„Oh, madre de dios, das muss der Herzschlag des Teufels sein.“
*
Jess beobachtete die Trommler, deren nackte Oberkörper vor Schweiß glänzten. Ihre Muskeln traten im Takt ihrer Schläge hervor, als würden sie zu dem ekstatischen Rhythmus tanzen. Die Köpfe der Trommelstöcke waren in der Bewegung kaum mehr sichtbar, wenn sie mit absoluter Präzision auf die Trommeln trafen.
Langsam schloss er die Augen. Die Ausstrahlung der Crew drängte sich in sein Bewusstsein und hielt ihn einen flüchtigen Moment davon ab, mit seinen Sinnen nach der Treasure zu tasten. Seine Männer wurden von den Trommeln so aufgestachelt, dass sie kaum noch zurückzuhalten waren. Wie ein Rudel blutgieriger Wölfe lauerten sie darauf, endlich auf den Gegner zu treffen. Doch Jess interessierte sich jetzt nicht weiter für sie und konzentrierte sich auf die Monsoon Treasure. Er verstärkte den Griff seiner Hände um das Steuerrad, ließ sein Bewusstsein in das Schiff sickern und stellte so die Verbindung mit ihr her. Die Ruhe des Schiffes legte sich wie ein Tuch über ihn, und er spürte, wie sie voller Zufriedenheit mit ihrem Bug den Dunst zerschnitt. Jess war jetzt vollkommen alleine. Alles andere verblasste um ihn herum, und er sah und hörte nichts mehr von dem, was auf Deck vorging. Er war alleine mit der Treasure und versank in das Meer unter ihrem Kiel. Seine Sinne tauchten unter ihr hindurch, entfalteten sich in Richtung Bug und suchten systematisch die See ab. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da hatte er bereits den Schiffsrumpf der spanischen Galeone vor ihnen ausgemacht. Eine leichte Drift hatte das Schiff etwas nordwärts getrieben. Instinktiv steuerte Jess die Monsoon Treasure in die gleiche Richtung.
Der Spanier war nicht weit vor ihnen. Die Galeone arbeitete sich schwerfällig durch den Nebel. Es würde einem Kinderspiel gleichen, sie aufzubringen.
Für einen kurzen Moment drängte sich die Angst der Passagiere an Bord des fremden Schiffes in seinen Kopf, doch Jess schob diese Empfindungen sofort beiseite. Sie hatten keinen Nutzen für ihn. Er kannte kein Mitleid für diese Menschen. Sie kamen in die neue Welt, um Reichtümer anzuhäufen und vertrieben dabei rücksichtslos die einheimische Bevölkerung von ihrem Land. Abneigung erfüllte ihn. Erneut tauchte er mit seinem Bewusstsein bis zum muschelbewachsenen Kiel der spanischen Galeone. In wenigen Augenblicken würde das Schiff vor ihnen im Nebel auftauchen.
Jess öffnete die Augen und seine Gedanken klarten sich auf. Cale Stewart stand mit verschränkten Armen neben ihm und sah ihn erwartungsvoll an.
„Wir gehen gleich längsseits. Klar machen zum Entern.“
Cale hatte bereits ein Entermesser in der Hand und seine dunklen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, damit sie im Kampf nicht störten. Die Crew stand an der Reling. Pistolen steckten in ihren Gürteln, Enterhaken ruhten wurfbereit in ihren Händen, während ihre Augen auf die Nebelwand gerichtet waren. Als sich endlich die Umrisse des Spaniers aus den wabernden Schwaden schälten, klang ein Schrei dumpf zu ihnen herüber. Die Spanier hatten ohne Zweifel bemerkt, dass die Monsoon Treasure sie fast völlig lautlos eingeholt hatte und bereits an ihrer Backbordseite längsseits ging. Jess lächelte und gab Cale einen Wink.
Enterhaken flogen daraufhin durch die Luft und verkeilten sich tief im Schanzkleid. Die spanische Galeone wurde wie ein störrisches Tier mit kräftigen Zügen an die Treasure herangezogen. Jintel drängte mit seiner massigen Gestalt vorwärts und enterte als Erster über; dicht gefolgt von Sam, Kadmi und dem ungeduldigen Rest der Crew, deren Entermesser im milchigen Licht des Nebels matt aufblitzten.
Als sie sich den Piraten so unvermittelt gegenübersahen, wichen die Spanier erschrocken zurück, doch der wütende Befehl eines älteren Mannes ließ sie innehalten.
„Wehrt euch, ihr verlausten Affen, oder wir werden alle nicht den nächsten Tag erleben!“ Die heisere Stimme bellte die einzelnen Worte heraus und rüttelte die Männer auf. Ihre Hände schlossen sich fester um die Griffe ihrer Messer, und sie stellten sich Jintel und den anderen verzweifelt entgegen.
Jess betrachtete ungerührt die Szene. Es war nicht nötig, in den Kampf einzugreifen. Ein einziger Blick reichte aus, um zu erkennen, dass die Seeleute völlig unbedarft im Umgang mit ihren Waffen waren. Sie waren keine ernst zu nehmenden Gegner und würden sich bald schon ergeben. Trotzdem entbrannte ein kurzer Kampf. Einer der Passagiere stürmte mutig auf Cale zu und ließ dabei sein Schwert drohend durch die Luft zischen. Die schlanke Gestalt seines Freundes wich leichtfüßig den Schlägen aus und begann, den Mann zu attackieren. Unter der schnellen Abfolge von Cales Hieben brach die Gegenwehr des Mannes zusammen. Schweratmend stand er ihm gegenüber, während seine Paraden immer langsamer erfolgten. Cale wartete und ließ seinen Gegner zu Atem kommen, bevor er erneut zum Angriff überging. Jess runzelte unwillig die Stirn und wandte sich ab. Diese ehrenwerte Eigenart Cales würde ihn irgendwann in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Nicht weit von ihm sanken die ersten Seeleute auf die Planken, und Cales Gegner brach mit einem erstickten Röcheln leblos zusammen. Von einem Augenblick auf den anderen erstarb das Geräusch von aufeinanderprallenden Klingen. Der Seemann, der gerade noch zur Gegenwehr aufgerufen hatte, ließ sein Schwert sinken. Die blassen Augen in seinem von Jahren auf See gezeichneten Gesicht wirkten mutlos und trübe.
„Wir ergeben uns“, sagte er mit tonloser Stimme.
Cale, der nicht weit von dem Mann stand, nickte kurz.
„Jintel, nimm dir ein paar Leute und durchsucht das Schiff. Der Rest treibt die Gefangenen zusammen!“ Cales Ruf gellte laut und vernehmlich über das Schiff.
Jintel gab augenblicklich Dan, Bill und Rachid einen Wink, die daraufhin mit ihm unter Deck verschwanden. Der Rest der Männer trieb die Spanier auf dem Hauptdeck zusammen, die sich wie ein Haufen verängstigter Schafe aneinanderdrängten. Einige der Männer bekreuzigten sich und verfielen in wimmernde Gebete, während andere voller Furcht auf die Piraten starrten und bereits im Geiste mit ihrem Leben abgeschlossen hatten.
Als Jess über die Laufplanke auf das Schiff schlenderte, richteten sich ihre Gesichter flehend auf ihn. Beiläufig ließ er seinen Blick über die Leute wandern. Dann blieb er stehen und sah sich suchend um. Von dem Kapitän war weit und breit nichts zu entdecken, aber aus dem Heckkastell strömte mühsam unterdrückte Panik auf ihn ein. Jess schnaubte ungehalten und wandte sich an Cale, der unmittelbar neben ihm stand.
„Cale, ich denke, unser spanischer Kapitän scheint noch etwas Wichtiges erledigen zu müssen. Ich werde mal nachsehen, ob ich ihm in seiner Kajüte meine Aufwartung machen kann.“
„Aye, Captain.“ Cale nickte zustimmend und gab Finnegan einen Wink, der sofort zu Jess aufschloss.
*
Capitan Juan Ramirez y Conzellon war in seine Kajüte geflüchtet, als die ersten Piraten das Schiff enterten. Er musste die Derroterro, die Sammlung der spanischen Seekarten, über Bord werfen. Die Seekarten enthielten detaillierte Angaben über die spanische Silberflotte und wann diese aus den Kolonien nach Spanien zurückkehren würden. Die Derroterro war für alle Piraten eine heiß begehrte Beute und durfte diesem elenden Pack nicht in die Hände fallen.
Der Capitan schlug gehetzt die Tür hinter sich zu und schloss sie ab. Dann flog sein Blick zu seinem Schreibtisch. Gedämpfte Kampfgeräusche drangen an sein Ohr, und zu seiner eigenen Schande musste er sich eingestehen, dass er vor Angst zitterte. Er hatte das Schiff in dem Augenblick erkannt, als es wie ein Geisterschiff aus dem Nebel aufgetaucht war und an der Backbordseite der Nuestra Senora di Hispaniola aufschloss. Es war die gefürchtete Monsoon Treasure mit Captain Jess Morgan, der im Ruf stand, mit dem Teufel im Bund zu stehen. Er versenkte die überfallenen Schiffe stets gnadenlos mit der gesamten Besatzung, niemand überlebte ein Zusammentreffen mit ihm.
Conzellon hörte die Schreie seiner Männer und der wenigen Passagiere, die sich an Bord befanden. Die plötzliche Stille, die darauf folgte, jagte ihm einen Schauer über den Körper. Fieberhaft kramte er in einer Schublade seines Kartentisches auf der Suche nach dem Schlüssel für den Schrank, in dem er die kostbare Derroterro verwahrte. Er musste sich beeilen. Jeden Moment konnten sie vor seiner Tür erscheinen. Mit Bedauern dachte er an seine Frau und seine Kinder in Spanien, während er den Schrank aufschloss und die lederne Mappe mit zitternden Fingern an sich nahm. Er wollte auf das Fenster zueilen, als er in seiner Bewegung erstarrte. Jemand hatte gerade versucht, die Tür zu öffnen. Unendlich langsam verfolgte der Spanier mit seinen Augen die Entfernung von der Tür bis zu seiner Position und weiter zu den Fenstern, durch die fahles Licht in die Kajüte fiel. Die Luft war plötzlich unerträglich stickig. Conzellon rang schwer nach Atem und öffnete mit einer hektischen Bewegung seinen Hemdkragen. Er brauchte dringend frische Luft. Entschlossen brachte er sich mit zwei Sätzen an das Fenster, als die Tür krachend aus ihrer Verankerung gerissen wurde. Seine Hand, die gerade das Fenster hatte öffnen wollen, sackte kraftlos herab. Ein eisiges Prickeln lief über seine Kopfhaut und wanderte den Rücken hinunter. Steif drehte er sich um, als würde er von unsichtbaren Fäden gezogen. Sein Blick fiel zuerst auf eine große kantige Gestalt, die ihn finster anstarrte. Der Pirat hielt sein Schwert kampfbereit in den Händen und trat nun, ihn nicht aus den Augen lassend, zur Seite und gab den Blick auf den Eingang frei.
Hinter ihm löste sich aus dem Schatten eine schlanke Gestalt, die mit der Geschmeidigkeit eines Raubtieres in die Kajüte glitt. Conzellon schluckte schwer und presste die Lippen aufeinander. Sein verräterisches Herz raste, als könnte es so aus der Gefangenschaft seines Körpers flüchten und dadurch dem unausweichlichen Tod entkommen. Der Mann war groß und vollständig in Schwarz gekleidet. Er hatte lediglich ein blutrotes Tuch um seine Hüften geschlungen, in denen zwei edle Steinschlosspistolen und ein Entermesser steckten. Sein Hemd war bis zur Mitte lässig geöffnet und offenbarte auf seiner linken Brust eine große und detailgetreue Tätowierung eines schmal gebauten Segelschiffes. Seine weizenblonden Haare hatte der Pirat zu einem Zopf zusammengebunden. Zu des Spaniers Erstaunen hielt der Pirat keine Waffe in den Händen. Entweder erwartete er keine Gegenwehr oder wusste, dass diese angesichts der brutalen Gestalt in seiner unmittelbaren Nähe vollkommen aussichtslos war.