Kitabı oku: «Die Tränen der Waidami»

Yazı tipi:

Klara Chilla

Die Tränen der Waidami

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Nach der Schlacht

Entscheidungen

Ausgeliefert

Plantage

Wunden

Plantage

Zwei Jahre später ...

Plantage

Wiedersehen

Plantage

Piraten

Puerto Rico

Emilia

Gewinn und Verlust

Ein neuer Kurs

Entführt

Zusammenkünfte

Erkenntnisse

Unvorhergesehen

Vor dem Sturm

Waidami

Schicksal ?

Epilog

Nachwort

Impressum neobooks

Prolog

Die alte Frau starrte auf die Wellen, die sanft an den Strand rollten, den feinkörnigen Sand überschwemmten, um sich augenblicklich wieder davon zurückzuziehen, doch nicht, ohne etwas von sich zurückgelassen zu haben. Dort wo sich das Wasser von seiner Hinterlassenschaft trennte, färbte sich der Sand dunkel und klumpte zusammen.

Merka ging in die Knie und presste ihre beiden Hände flach ausgebreitet in die kühle Feuchtigkeit. So verharrte sie für einige Atemzüge. Dann richtete sie sich schwerfällig wieder auf und betrachtete mit zusammengezogenen Augenbrauen ihre Abdrücke. Nur zögernd füllten sich die Vertiefungen mit neuen Wellen, wuschen sich aus und verschwanden, als hätten sie niemals existiert. Doch etwas hatte sich verändert. Für das menschliche Auge war es unsichtbar, aber die Ordnung der Sandkörner war durcheinandergeraten und veränderte damit den ganzen Strand und hatte Folgen für die ganze Insel. Unauffällig zwar, aber nichts würde wieder jemals so sein wie zuvor. Merka stand nun ganz auf, ihre Augen fest auf das Meer gerichtet. Die Sandkörner waren so verschieden wie die Visionen der Seher. Und genau wie der kleine Abdruck ihrer Hand das natürliche Gefüge ins Rutschen brachte, hatte der kleine Betrug an einer Vision die Schicksale vieler Menschen durcheinandergebracht.

Ein tiefes Grummeln stieg aus dem Inneren der Insel, und Merka sah besorgt über ihre Schulter zu dem Vulkankegel, der majestätisch die Insel überragte. Doch alles war ruhig, und er blickte so unschuldig auf sie herab, so wie er es tat, seitdem er mit seinem heißen Atem diese Insel geschaffen hatte. Er hatte all dies Leben hier erst möglich gemacht, und er war es auch, der nun unauffällig, aber bestimmt, darauf hinzuweisen begann, dass er es genauso gut auch wieder zerstören konnte.

Merka verbeugte sich tief vor dem Vulkan und murmelte eine Beschwörung an die Göttin Thethepel, wohl wissend, dass diese sie nicht erhören konnte, und lief mit eiligen Schritten zurück ins Dorf.

Nach der Schlacht

Das Meer glich einer dunklen undefinierbaren Masse, die nichts von dem verriet, was sich unter ihrer düsteren Oberfläche abspielte. Darüber erhob sich eine orangerote Sonne. Ihre Strahlen fächerten dabei wie Pfeilspitzen auseinander, als wollten sie ihr in den wolkendurchzogenen Himmel vorauseilen und die Richtung weisen.

Jess stand an der Reling auf der Backbordseite der Monsoon Treasure und betrachtete das farbenprächtige Spektakel. Langsam verwandelte sich das Meer, verlor die Dunkelheit und präsentierte sich in einem lebendigen Spiel aus Grün und Blau. Ein idyllisches Bild, wären da nicht die Wrackteile gewesen, die auf den Wellen trieben und von der Schlacht erzählten, die hier gestern noch stattgefunden hatte. Ein Segel hing zerfetzt an einem treibenden Mast und wirkte wie der gebrochene Flügel eines übergroßen Seevogels. Einige der spanischen Schiffe waren ebenfalls wie die Treasure geblieben und hatten beinahe die ganze Nacht hindurch nach Überlebenden gesucht. Die Ausbeute war nicht besonders groß gewesen. Selbst von den auf dem Riff aufgelaufenen Schiffen hatten nur wenige Männer gerettet werden können.

Tief atmete Jess die Seeluft ein, als wäre es etwas völlig Neues für ihn. Seine Hände hielt er dabei auf dem Rücken verschränkt. In der Schlacht war alles so schnell gegangen. Jess hatte das Schiff übernommen und mit Hilfe der Monsoon Treasure die Lücke in dem Riff gefunden. Nur so konnten sich die schwächeren Schiffe der Silberflotte auf die andere Seite des Riffs in Sicherheit bringen. Danach hatte er sich in die Schlacht gestürzt. Die überlebenden Waidami hatten schließlich mit ihren Schiffen wie die Hasen das Weite gesucht und seine alte Crew war wieder auf die Monsoon Treasure gewechselt. Lediglich Cale und Jintel waren mit einigen Schiffen nach Bocca del Torres aufgebrochen, um dort die versprochene Entlohnung für Tirado zu holen. Jess seufzte und dachte an Lanea, die jetzt friedlich in seiner Koje lag und schlief. Ein warmer Schauer sickerte in seine Brust und füllte sie zur Gänze. Er hatte tatsächlich keinen Gedanken mehr an die Treasure verschwendet, nachdem er sich mit Lanea zurückgezogen hatte.

Doch dieser Moment gehörte jetzt ihr. Jess löste die Hände von seinem Rücken und legte die rechte flach auf die Tätowierung. Äußerlich sah sie aus, als wäre sie nie aus ihm herausgeschnitten worden; als wäre sie nie fort gewesen. Doch unter die Oberfläche der feinen Linien fraß sich ein seltsamer Schmerz, der sich wie ein schleichendes Gift seinen Weg unter seine Haut bahnte. Der Schmerz nach der ersten Tätowierung war noch lebhaft in seiner Erinnerung. Es hatte beständig gebrannt, wie ein unsichtbar schwelendes Feuer. Er hatte sich schnell daran gewöhnt und es später gar nicht mehr wahrgenommen. Dies hier war anders. Statt der Hitze legte eine ungewohnte Kälte eine Spur über seine linke Brust. Aber vielleicht war dies so bei einer neuerlichen Tätowierung. Auch daran würde er sich gewöhnen. Jess atmete erneut ein und umschloss mit einer zärtlichen Geste das glatte Holz der Reling. Die Monsoon Treasure stürzte sich wie mit der überschwänglichen Umarmung einer Frau auf ihn und riss ihn mit sich. Überrascht von der Intensität dieser Begegnung schnappte Jess nach Luft, griff fester zu und hielt sich fest. Bilder und Empfindungen aus der Zeit mit McDermott schlugen wie Wellen über ihm zusammen, die ihm die Monsoon Treasure gestern unter der ersten Berührung vorenthalten hatte. Die Treasure hatte unter der Verbindung mit McDermott gelitten, fühlte sich als Verräterin und bat um Vergebung. Jess ließ sich fallen, folgte jeder einzelnen Geschichte, folgte jedem Schmerz und der Trauer seines Schiffes, als sie ihn verloren hatte. Nach einer Weile wurde sie ruhiger und nahm ihn mit sich in die Tiefe. Gemeinsam trieben sie dahin, sanken bis auf den Grund der See und fanden ihren Frieden.

Irgendwann lockerte Jess den Griff und ließ dann ganz los. Er war zurück. Die Monsoon Treasure gehörte wieder ihm, und die Waidami waren zumindest für dieses eine Mal geschlagen. Er war frei. Die Wände um ihn herum, die ihn seit der Trennung von den Strömungen seiner Umgebung ausgeschlossen hatten, waren gefallen.

Dennoch schmeckte der Gedanke an seine Freiheit bitter. Es hatte viel gekostet, um bis hierhin zu gelangen. Menschen waren gestorben, um ihm zu helfen oder weil sie ihm hätten helfen können. Der nächste Atemzug war tief und voll Trauer bei dem Gedanken an Hong. Der Chinese war mehr als sein Koch und Arzt hier an Bord gewesen, mehr als ein Freund. Es war das erste Mal, dass Jess den Gedanken an ihn zuließ und den Schmerz ertrug. Hong hatte verhindert, dass aus Jess Morgan ein seelenloses Monster wurde. Er war es gewesen, der ihm von seinem ersten Tag an Bord immer wieder gezeigt hatte, wie wichtig es war, seine Menschlichkeit zu bewahren, gleich, was das Schicksal für einen Mann bereithielt. Ihm war es gelungen, den maßlosen Zorn, den Jess als junger Kapitän der Waidami empfunden hatte, zu zähmen. Eine Welle hilfloser Wut überrollte ihn. Jess ballte die Hände zu Fäusten, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Torek würde dafür bezahlen. Das war ein Versprechen an Torek und sich selbst. Und damit der unausgesprochene Beweis, dass seine Freiheit nur fadenscheinig war und nur von vorübergehender Natur sein konnte. Der Feind hatte eine Niederlage erlitten, nicht mehr. Bairani und Torek lebten noch und schmiedeten höchstwahrscheinlich längst neue Pläne. Nachdenklich glitt sein Blick über die Backbordseite der Treasure bis zum Bug. Der Anblick war vertraut, genau wie die Männer, die ihre Arbeit verrichteten, als wäre es nie anders gewesen. Als hätten sie nicht monatelang um ihren Captain fürchten müssen. McPherson, sein Schiffszimmermann, kam mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck auf ihn zu. Sein Schritt wirkte trotz des Holzbeines beschwingt. In seinem Schlepptau befand sich Kadmi, der sich jedoch unter den Niedergang verzog. Jess öffnete sich für die Strömungen seiner Crew. Die Männer wirkten angekommen, zufrieden. Jeder Einzelne von ihnen war erfüllt von dem Gefühl, wieder komplett zu sein. Der Pirat empfand tiefe Zuneigung für diese Männer, die ihm so unerschütterlich die Treue gehalten hatten.

Sie hatten sich dafür mehr als nur eine Zeit der Ruhe verdient. Ihr Kurs würde sie zunächst nach Cartagena führen. Cale und Jintel sollten ein bis zwei Tage nach ihnen dort ankommen. Sobald die Mannschaft komplett war, würden sie nach Hause segeln. Bocca del Torres wartete. Zumindest für eine Weile sollten sie sich dorthin zurückziehen.

»Captain!« McPherson blieb mit dem breiten Grinsen eines beschenkten Kindes vor ihm stehen. Das Wort betonte er, als sei es eine kostbare Gabe. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wie sehr ich mich freue, dich hier auf diesen Planken wieder vor mir zu sehen.«

Jess lächelte unwillkürlich. Der untersetzte, aber kräftige McPherson war der älteste Mann an Bord. Sein Gesicht war gezeichnet von Wind und Wetter. Falten und Narben erzählten von den langen und harten Jahren auf See. Wenn er auch wegen seines Holzbeines nicht mehr zum Kampf taugte, war er doch der beste Schiffszimmermann, den man sich nur denken konnte. Unzählige Male hatte er die Treasure auch unter widrigsten Umständen zusammengeflickt und damit auch das Wohlergehen von Jess selbst gewährleistet.

»Ich freue mich auch, McPherson.« Dankbar klopfte er dem Älteren auf die Schultern. »Schön, dass ich dich wieder hier als Zimmermann habe. Ich kenne niemanden, dem ich sonst diese Arbeit anvertrauen wollte.«

Das Grinsen seines Gegenübers wurde noch breiter, soweit dies noch möglich war. Mit stolzgeschwellter Brust richtete er sich auf. »Deshalb habe ich unsere Lady auch bereits bis in die letzten Spanten untersucht. Außer einigen kleinen Schäden hat sie nichts abbekommen, aber das wusstest du natürlich bereits.«

»Und ich weiß auch, dass du diese Schäden noch im Licht der Laternen in der Nacht repariert hast.« Noch bevor Jess Schlaf gefunden hatte, hatten sich die leichten Verletzungen, die er davongetragen hatte, geschlossen und waren verheilt.

»Ich hoffe, es hat euch - ähem - dich nicht allzu sehr gestört.« Das wettergegerbte Gesicht verzog sich mit einer leisen Spur Schamhaftigkeit. Jess konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. Kaum zu glauben, wie empfindlich diese Kerle doch immer wieder sein konnten. Angesichts ihrer Taten der vergangenen Jahre, wirkte es beinahe lächerlich, bewies aber auch ihre Menschlichkeit.

»Du hast nur deine Pflicht getan«, entgegnete er daher nur. So wie jeder Mann seiner Crew. »Und darüber hinaus. Ich bin euch allen zu tiefstem Dank verpflichtet. Ohne euer Zutun stände ich jetzt nicht hier.«

McPherson räusperte sich verlegen und schüttelte dann entschieden den Kopf.

»Wenn ich dich daran erinnern darf, dass ich bereits einige Jahre in einer Grube auf irgendeiner Insel verfaulen würde, wenn du mir nicht das Leben gerettet hättest.«

»Das ist lange her.«

»Und nicht vergessen. - Du schuldest uns nichts.«

Jess verschlugen die entschlossenen Worte die Sprache. Er wusste nicht, was er noch darauf erwidern sollte. Spürte er doch die ehrliche Dankbarkeit und Hingabe von McPherson so deutlich, als könnte er sie als Gewichte in eine Waagschale legen. Gerührt legte er ihm die Hand auf die Schulter. »Ich schulde dir wenigstens eine Mütze voll Schlaf, alter Freund. Während die meisten von uns die Zeit hatten, sich in der Nacht auszuruhen, hast du gearbeitet. Schlaf dich aus, solange du willst. - Wer hat dir bei den Arbeiten geholfen?«

»Kadmi, Sam und Bill, Captain.«

Gut! Sie sollen sich ebenfalls in ihre Hängematten verholen. Ich will keinen von ihnen an Deck sehen, bis sie sich ausgeschlafen haben.«

»Aye, Sir!« McPherson wandte sich zum Gehen, hielt dann aber doch inne.

»Ich habe da noch eine Bitte, Captain.«

»Was kann ich für dich tun?«

»Kadmi, Sir. Er ist wirklich sehr gelehrig, was das Zimmererhandwerk angeht. Der Junge hat da mehr in seinem Schädel als die anderen Kerle und zwei wirklich geschickte Hände. Vielleicht wäre es gut, wenn ich ihm alles beibringe, was man als Schiffszimmermann wissen muss.«

Jess lächelte unwillkürlich, als er an den Jüngsten der Crew dachte. Deshalb hatte der Junge sich gerade verdrückt und versprühte eine angespannte Strömung wie ein Skunk seinen Urin.

»Du meinst also, er hat das Zeug dazu?«

»Ich wüsste keinen Besseren, Captain.«

»Gut, dann gib Jintel bei seiner Rückkehr Bescheid, dass er Kadmi von seinen Pflichten freistellt. Und frag N’toka, ob er unter den Männern eine andere Hilfe findet. Sonst muss der Junge ihm weiterhin bei den Mahlzeiten behilflich sein.«

»Danke, Captain!«

»Und jetzt ab in die Koje, Mann.«

»Aye, aye, Sir!«

Jess sah McPherson hinterher, wie er unter dem Niedergang verschwand und kurz darauf die überschlagende Freude Kadmis darunter hervorspritzte. Er lächelte bitter. Für seine Männer schien der Kampf gegen die Waidami genau hier zu Ende zu sein.

Ihr Captain wusste es besser.

*

Der Oberste Seher stand auf dem kleinen Felsenplateau, das unterhalb des Vulkankraters aus den Höhlen führte. Von hier hatte er einen hervorragenden Überblick über die Insel und das Meer. Weit unter ihm lagen das Dorf und die Bucht, in der sich einige neue große Segler aufhielten. Doch seine Aufmerksamkeit galt den kleinen Flecken am Horizont, die sich langsam der Insel näherten. Auch ohne eines dieser Fernrohre wusste Bairani, wer dort kam. Es war der Rest der entsandten Schiffe, die unter der Führung von Captain McDermott aufgebrochen waren, um die spanische Silberflotte zu stellen.

Für einen kurzen Moment überlegte er, nach Torek rufen zu lassen, damit dieser ihm Genaueres von der Schlacht berichten konnte. Doch er verwarf den Gedanken wieder. Toreks Wissen um die Dinge war mehr als hilfreich, zumal bei ihm selbst die Visionen mit zunehmendem Alter immer schwächer wurden, aber er durfte den Jungen auch nicht unterschätzen. Seine Verschlagenheit und der Genuss der Macht, die er in der letzten Zeit gewonnen hatte, machten ihn zu einem Partner, den man nicht aus den Augen lassen durfte.

Die Flecken am Horizont wurden schnell größer und nahmen Gestalt an. Bairani konnte nun die Schiffe erkennen. Angespannt leckte er sich über die Lippen und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Die Schiffe waren beschädigt. Eins hatte schwere Schlagseite und schien sich nur noch mühsam über Wasser zu halten. Plötzlich schob sich ein anderes Bild in seinen Kopf. Bairani richtete sich auf und erstarrte. Ein Meer aus weißen Segeln fegte wie eine gewaltige Sturmfront daher. Hinter ihm erwachte der Vulkan und ein kollerndes Geräusch drang aus seinem Schlund wie das drohende Knurren eines angriffslustigen Tieres. Der Oberste Seher taumelte und fiel so plötzlich aus der Vision, wie sie gekommen war.

Hastig warf er einen Blick auf den hinter ihm aufragenden Bergkegel. Alles war völlig ruhig. Keine Rauchsäule hob sich in den azurblauen Himmel, kein Grollen drang heraus. In der Geschichte Waidamis war dieser Berg nur zur Entstehung der Insel ausgebrochen. Seitdem schlief der Riese in aller Friedlichkeit.

Bairani lenkte wieder seinen Blick auf die Segelschiffe. In Ruhe betrachtete er jedes Einzelne davon. Er kannte jedes dieser Schiffe. Er kannte jeden der Kapitäne, denen er in der Verbindungszeremonie mit dem Dolch der Thethepel das Bild ihres Schiffes auf die linke Brusthälfte tätowiert hatte. Jeder dieser Männer war auf besondere Weise an sein Schiff und an Waidami gebunden.

Bei einem war es anders.

Sein Schiff segelte nicht mit den Heimkehrern.

Die Hand des Obersten Sehers glitt an das Amulett um seinen Hals, das warm unter seinen Fingern pulsierte. Ein zufriedenes Lächeln fraß sich auf seine dünnen Lippen.

Die Monsoon Treasure war wie geplant nicht mehr unter ihnen.

*

Als Lanea das Deck betrat, stand die Sonne bereits hoch am Himmel, wie sie beschämt feststellte. Sie hatte lange noch wach in der Koje gelegen und die Ereignisse des vergangenen Tages in ihren Gedanken wieder und wieder durchgespielt. Es war so unendlich viel geschehen. Die Schlacht, der Kampf um die Monsoon Treasure und nicht zuletzt die Wiederbegegnung mit Jess.

Mit dem Jess, wie sie ihn von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte. Stark und entschlossen, nicht der Schatten, den Bairani mit der Trennung von seinem Schiff aus ihm gemacht hatte. Laneas Herz klopfte heftig, als sie daran dachte, wie Jess sich selbst den Dolch der Thethepel in die Brust gerammt hatte.

Lanea wendete den Kopf und entdeckte ihn augenblicklich. Er stand auf dem Achterdeck am Steuer und sah natürlich zu ihr hinüber. Es hätte sie auch gewundert, wenn er nicht bemerkt hätte, dass sie kam. Wieder beschleunigte sich ihr Herzschlag bei seinem Anblick. Seine weizenblonden Haare hatte er wie immer im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. Der Blick aus seinen eisblauen Augen fuhr direkt in ihren Magen und löste dort ein angenehmes Prickeln aus. Sein Blick glitt fragend zu ihrem linken Bein, das sie immer noch versuchte, beim Gehen zu schonen. Jess hatte zwar in der Nacht den Verband bemerkt, aber sie hatten sich nicht mit vielen Worten aufgehalten. Lanea huschte bei der Erinnerung eine leichte Wärme in die Wangen, die in Flammen aufgingen, als sein Lächeln in ein anzügliches Grinsen überging.

Wie sie es hasste, dass dem Mann, den sie liebte, schlicht nichts verborgen blieb. Jede noch so kleinste Gemütsregung las er von ihr ab, wie aus einem aufgeschlagenen Buch.

Lanea trat an die Reling und sog tief die frische Seeluft ein, um ihre Gedanken und ihr Gemüt wieder abzukühlen. Prüfend betrachtete sie den Stand der Sonne und das Spiel der schaumgekrönten Wellen, die gleichmäßig über das tiefblaue Meer rollten und die Treasure wie eine Eskorte zu ihrem Ziel hin geleiteten. Ein letzter Blick in die Segel bestätigte ihr, dass ihr Kurs sie wie verabredet nach Cartagena führte.

Für einen Moment schloss sie die Augen und genoss die sanften Bewegungen des Schiffes. Es tat so gut wieder hier zu stehen und sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Zu Beginn ihres Abenteuers hätte sie sich niemals träumen lassen, dass sie je so empfinden könnte. Schmunzelnd dachte sie daran zurück, wie entsetzt sie gewesen war, als ihr Vater sie auf die Treasure geschickt hatte. Damals hatte sie sich nicht vorstellen können, unter skrupellosen Piraten zu leben. Jetzt war dieses Schiff ihr Zuhause. Die Piraten nicht so skrupellos, wie sie gedacht hatte, und inzwischen mehr als bloß Freunde. Für nichts auf der Welt hätte sie woanders sein wollen. Das bewies aber auch, dass die Seher sehr wohl wussten, für welche Aufgaben ein Kind geboren wurde. Trotzdem waren sie eine Plage, die dem Volk keine eigenen Entscheidungen überließen, sondern diese mithilfe ihrer Visionen in die gewünschte Richtung lenkten. Der Gedanke an die Seher riss sie aus ihrer friedlichen Stimmung. Lanea öffnete die Augen, um den Niedergang hinauf zu Jess zu gehen, der seinen Blick fest auf den Horizont gerichtet hielt. Seine schöngeschwungenen Lippen umspielte dabei ein leichtes Lächeln.

»Bereit wieder deinen Dienst als Navigatorin der Monsoon Treasure anzutreten?«, fragte er und schenkte ihr einen Blick, der sich direkt in ihren Bauch setzte.

»Aye, Sir!«, entgegnete sie. »Wie ich sehe, haben wir bereits Kurs auf Cartagena gesetzt.«

»Seit dem Morgengrauen«, nickte Jess.

»Konnten noch viele Überlebende geborgen werden?«

Seine Miene wurde ernst. Dann schüttelte er den Kopf.

»Die wenigen, die gerettet werden konnten, werden an Bord der spanischen Schiffe versorgt. Admiral Gonzalez traute uns dergleichen nicht zu.«

»Was hast du erwartet?«, fragte sie und warf einen Blick nach achtern. In einiger Entfernung hinter der Monsoon Treasure folgten die Schiffe der Spanier. »Dass sie dir vertrauen, nur weil du eine einzelne Schlacht mit ihnen geschlagen hast? Sie sind alles gottesfürchtige und rechtschaffene Männer des stolzen Spanien, und du?« Lanea deutete auf die frische Tätowierung der Treasure, die durch das halboffene Hemd deutlich zu sehen war. Unwillkürlich sah sie nach oben in die Segel und dann wieder auf die Brust von Jess. Nur zu gerne hätte sie das Hemd weiter geöffnet, um das Bild besser betrachten zu können. Aber, wenn sie sich nicht irrte, hatten die Segel der Tätowierung exakt den gleichen Stand wie die des Originals. Fasziniert fuhr sie fort:

»Du bist ein Pirat, der irgendeinen gottlosen Bund mit seinem Schiff eingegangen ist.«

»Daran wird sich wohl bis zu meinem Ende auch nichts mehr ändern. Jedenfalls nicht, wenn ich es verhindern kann.«

»Ich hoffe«, sagte sie und verspürte den Wunsch, ihn zu berühren.

Noch während die Sehnsucht in ihr wuchs, löste Jess eine Hand von dem Steuerrad, legte ihr den Arm um die Hüften und zog sie dicht an sich heran.

»Manchmal kann es auch Vorteile haben, wenn ich deine Strömungen lese«, lächelte er und schenkte ihr einen intensiven Blick.

Keiner der Männer an Deck achtete auf sie. Glücklich schmiegte Lanea sich an ihn.

Für eine Weile standen sie schweigend beieinander und genossen die Nähe des anderen. Doch Lanea lag eine Frage auf der Seele, die sie seit dem Ende der Schlacht nicht mehr losließ.

»Was hast du gestern damit gemeint, als du sagtest, dass es nur der Anfang sei?«, brach es nach einiger Zeit aus ihr heraus. Sie hob den Kopf, um seine Reaktion sehen zu können.

Jess löste sich aus der Umarmung und warf ihr einen abschätzenden Blick zu. Mit beiden Händen hielt er wieder das Steuerrad und drehte es ein wenig, um den Kurs zu korrigieren, als die Segel über ihnen zu flattern begannen. Augenblicklich fingen sie den Wind wieder ein und beruhigten sich. Lanea sah über den Bug der Treasure hinaus auf die See und fragte sich, ob Jess auch den Kurs ohne Hilfsmittel bestimmen konnte. Der Bugspriet deutete wie ein Zeigefinger pfeilgenau auf ihr Ziel.

»Bairani wird sich nicht mit einer Niederlage zufriedengeben.«

»Was meinst du, wird er tun?«

Die Kinnlinie von Jess verhärtete sich, als er antwortete: »Bairani hat überraschend viele Schiffe in letzter Zeit bauen lassen. Ich denke nicht, dass das alles war, was wir gestern erlebt haben. Wenn er sein Ziel erreichen will, muss er die anderen Mächte aus der Karibik zunächst vernichten oder vertreiben. Das kann er nur mit einer großen und schlagkräftigen Flotte erreichen.« Er stockte und presste die rechte Hand kurz auf die Tätowierung, bevor er wieder nach dem Ruder griff. »Ich bin mir inzwischen noch nicht einmal sicher, ob die Niederlage nicht sogar beabsichtigt war. Nur komme ich nicht dahinter, was das für einen Grund haben könnte.«

Eine dumpfe Ahnung breitete sich in Lanea bei diesen Worten aus. Hatte sie nicht auch das Gefühl gehabt, dass ihre Flucht mit dem Dolch der Thethepel vielleicht ein bisschen zu einfach gewesen war? Der Stich in ihr Herz, der folgte, verneinte die Frage. Ihr Vater und seine Freunde waren dabei umgekommen. Nein, einfach war es sicher nicht gewesen.

»Wie viel Zeit wird uns bleiben, was meinst du?«

»Wofür? Um die Gewässer zu verlassen? Ich fürchte, wir müssten bereits jetzt Kurs auf die Alte Welt setzen, statt unserem lieben Gouverneur noch einen Besuch abzustatten.«

»Ich dachte mehr daran, wie viel Zeit uns bleibt, um uns auf bevorstehende Kämpfe vorzubereiten.«

Jess wog nachdenklich den Kopf.

»Zu wenig, fürchte ich!«, entgegnete er langsam.

*

Torek wanderte ohne Ziel über die Insel. Von den Höhlen war er ins Dorf gelaufen, von dort die gesamte Bucht herunter und dann weiter zur Bucht der Schiffsbauer. Eine Weile hatte er dem Hämmern, Sägen und Fluchen der Arbeiter zugehört, bis es ihn rastlos weitergetrieben hatte.

Bairani hatte ihn heute Morgen nicht zu sich rufen lassen, wie er es in letzter Zeit immer getan hatte. Stattdessen hatte ihn der Wächter vor der Höhle des Obersten Sehers regelrecht abgewimmelt. In seinem Kopf wanderte die Frage nach dem Warum genauso ruhelos umher, wie er selbst. Das Gefühl, dass ihm etwas verheimlicht wurde, war stark. Bairanis Verhalten ärgerte ihn. Und er hatte noch nicht einmal die Möglichkeit, sich in seinen Visionen die Antworten zu Bairanis Gebaren zu holen. Er schien etwas vor ihm zu verbergen, und Torek war sich ziemlich sicher, dass es mit Morgan zu tun hatte. Auch wenn er bei dem Obersten Seher keinerlei Skrupel hatte, in seinen Visionen nachzusehen, wagte er diesen Schritt nicht. Bairani vereinigte die Visionen aus so vielen Sichtungszeremonien in sich, dass ein Durchkommen nahezu unmöglich war. Torek würde die Bilder nicht sortieren können, so wie er das bei anderen Sehern inzwischen mühelos tat. Die Angst, dass er sich in der unübersehbaren Flut verlieren konnte, war zu groß. Daher würde er sich auf seinen Instinkt verlassen müssen. Und der sagte ihm, dass ihm der Oberste Seher kein vollständiges Vertrauen schenkte.

Plötzliche Wut flammte in ihm auf und lähmte seinen Schritt. Bairani missbrauchte ihn für seine Zwecke und unterschied sich damit eigentlich nicht von den jungen Männern, die sich immer über ihn lustig gemacht hatten. Vielleicht lachte er ihn nicht aus, aber der Oberste Seher schien zu glauben, dass er Torek wie ein Werkzeug benutzen konnte. Grimmig knurrte der junge Seher vor sich hin. Vielleicht sollte er einmal beweisen, dass dies nicht so einfach war. Heute würden die Schiffe zurückkehren, die die Silberflotte angegriffen hatten. Torek wusste längst, dass die Monsoon Treasure nicht mehr unter ihnen war. Morgan war auf dem Weg nach Cartagena, in dem Glauben, zumindest für eine Weile eine kleine Atempause haben zu können. Ein Lächeln glitt über Toreks Miene. Der Gedanke an den Piraten besänftigte und versöhnte ihn. Mit einem tiefen Atemzug schloss er die Augen und glitt wie von alleine zu Jess Morgan. Er fand ihn auf dem Achterdeck der Monsoon Treasure, die gerade in Cartagena festmachte. Seine Hand lag auf der Tätowierung und fühlte den Schmerzen darin nach. Toreks Lächeln wurde breiter. Zufrieden beobachtete er, wie eine schwarze Kutsche in der Begleitung berittener Soldaten auf die Pier fuhr, als ein knackendes Geräusch ihn aus der Vision riss.

Überrascht erkannte er, dass er vor Durvins alter Hütte stand, nahe des Pfades, der zu den Höhlen führte. Noch weiter abseits des Dorfes lagen nur die Hütten Shamilas und der alten Merka, die direkt am Fuße des Vulkans lagen.

Torek sah unentschlossen den Pfad hinauf, der sich in kleinen Windungen zwischen den Hibiskussträuchern verlor. Er legte den Kopf ein wenig auf die Seite und betrachtete den schlichten Bau, der seit dem Verschwinden des Sehers leer stand. Auf den ersten Blick schien die Hütte noch bewohnbar zu sein. Kritisch musterte er das mit Palmblättern gedeckte Dach, in dem ein großes Loch gähnte wie in seinem Selbstbewusstsein. Er konnte das Loch reparieren lassen und die Hütte beziehen. Er würde seine Unterkunft in den Höhlen verlassen und damit für Bairani vielleicht ein Zeichen setzen können, dass er eigenständige Ansprüche hatte. Unsicher, ob er das wirklich wollte, wandte sich Torek zum Gehen, als ihn erneut ein Geräusch aufblicken ließ. Zwischen den Sträuchern tauchte die gebeugte Gestalt der alten Merka auf. Widerstrebend gestand Torek sich ein, dass diese Frau etwas Unheimliches an sich hatte. Ihre Bewegungen wirkten schwerfällig und steif, wie er es von alten Menschen kannte, doch etwas an Merka war anders. Die Bewegungen wirkten nicht echt. Unermüdlich suchte sie sich ihren Weg den teilweise steilen und unebenen Weg hinunter, der so manch jüngeren Menschen bei einer kleinen Unachtsamkeit zum Straucheln brachte. Doch trotz der von der Müdigkeit des Alters geprägten Ganges suchten sich ihre Füße sicher ihren Weg. Torek konnte nicht widerstehen und konzentrierte sich. Als er nach Bildern von der alten Frau greifen wollte, blieb sie stehen und sah ihn geradeheraus an. Ihre Miene verzog sich dabei zu einem finsteren Lächeln, über das ihre Falten wie ein Meer aus Wellen in Bewegung gerieten. Der Blick war dabei von einer beunruhigenden Klarheit und traf ihn wie ein Warnruf. Torek erstarrte. Wie alt mochte sie sein? Unsicher, weil sie immer noch nicht den Blick wieder abwandte, tastete er vorsichtig nach einer Vision über sie. Doch da war nichts, was greifbar gewesen wäre. Um sie herum flirrte und schimmerte eine seltsame Wand, die nachgab, wo er versuchte durchzudringen, aber letztendlich seinen Vorstoß nur in eine andere Richtung lenkte und den Zugriff auf ihre Vergangenheit oder Zukunft unmöglich machte. Selbst das Hier und Jetzt schien sich vor ihm verbergen zu wollen, obwohl sie doch nur wenige Meter von ihm entfernt stand. Unvermittelt fühlte Torek sich so unbeholfen wie noch vor Monaten. Die alte Frau war nicht im mindesten von seinen seherischen Fähigkeiten beeindruckt. Ihr Lächeln wurde abschätzig und schubste den Rest seiner Selbstsicherheit in den Dreck.

»Wer die Augen zu weit aufreißt, kann leicht geblendet werden und Schaden nehmen«, sagte sie. Ihr Lächeln war wie fortgewischt.

Diesmal musste Torek schlucken. Das hatte wie eine Drohung geklungen, oder nicht?

»Nur ein gutgemeinter Rat, junger Seher«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage und grinste jetzt breit. »Du solltest begreifen, dass sich dir nicht alles offenbaren kann. Die künftigen Zeiten sind und bleiben ein Geheimnis, selbst für einen so weitsichtigen jungen Mann, wie du es bist. Akzeptiere, dass deine Visionen nur Möglichkeiten in einem Spiel zeigen, dessen Einsatz du selbst bestimmen kannst.«

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