Kitabı oku: «Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol: Kreuzberger Szenen»

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Klaus Bittermann

Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol

Kreuzberger Szenen

FUEGO

Klaus Bittermann hat ein Faible für Randfiguren. Sehr trocken und mit Witz beschreibt er kleine Alltagsszenarien aus seinem Viertel, in dem Touristen, Vandalen, Zopfträger, Alteingesessene, Eigenbrötler, Backfische, Rucksack- und Fahrradhelmträger wild durcheinanderlaufen, und das auch noch völlig ohne Plan.

Schon seit langem beobachtet der Autor das Leben im »Gräfekiez« in Berlin Kreuzberg, in dem er seit 30 Jahren wohnt. Jugendliche Hosteltouristen stapeln sich und verstopfen die Wege, Mütter bahnen sich eine Schneise mit extrabreiten Kinderwägen, die Admiralbrücke wurde zum Treffpunkt, um sich auf das Pflaster zu legen, Bier zu trinken und Pizza zu essen, während 60-jährige Omas die Flaschen wegräumen. Klaus Bittermann guckt und hört sich das alles an und schreibt kleine Alltagsminiaturen über die Menschen und die Gentrifizierung, die gerade stattfindet, aber nicht so recht gelingen will, denn die Sonderlinge, die Penner, die Alkoholiker, die Renitenten, die Griesgrämigen halten sich hartnäckig.

Und auch die rumänischen Straßenmusiker, die ihre Instrumente und anderer Leute Ohren quälen, lassen sich nicht verjagen, nicht die blonde Powerfrau, die ins Handy brüllend allen Leuten mitteilt: »Menne, ick bin hier beim Thai, wa!«, nicht der Obdachlose, der Mercedes Benz für eine Baumpatenschaft gewinnen will, nicht der Mann mit dem manischen Blick, der jeden einen »verfickten Arsch« nennt, nicht der mit Testosteron angereicherte türkische Jugendliche, der seine Freundin verpulvert, nicht der Mürrische, der mit Stecken, Plastiktüte und Mundschutz am Straßenrand entlang läuft, und auch nicht der Dichter mit dem knallroten Jackett, der für 50 Cent Gedichte verkauft, die sich nicht reimen.

Für Fup, Fatzer, Arthur, Hunter, Sid, Rudi, Guy, Cheeta, Tania, Miss Trixie, Marlene, Musidora, Charlie & Lucy, ohne die das Buch nie zustande gekommen wäre

Die lustigen Alkis

Vor dreißig Jahren hatte die RAF im »Graefekiez«, den damals noch niemand so nannte, ein letztes Refugium. Damals gab es noch keinen Bioladen, keinen Weinladen, keine als Liegewiese umfunktionierte Admiralbrücke, auf der Amateure auf Bongos trommeln, auf Gitarren schrammeln, Harfen zupfen oder andere Instrumente quälen, es wallfahrteten noch keine Touristen aus aller Welt durch die Straßen, es bildeten sich keine Kindertrauben vor dem Eiscafé, es gab keinen von Studenten und ihren Eltern belagerten Italiener, bekannt als »Weitwurfpizzeria«, weil es schnell gehen muss, nur einen unechten mit mindestens zehn Zentimeter dickem Pizzateig, und statt Bars und Straßencafés gab es nur eine übel beleumundete Berliner Eckkneipe, die »Standesamt« hieß. Außerdem ein paar Antiquitätenläden mit harten Jungs, die davor herumlungerten und harte Sachen tranken.

Einer von ihnen musste sogar mal von einem Spezialkommando mit schusssicheren Westen abgeholt werden, weil er sich in seiner Wohnung verschanzt hatte und mit seiner Knarre herumballerte. Ich beobachtete den Einsatz und zischte »Scheißbullen« bzw. »Bullenschweine«. In Zeiten der Hausbesetzerbewegung Anfang der achtziger Jahre machte man das so. Das gehörte in der Hausbesetzerbewegung zur Etikette. Meine Freundin zerrte mich weg, bevor eine schusssichere Weste schlechte Laune kriegte. Erst Jahre später wurde der Mann mit der Knarre wieder gesichtet, mit ein paar Tattoos mehr.

Vor kurzem treffe ich sie wieder, die RAF. Vor »Getränke Hoffmann« lungern ein paar Jungs von der Rest-Alkohol-Fraktion herum. Ein Dicker, der eine frappierende Ähnlichkeit mit John Goodman aus »Barton Fink« von den Coen-Brüdern aufweist, drängt mich in eine Ecke, um mir einen Witz zu erzählen, den er aber als solchen nicht ankündigt. Er sagt nicht, ich erzähle dir jetzt mal einen Witz, sondern er sagt einfach: »Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol.« Dann lacht er sich schlapp, kippt einen Jägermeister, schwingt sich auf ein Mofa, das unter seinem breiten Arsch kaum mehr zu sehen ist, und knattert davon.

Ich hieve zwei Kasten Rhön-Sprudel in den Kofferraum. »Ah, Aqua­holiker!«, macht sich eine Stimme aus der RAF lustig, die sich vor dem Laden zusammengerottet hat. »Ich brauch das zum Brandlöschen«, sage ich etwas matt. »Aha! Soso! Ach ja? Echt ma? Ähem!«, raunt es aus der RAF. Sogar Gekicher vernehme ich. Und dann klirren wieder die Flaschen.

Asche zu Asche

Das hat er nicht verdient, mein alter Freund Wolfgang. Ein professioneller Grabredner hält die Grabrede. Er spricht salbungsvoll esoterisch angehauchte Weisheiten über den Menschen, der in uns allen weiterlebt und dort ein neues Zuhause findet. Das hätte ich eigentlich nicht so gern. Da würden sich inzwischen ganz schön viele Leute tummeln, einige auch, die sich schon zu Lebzeiten nicht ausstehen konnten. Das gäbe ein Gekeife und Gezanke, und das in mir drin, wo ich schon selber oft genug mit mir in den Haaren liege. Und selbst die Leute, die sich gut verstehen, ich meine, was sollen die den ganzen Tag miteinander reden? Das will man ja auch nicht immer hören.

Ich denke an Doris, die einmal bei einem Begräbnis mitten in die Totenrede hineinplatzte: »Das ist doch alles gelogen!« Okay, sie war vielleicht ein wenig zugekokst, aber das muss man erstmal bringen. In Gedanken ziehe ich den Hut vor ihr. Da hätte der Grabredner aber einpacken können. Diesmal ist keine Doris da. Das Ritual nimmt seinen Lauf. »Asche zu Asche«, sagt der Grabredner und wirft Sand auf den Sarg. Kann man ihn nicht gleich hinterherwerfen?

Als ich Wolfgang kennenlernte, hatte er gerade eine kleine Yacht in Nizza geklaut und schipperte mit ihr auf dem Mittelmeer herum. Als ihm das Geld ausging, kam er nach Berlin zurück, zog bei mir ein und fuhr Taxi. Er war immer gut gekleidet dank einer Kreditkarte, die nicht ihm gehörte. Dann wurde die Yacht in einem kleinen Hafen einer kleinen Insel auf dem Atlantik anhand der Motornummer identifiziert. Ein Detektiv der Versicherung hatte sich nachts heimlich auf das Schiff geschlichen. Also immer die Motornummer wegfeilen, wenn man eine Yacht klaut. Nur mal so als Tipp.

Früh um sechs klingelte mich die Polizei aus dem Bett, um sein Zimmer zu durchsuchen. Wolfgang sprang aus dem Fenster. Zum Glück Parterre. Der Fall wurde in Bild breitgetreten, nachweisen konnte man ihm nichts.

Jahre später fragte ich ihn, ob er diese Geschichte nicht mal aufschreiben wolle für eine Anthologie mit dem Titel »Little Criminals«. Er wollte nicht. Wegen seiner Tochter. Sie wird jetzt nie erfahren, was für einen tollen Vater sie hatte. Meiner Tochter hätte ich das schon kurz nach der Geburt erzählt, und später dann auch immer wieder mal, und jedes Mal wäre die Geschichte besser geworden. Ich meine, dazu sind solche grandiosen Geschichten doch da. Oder, Wolfgang?

In der Milchbar

Da will ich nur ein paar Spagetthi essen, fragt mich die Bedienung: »Geht’s Ihnen nicht gut?« Eigentlich schon, aber jetzt, wo mich die Frau fragt, geht’s mir auf jeden Fall schon mal ziemlich schlecht.

Irgendwie glaube ich mich rechtfertigen zu müssen: »Naja, vielleicht bin ich von gestern ein bisschen angeschlagen, aber mein Gott, sieht man mir das so an?«

»Manche sind eben so sensibel und gucken ihre Gäste an, die anderen interessiert das eben nicht, wie es den Gästen geht«, sagt sie.

Ich finde, Bedienungen müssen so sensibel auch wieder nicht sein, und deshalb flüchte ich in die »Milchbar«, denn hier ist man vor sensiblen Bedienungen sicher. Hier wüsste nicht mal jemand, wie man sensibel buchstabiert.

Die »Milchbar« in der Manteuffelstraße ist ein dunkler Punkschuppen, den man hinter dem harmlosen Namen nicht unbedingt vermuten würde, und in dem Herta ein unerbittliches Regiment führt, ein hartgesottener BVB-Fan, den man hinter diesem alles andere als harmlosen Namen nicht unbedingt vermuten würde. Sie könnte in einem Film von Sergio Leone mitspielen, mit Haaren auf den Zähnen, schwerst gepierct, wahrscheinlich mit BVB-Ringen, mit BVB-T-Shirt und wildem Blick, der einem den Angstschweiß auf die Stirn treibt, wenn man etwas anderes als Bier bestellen möchte, weshalb man sich lieber gut mit ihr stellt.

Hier gibt es die Spiele des BVB in voller Länge zu sehen. Und deshalb muss ich aus Gründen der Leidenschaft für den Ballspielverein Borussia dort hin, obwohl es eine blöde Gewohnheit ist, bei strahlendem Sonnenschein auf eine Leinwand zu starren, auf der die Kugel nur manchmal als weißer Punkt aufblitzt, wo man sie nicht vermutet hatte, und auch die Spieler irgendwie undeutlich durch die Gegend laufen.

Dumpfes »Sieg«-Gegröle und Fahnenschwenken ist verboten, und das kann Herta gar nicht hoch genug angerechnet werden. Sonst aber ist alles erlaubt. Jedenfalls fast. Die Einrichtung sollte man nicht auseinandernehmen, aber da müsste man sich viel Mühe geben, denn sie ist sehr stabil und festgeschraubt.

In der »Milchbar« herrscht eine verlässliche Redundanz. »Schiri, was pfeifst du!«, brüllt alle fünfzehn Sekunden eine Stimme mit türkischem Akzent. Das klingt wie ein Rap-Song, ist aber nur das Mantra einer Gruppe türkischer Jugendlicher, die offenbar Mitte der Neunziger, also in der großen Zeit des BVB, sozialisiert wurde und nicht richtig loslassen kann.

Direkt vor der Leinwand sitzt ein großer und kurzsichtiger Drei-Zentner-Mann und vertilgt bis zum Abpfiff immer genau sechs Weizen, ohne einen Ton von sich zu geben. Der Mann neben mir hat das Gegentor mal wieder schon vorher kommen sehen. Das tut er immer. Auch darauf ist hundertprozentig Verlass.

»Trink dein Bier und halt die Fresse«, tönt es von hinter dem Tresen nach vor dem Tresen. Da sitze ich, aber ich bin nicht gemeint, und wenn ich gemeint wäre, hier ist der richtige Ort für ein Desensibilisierungsprogramm.


Pavillon Prisma

Die Imbissbude an der Kottbusser Brücke ... »Hey, das ist doch keine Imbissbude!«, raunt mir eine Stimme zu, und zwar meine eigene. Okay, okay, sage ich. Also: Der Imbiss an der Kottbusser Brücke mit dem noblen, an die documenta gemahnenden Namen »Prisma Pavillon« ist ein Hort der Gestrandeten. Jedenfalls nachts. Und deshalb liebe ich ihn. Er ist für mich eine verlässliche Anlaufstelle, wenn ich spät abends mit dem letzten Zug aus Dortmund von einem Heimspiel des BVB zurückkehre und ein kleiner Hunger in mir nagt oder die Niederlage noch alkoholische Nachbereitung verlangt.

Im Sommer sitze ich dann auf einem Barhocker an einem selber gebastelten Tresen am Kanal und beobachte die Ratten, die etwas weiter unten auf einem Mauervorsprung nach türkischen Pizzaresten suchen, die Liebende zurücklassen. Das lauschige Plätzchen wird von Liebespaaren und Ratten bevorzugt, und ich bin fasziniert von dieser Symbiose. Oder ich beobachte die Spinnen, die rund um die Leuchtreklameschilder des »Prisma Pavillon« ihre fast blickdichten Netze weben, denn die Beute ist reichlich und fett. Ich genieße die Stille, den coolen, souveränen und schnellen Service am Verkaufstresen.

Doch eines nachts überraschen mich dezente französische Chansons. Was machen die an einem türkischen Imbiss? Ich drehe mich um. In einer Ecke des keinesfalls runden Pavillons steht eine dilettantisch zusammengezimmerte Cocktailbar aus Holz. Sie steht illuminiert und verlassen da. Niemand beachtet das neuartige Angebot, mit dem der Pavillon-Besitzer aufgerüstet hat.

Junge amerikanische Touristen nuckeln Bionade und Flaschenbier. Das eigenartige Ambiente lässt sie kalt. Ihnen entgeht der Zauber, der sie umgibt. Sie sind immun dagegen. Zu Hause werden sie alles vergessen haben.

Einen Tisch weiter sitzt ein Boxer. Jedenfalls sieht er aus wie ein Boxer. Er muss eine Menge in sich hinein schlichten, um seine Muskelmasse zu versorgen. Er ist vollkommen auf das Essen konzentriert.

Im West-Germany

»Go West«, ruft mir meine innere Stimme zu, und der folge ich eigentlich fast immer. Genauer, auf nach »West-Germany«. Und dafür gibt es auch einen Grund, und der heißt Bobby Bare Jr., ein von mir sehr geschätzter Countrysänger und Songwriter.

In Berlin endet für ihn eine ausgedehnte Europatournee, und wenn die Auftrittsorte so waren wie in Kreuzberg, dann hat er die Hölle zumindest nicht mehr vor sich. Das »West-Germany«, fünf Minuten vom Kottbusser Tor entfernt und in einem sozialdemokratischen Betonklotz untergebracht, gleicht eher einem ausgebombten Unterschlupf für Heckenschützen in einem Bürgerkriegsgebiet als einem Ort, an dem man gerne Musik hören möchte, die ein paar mehr Nuancen zu bieten hat als die berühmten Three Chords aus Punk-Zeiten.

Aber genau dorthin hat ihn ein verbrecherischer Manager hinverklappt. Der gekachelte Raum, in dem Zwischenwände und die Decke herausgerissen wurden, verstrahlt den Charme einer Metzgerei. Nicht gerade der richtige Ort, um einen Künstler zu animieren, alles zu geben. Schon gar nicht vor 26 Leuten, einschließlich Techniker, Freunde, Verwandte und Bekannte. Und ich sehe Bobby Bare auch den Überdruss an, in einem solchen Laden zu spielen.

Aber was soll er tun. Er entert die winzige Bühne, die vollgestellt ist mit Equipment und auf der er sich kaum bewegen kann, und singt ein paar seiner ruhigeren Stücke solo, Songs vom fürchterlichen Sonnenaufgang, wenn der Teufel in die Nase gekrochen ist und alles außer Kontrolle gerät. Er schüttelt seine ihm in die Augen hängenden Locken, das karierte Hemd hängt ihm aus der am Schritt zerrissenen Cordhose. Er müht sich, er schließt die Augen, um das vor ihm liegende Elend nicht zu sehen, er ignoriert die wenigen Zuschauer und versucht erst gar nicht, zu ihnen einen Draht herzustellen. Erst als ein Bandmitglied sich auf der Bühne eine Gitarre greift und damit versehentlich an die Decke stößt, kann er sich den Witz nicht verkneifen, doch hier bitte nicht die Einrichtung zu demolieren.

Dann kündigt er an, dass es von Stück zu Stück lauter wird, und das wird es auch, vielleicht weil er dem Zauber seiner Musik nicht traut und die traurige Szenerie mit dem unvermeidlichen Gitarrengewitter zukleistern muss. Dabei kehrt er dem Publikum wie zur Strafe den Rücken zu und haut autistisch in die Saiten.

Am Ende kommt wie immer die Zugabe. Bobby Bare sagt: »Wenn Dolly Parton jetzt nackt vor mir läge, ich müsste ihr leider einen Korb geben, weil ich jetzt nämlich die Zugabe für ein zauberhaftes Publikum spielen darf, und für dieses Publikum gebe ich einfach alles.« Wie kann man sich gegen die Zumutungen anders zur Wehr setzen als mit Sarkasmus?

An einem wackligen Tisch kaufe ich seine neue CD und lasse sie mir durch ein betont krakeliges Autogramm entwerten.

Bei einem dringend benötigten Tullamore Dew in der Ankerklause frage ich mich, ob das Mädchen, das Bobby Bare in »Painting Her Fingernails« so hinreißend besingt und das darauf wartet, dass irgendetwas passiert, im »West-Germa­ny« an diesem Abend das gefunden hätte, wovon sie träumte. Vermutlich nicht. Aber wer kann das schon so genau wissen.

Zahnschmerzen

Ich hole Nadja vom Flughafen Tegel ab. Sie kommt aus Wien und will sich ins Berliner Nachtleben stürzen. Sie sieht elend aus. Eigentlich so, wie man nach drei Tagen Durchfeiern aussieht. Nicht davor. Zahnschmerzattacken beuteln sie. Nadja gehört zu den Leuten, die Zahnärzte fürchten wie ein Bischof den Minirock und lieber auf eine Katastrophe zusteuern, statt regelmäßig zur Prophylaxe zu gehen. Prophylaxe sei was für »Vollkaskoheinis«, für »Jack-Wolfskin-Deppen«, für »spießige Quadratisch-Praktisch-Gut-Men­schen«, sagt sie. Jetzt sieht die Sache natürlich anders aus. Schmerztabletten helfen nicht mehr, also doch Arzt.

Doktor A. aus Aserbaidschan hat Sonntagsdienst. Er ist klein und rund und speckig, und das erste, wonach er fragt, ist die Praxisgebühr. Auf 50 Euro kann er nicht herausgeben. »Einen Augenblick«, murmelt er und macht sich mit dem Schein aus dem Staub. Einen Augenblick denke ich tatsächlich, er würde mit dem Geld verduften, aber das ist natürlich lächerlich.

Nach der Untersuchung wendet sich Dr. A. an mich: »Ist nicht schlimm.« Und anerkennend fügt er hinzu: »Sie haben Ihre Frau gut gepflegt.« Aber die Zähne, gebe ich zu bedenken. Bakterien, kein Thema, ein bisschen desinfizieren und schon würde es besser werden. Wird es aber nicht.

Am nächsten Tag bringe ich Nadja zum Arzt meines Vertrauens. Der sieht sich die Sache an, breitet die Arme aus und sagt, so groß ungefähr sei die Karies. Und was das denn für ein Arzt gewesen sei? Ein Tierarzt? Wir wollen das nicht kategorisch ausschließen. »Aber nett war er schon«, sagt Nadja. Immerhin hat er uns einen schönen Satz geschenkt, ein sprachliches Kleinod, das uns für immer bleiben wird, und das ist mit zehn Euro nicht überbezahlt. Und auch über die falsche Diagnose ist Nadja sehr froh. Womöglich hätte der »Tierarzt« sonst gebohrt. Ein kalter Schauer durchfährt sie.

In Ruhe Zeitung lesen

Die Sonne lockt. Also raus, in Ruhe Zeitung lesen im Café »Goldmarie«. Aber die sonnensüchtigen Kreuzberger haben bereits alles in Beschlag genommen. Nein, ein Stuhl ist noch nicht besetzt. Ich frage den Mann, ob der Platz noch frei sei. Ja, aber er sei Raucher, ob mich das störe. Nein, ich finde das sogar erfreulich. Ein Widerständler inmitten der rauchfreien Kiezzone.

Kaum habe ich mich gesetzt, quält ein Straßenmusikant ganz fürchterlich sein Instrument. Mein Tischnachbar faucht: »Hau ab. Das kannste in Istanbul machen. Nicht hier. Istanbul ist da drüben«, dabei zeigt er in eine Richtung, in der Istanbul bestimmt nicht liegt.

Er telefoniert: »Ja genau, und besorg Rotkäppchen. Halbtrocken. Ne, nicht trocken. Ja, für 3.99. Und ab die Lotti.« Er kichert ins Handy und ich bemerke, dass seine Aussprache einen gewissen Feuchtigkeitsgehalt aufweist. Noch versuche ich krampfhaft, mich in die Zeitung zu vertiefen, aber ich habe den Kampf bereits verloren, denn mein Gegenüber überrascht mich mit der Frage: »Sind Sie heterosexuell?« Ich sehe auf. Damit ist der Damm gebrochen. Sturzbachartig schlagen die Wellen über mir zusammen. Ich brauche gar nichts zu sagen, auch nicht, ob ich nun heterosexuell bin oder nicht. Obwohl ich das jetzt schon spannend gefunden hätte, jedenfalls, wenn ich er gewesen wäre.

»Hamse was gegen Schwuletten?«, fragt er. Ich sage nichts, ich bin ja nicht verrückt. Ich habe das Gefühl, dass alles, was ich sage, gegen mich verwendet wird. Außerdem will er sowieso nicht, dass ich rede. Und das ist wiederum eine meiner leichtesten Übungen. »Ich bin ne Schwulette. Der dicke Schlitten da gehört meinem Arzt. Auch schwul.« Er zeigt auf einen nagelneuen Mercedes. »Bei dem war ich grad. Ein Arschloch. Hab ihm mal das Leben gerettet. Glauben Se nicht? Is aber so. Wollte mir 40.000 Euro geben, aber ich hab ihm gesagt, steck dir dein Scheißgeld in den Arsch.« Er kichert. »Nützt ihm sowieso nichts. Der machts nämlich nicht mehr lang. Krebs. Ich arbeite ja ehrenamtlich im Krankenhaus. Was ich da jeden Tag für ein Elend sehe!« Er nimmt die Sonnenbrille ab und Rotz und Wasser laufen ihm übers Gesicht. »Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Grauenhaft.« Ich nutze einen Moment der Unachtsamkeit und mache mich davon. Er hat seinen doppelten Absolut verschüttet und sieht nach der Kellnerin, um ihr zu sagen, ein Windstoß hätte das Schnapsglas umgekippt.

»Warten Sie, Sie müssen mein Zeuge sein«, ruft er mir hinterher.

Essen in Kreuzberg

In der Dieffenbachstraße hat ein neues Thailändisches Restaurant aufgemacht. Nadja und ich setzen uns an ein Tischchen. Direkt daneben hat jemand etwas zur Verschönerung der Umwelt beigetragen und ein kleines, von einem Maschendrahtzaun geschütztes Einquadratmeterbiotop angelegt mit einer alten Baumwurzel, Blumen, Unkraut und nach Gartenerde müffelnder Gartenerde.

Hinter uns brüllt eine blonde Powerfrau ins Handy: »Menne, ick bin hier beim Thai, wa.« Alle drehen sich um. Aha, diese Frau, illuminiert von einer neongrünen Trainingsjacke, ist also hier beim Thai. Schön ist das nicht. Sie turnschuht zwischen den Tischen und krakeelt munter weiter. »Komm in die Hufe, Alter. Ick warte dann mal auf dir.«

Ein alter Mann schlurft in Superzeitlupe an einem Krückstock an den Tischen entlang, hält die Hand auf und hustet einen schlimmen Raucherhusten, dem man den grünen Kern anhört, der zwischen dem angesammelten Schleim wabert und nach außen drängt. Ein Motz-Verkäufer wünscht uns »noch einen schönen Abend«, der das aber nicht zu werden verspricht, denn von der anderen Seite bahnt sich unüberhörbar der gefürchtete Chapati-Mann seinen Weg. »Dabadadam« schreit er aus vollem Hals und wie von Sinnen und hält uns das indische, streng riechende Knäckebrot unter die Nase. Das »Dabadadi, dabadadam« hallt noch lange in meinen strapazierten Ohren nach.

»Jetzt fehlt nur noch der Kerzenverkäufer«, sagt Nadja, und schon kommt er angeradelt. In zehn Meter Entfernung schließt er sein Fahrrad ab, kommt bis auf fünf Meter an die Tische, als hätte er Angst, gebissen zu werden, schwenkt eine Kerze groß wie ein Polizeischlagstock, krächzt wie von einem Stimmbruch geplagt kaum hörbar ein weder als Frage noch als Aufforderung zu verstehendes »Kerze kaufen« und dreht auf der Stelle wieder ab, bevor jemand auf die absurde Idee kommt, tatsächlich eine »Kerze kaufen« zu wollen, geht zurück zu seinem Fahrrad, das er wieder aufschließt, um weiterzufahren.

»Ist schon ein bisschen gruselig, oder?«, sagt Nadja. »From Dusk Till Dawn in Kreuzberg«, sage ich. Dann zahlen wir.

Türler ve etiketler

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141 s. 20 illüstrasyon
ISBN:
9783862870264
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