Kitabı oku: «Die Siegel von Tench'alin»
Inhaltsverzeichnis
Copyright
Prolog – Was bisher geschah
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Dies könnte Sie ebenfalls interessieren:
Copyright
Alle Namen in diesem Buch, auch die von Unternehmen, sind rein fiktiv.
Romantrilogie von Klaus D. Biedermann:
Steine brennen nicht
ISBN: 978-3-937883-52-6
Die Siegel von Tench’alin
ISBN: 978-3-937883-53-3
Das Erbe von Tench’alin
ISBN: 978-3-937883-83-0
eBook (1. Auflage Printversion März 2011)
Deutsche Ausgabe: © EchnAton Verlag Diana Schulz e.K.
Gesamtherstellung: Diana Schulz
Lektorat: Angelika Funk
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München
Umschlagmotiv: © Stefan Hilden unter Verwendung eines Motives von Shutterstock.com
ISBN: 978-3-937883-53-3
.
.
Klaus D. Biedermann
Die Siegel von Tench’alin
Meinen Großvätern
Wenn es nur eine einzige Wahrheit gäbe,
könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.
Pablo Picasso
Mein Dank geht an Gerold Kiendl, der geduldig, ideenreich und aufmerksam nach Zeichensetzung und Rechtschreibung geschaut hat, an Renate, für ihre fleißigen Vorkorrekturen und Aufmunterungen, dranzubleiben.
Mein Dank geht an Justus Frantz, der auf Gran Canaria einen Platz zur Verfügung stellt, an dem man einfach kreativ sein muss – und dort an Christian und José, die genialsten Köche und liebevollen Verwöhner, sowie an Gaby, die gute Fee der Finca.
Prolog – Was bisher geschah
Als die drastischen Veränderungen der Erde im Jahre 2166 ihr vorläufiges Ende gefunden zu haben schienen, hatten die Überlebenden die Welt kartografisch in zwei Hälften geteilt. Jeder Mensch konnte wählen, in welchem Teil der Welt er leben wollte. Die unterschiedlichen Lebensformen wurden durch einen Ewigen Vertrag besiegelt.
Der eine Teil der Menschheit hatte den immer rasanteren Fortschritt moderner technischer Entwicklungen gewählt und lebte fortan in der sogenannten Neuen Welt. Die Menschen im anderen Teil der Erde hatten sich auf deren eigene natürliche sowie erneuerbare Ressourcen, alte Werte und Traditionen besonnen und ihr Lebensraum wurde seither Alte Welt genannt. Hier vertrauten sie den Kräften der Natur und versuchten, im Einklang mit ihr zu leben. Sie hatten ihren Ländern und Orten, soweit diese noch existiert hatten, deren uralte ursprüngliche Namen zurückgegeben oder hatten sie liebevoll wieder aufgebaut. Jeder Mensch hoffte, im sicheren Teil der Arche zu sein, denn dass es ums nackte Überleben ging, war damals jedem klar.
Durch die Teilung der Welt war die größte Umsiedelungsaktion der Geschichte nötig geworden, da jeder Mensch wählen konnte, wo er leben wollte. Ein Zurück sollte es auch für die nachkommenden Generationen nicht mehr geben. Die Organisation und logistische Umsetzung hatten noch in den Händen der UNO gelegen, die sich im Laufe der Zeit als Weltregierung etabliert, sich hernach aber aufgelöst hatte. Seit dem ersten Januar des Jahres 2167 war jeder Teil für sich selbst und die Einhaltung des Ewigen Vertrages verantwortlich. Beobachtet wurde all dies vom Rat der Welten, von dem die meisten Menschen allerdings keine Kenntnis hatten.
Im Jahr 2870 hatte BOSST, einer der größten Konzerne der Neuen Welt, einen streng geheimen Auftrag zu vergeben. Man hatte Kenntnis von Bauplänen einer Maschine, des sogenannten Myon-Neutrino-Projektes, mit dem nach vorliegenden Informationen Energie aus dem Äther gewonnen werden konnte. Diese Pläne befanden sich allerdings in der Alten Welt. Für den Konzern würden sie einen unschätzbaren Wert darstellen.
Nikita Ferrer, eine junge, ehrgeizige und aufstrebende Wissenschaftlerin im Dienste von BOSST, hatte den Auftrag erhalten, diese Pläne zu beschaffen. Aus Abenteuerlust und weil sie gewusst hatte, dass dies eine Chance war, die so leicht nicht wiederkommen würde, hatte sie in dieses gefährliche Unternehmen eingewilligt. Da man sich seitens der Firma sicher war, alle nötigen Vorkehrungen getroffen zu haben, nahm man das Risiko in Kauf, dieser Bruch des Ewigen Vertrages könnte entdeckt werden. Nach offizieller Darstellung wurde Nikita Ferrer für ein paar Wochen in die Südstaaten geschickt, um bei einem kritischen Firmenprojekt den dortigen Wissenschaftlern zur Seite zu stehen. Das war es auch, was sie selbst, ganz im Dienste der Wissenschaft und aus Loyalität zu ihrem von ihr sehr geschätzten Vorgesetzten Professor Rhin, ihren Freunden und Eltern erzählt hatte.
Sie hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst, dass sie eine Walk In war, dass sie nämlich zu den Menschen gehörte, die bewusst inkarnieren können und unter gewissen Umständen die Erinnerung aller früheren Leben zur Verfügung haben. Sie selbst hatte die Pläne einst in den Gewölben der Burg Gisor im geheimnisvollen Tal Angkar-Wat versteckt. Nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten, darunter der Konzernchef Mal Fisher, selbst ein Walk In, wusste das.
Senator Ferrer, Nikitas Vater, hatte seit der Abreise seiner Tochter ein ungutes Gefühl gehabt und die Version eines Forschungsauftrages im Süden angezweifelt. Trotz bester Verbindungen zum Geheimdienst hatte er es nicht verhindern können, dass sie mit einem U-Boot unter dem Kommando eines gewissen Kapitän Franch in der Alten Welt an den Küsten Flaalands abgesetzt worden war. Und als er es erfahren hatte, war es zu spät, denn da war sie bereits in der Alten Welt angekommen. An Deck der U46 hatte Nikita eine erste mystische Begegnung mit einer völlig anderen Welt gehabt, der noch einige folgen sollten. Ngorien, ein Meergeist und Anführer der Andaros, hatte ihr wichtige Hinweise auf den Fundort der Pläne gegeben.
Ihr Kollege, Dr. Will Manders, der in Nikita verliebt war, hatte seine Nachforschungen über ihren Verbleib inzwischen mit seinem Leben bezahlt. Genauso wie Kapitän Franch und seine Besatzung, die daher niemandem von ihrer letzten Fahrt mit der U46 erzählen konnten.
In Flaaland, am anderen Ende der Welt, war man aber auf das Vorhaben der Anderen, wie die Bewohner der Neuen Welt nur genannt werden, aufmerksam geworden und nicht untätig geblieben. Die Krulls, die zur Gattung der Gnome gehören und seit alten Zeiten das Buch Balgamon in den Höhlen von Tench´alin pflegen und bewachen, hatten zwei Wesen mit besonderen Fähigkeiten in die Neue Welt entsandt, um nähere Informationen über die geplante Operation zu erhalten. Eines davon, ein Emurk namens Vonzel, der fast entdeckt worden wäre, hatte nach einigen brenzligen Zwischenfällen herausgefunden, dass es Nikita war, die die Unternehmung durchführen sollte. Er hatte damit sein Volk, die Wächter von Angkar-Wat aus einer dreihundertjährigen Verbannung gerettet.
Die Krulls hegten aber immer noch die Befürchtung, dass die Anderen in Wirklichkeit an dem interessiert waren, was von den Siegeln von Tench´alin in dem weitläufigen Höhlensystem der Agillen beschützt wurde. Käme dieser Schatz in den Besitz der Neuen Welt und dort in die falschen Hände, würde das Konsequenzen unvorstellbaren Ausmaßes haben. Nach Erkenntnissen der Krulls und ihrer Bundesgenossen verfügte man zwar inzwischen über die technischen Möglichkeiten, mit den Geheimnissen, die von den Siegeln verschlossen wurden, zu experimentieren, war aber in der geistigen Entwicklung noch weit davon entfernt, die ganze Tragweite solcher Experimente zu erkennen.
Effel, ein junger Mann der Alten Welt aus dem Dorf Seringat, war vom Ältestenrat seines Volkes ausgewählt worden, um den feindlichen Übergriff zu verhindern. Der mächtige Krull Perchafta hatte sich ihm zu erkennen gegeben und war sein Reisebegleiter, weiser Ratgeber und Lehrer geworden.
Als Effel gerade zwölf Jahre alt geworden war, hatte Mindevol ihn unter seine Fittiche genommen und war sein spiritueller Lehrer und Mentor geworden. Wann immer es seine Zeit neben Schule, Ausbildung und anderen Pflichten erlaubt hatte, hatte der Junge den Dorfältesten besucht, der ihn auch manchmal auf eine seiner kurzen Reisen in die Nachbargemeinden mitnahm. Seine Kameraden verbrachten ihre Freizeit derweil auf dem Bolzplatz oder streunten einfach so in der Umgebung herum, die immer ein Abenteuer bereithielt, bei dem sie sich beweisen konnten.
Als Mitglied des Ältestenrates der Kuffer wurde Mindevol oft als Ratgeber oder Schlichter bei Streitigkeiten hinzugezogen und Effel hatte in den Verhandlungen stets aufmerksam zugehört. Im Anschluss hatten sie auf dem Rückweg über das Geschehene gesprochen, vor allem über die Gründe, die Mindevol zu dieser oder jener Entscheidung veranlasst hatten. Immer wieder hatte sich der Alte über die tiefsinnigen Gedankengänge des Jungen gewundert. Dessen kluge Fragen hatten ihn überzeugt, mit Effel die richtige Wahl getroffen zu haben.
»Mira«, hatte er eines Abends zu seiner Frau gesagt, »aus dem Jungen wird mal etwas Besonderes. Er ist eine alte Seele mit einer großen Bereitschaft dazuzulernen.«
»Ich weiß«, hatte sie dann lächelnd zur Antwort gegeben.
Effels Eltern waren nach anfänglichen Bedenken, vor allem weil seine beiden Geschwister so ganz anders waren, stolz auf ihren Sohn gewesen. Die Zeit bei Mindevol und Mira schien ihn nicht von anderen wichtigen Dingen abzulenken, er blieb mit beiden Füßen auf der Erde, wie sein Vater einmal bemerkt hatte, und so hatten sie voller Freude seine weitere Entwicklung beobachtet.
Anfangs waren für Effel viele der Lehren schwer nachzuvollziehen gewesen. Von wirklichem Verstehen konnte lange Zeit keine Rede sein. Erst nach und nach war es einfacher geworden – und einleuchtender. Seine Lehrer hatten ihn immer wieder auf die Zusammenhänge zwischen allen Dingen dieser Welt aufmerksam gemacht und neben vielem anderen gelehrt, dass es so etwas wie Zufall überhaupt nicht gibt. Besonders das Resonanzgesetz hatte es seinem Lehrer Mindevol angetan. Wann immer sich eine Möglichkeit ergab, sprach er darüber.
»Wenn wir ein Ereignis nicht verstehen, sagen wir, es sei Zufall, weil das bequemer ist«, hörte er seinen alten Mentor öfter sagen, »oder weil wir dann glauben, nicht die Verantwortung dafür übernehmen zu müssen. Aber die Dinge hängen nun einmal zusammen – ausnahmslos, Effel. Es ist wichtig, dass du das erkennst. Alles bedingt sich und ist voneinander abhängig. Die Menschen und die Tiere, die Bäume und die Blumen, die Flüsse und die Meere, die Sterne und die Wolken. Zufall ist, wenn der liebe Gott inkognito kommt. Die Dinge gehen in Resonanz zu uns und es ist lohnenswert, sich dies immer wieder bewusst zu machen. Je offener du für diese Erkenntnisse wirst, je bewusster du wirst, desto mehr kannst du daraus lernen. Weisheit kommt nicht durch Erfahrung, sonst wäre ja jeder alte Mensch weise. Wir werden weise, weil wir das Erfahrene reflektieren. Lebendige Erfahrung umfasst auch konsequentes Handeln. Niemand ist weise, nur weil er etwas weiß.«
Dann hatte er sich wieder irgendeiner Tätigkeit zugewandt und seinem Schüler die Gelegenheit gegeben, das Gesagte zu verarbeiten. Effel hatte es damals nicht in seiner ganzen Tragweite verstanden. Auch heute gab es manchmal noch Situationen, die es ihm schwer machten, an dieses universelle Gesetz zu glauben. Aber damals wie heute war er bemüht, die Lehren des Dorfältesten nicht nur zu akzeptieren, sondern sie auch in sein Denken und vor allem in sein Handeln zu integrieren. Die Begegnung mit Perchafta hatte ihn darin noch bestärkt.
Im entscheidenden Moment war Effel aber auf sich alleine gestellt gewesen, genauso wie Nikita, die von Professor Rhin mithilfe einer von BOSST entwickelten Brille aus der Ferne begleitet worden war. Erst kurz vor dem Ziel waren Nikitas Erinnerungen an ein früheres Leben wie eine Sturzflut über sie gekommen und sie hatte den Eingang zu dem geheimnisvollen Tal Angkar-Wat und auch zu den Höhlen von Tench´alin gefunden.
Professor Rhin war damals mehr als erstaunt gewesen, als sein Chef, Mal Fisher, ihm eröffnet hatte, man habe sein jüngstes Teammitglied, Nikita Ferrer, dazu ausersehen, die Pläne des Myon-Neutrino-Projektes aus der Alten Welt zu beschaffen. Vor allem, als er den Grund hierfür erfahren hatte. Seine junge, aufstrebende Mitarbeiterin war eine Walk In, die angeblich in einem früheren Leben die Pläne, die für seine Welt so sehr viel bedeuteten, schon in Händen gehabt haben sollte. Woher man das wusste, darüber hatte der Professor noch gar nicht nachgedacht. Viel zu aufregend war die Aussicht gewesen, solche Pläne bald besitzen zu können. Er hatte damit begonnen sich auszumalen, was das für seine wissenschaftliche Reputation bedeuten würde. Sein hohes Ansehen, das er bereits genoss, würde ins Unermessliche steigen. Es wäre die Krönung all dessen, wofür er lebte. Alles, was er seiner Karriere je geopfert hatte, würde einen Sinn bekommen. Jetzt durfte nichts mehr schiefgehen. Er würde Tag und Nacht wach bleiben und seine junge Mitarbeiterin mithilfe der MFB, der von ihm entwickelten Multifunktionsbrille, begleiten. Er hatte gleich geahnt, dass die junge Nikita Ferrer die Richtige war. Als sie ihm beim Einstellungsgespräch gegenüber gesessen hatte, hätte er ihre ausgezeichneten Zeugnisse nicht mehr zu sehen brauchen. Er hatte sogar für einen kurzen Moment geglaubt, ihre Aura sehen zu können. Gemessen hatte er diese schon bei vielen Menschen, die Geräte dazu hatte er selbst bis zur Perfektion weiterentwickelt.
Der Plan Mal Fishers war aufgegangen, Nikita hatte sich wirklich erinnert. Was er nicht hatte einplanen können, war, dass Nikita vielleicht gar keine Lust mehr haben könnte, wieder heimzukehren.
In Effels Heimat waren inzwischen merkwürdige Dinge geschehen. Vincent, der Sohn des reichen Farmers Jared, war nach einem missglückten Mordversuch an der Seherin Brigit in die Berge geflohen und hatte dort ebenfalls zufällig den Zugang zum Tal Angkar-Wat entdeckt. Er war aber von einem der Wächter getötet worden.
Nikita und Effel hatten schließlich eine für sie schicksalhafte Begegnung in dem Tal und waren bald darauf als Paar nach Seringat zurückgekehrt. Über die Pläne und den Vertragsbruch aber sollte vom Rat der Welten demnächst entschieden werden. Die Versammlung sollte im Tal Angkar-Wat stattfinden.
* * *
Kapitel 1
Zärtlich berührte er im Halbdunkel ihr Gesicht. Er wollte sich vergewissern, dass diese Frau, die neben ihm lag und schlief, nicht das letzte, für immer unvergesslich bleibende Bild eines soeben verblassten, wunderschönen Traumes war. Erleichtert reckte er sich und atmete tief. Er lächelte, denn damit stand für ihn fest, dass auch die letzten erlebnisreichen Tage Wirklichkeit gewesen waren.
Gott sei Dank, dachte er noch. Nikita war aus Fleisch und Blut und sah überirdisch schön aus. Wie aus einer anderen Welt kommend, nicht wahr?, flüsterte es in ihm. Und dann dachte er, dass das ja auch stimmte. Er kannte durchaus intensive, sehr lebendige Träume, aus denen er manchmal schweißgebadet aufwachte und dann quälende Minuten brauchte, um herauszufinden, was von all dem zuvor Durchlebten Realität war.
HEUTE NACHT TRÄUMTE ICH, ICH SEI EIN SCHMETTERLING. UND NUN WEISS ICH NICHT, BIN ICH EIN SCHMETTERLING, DER TRÄUMT, ER SEI CHUANG TSE, ODER BIN ICH CHUANG TSE, DER TRÄUMT, ER SEI EIN SCHMETTERLING.
Dieser, in Großbuchstaben auf goldfarbenem Büttenpapier gedruckte Spruch eines chinesischen Weisen, der angeblich vor mehr als zweitausend Jahren lebte, stand noch in dunklem Holz gerahmt an einer Wand des Schlafzimmers gelehnt. Er würde ihn, so beschloss er in diesem Moment, noch vor allen anderen Bildern, die er in seinem neuen Haus noch aufzuhängen hatte, gleich neben der Tür zum Badezimmer anbringen. Vom Fußboden neben seiner Seite des Bettes hörte er Sams tiefe gleichmäßigen Atemzüge. Der große Wolfshund durfte seit der Rückkehr auch die Nacht in seiner Nähe verbringen, wie er es auf der abenteuerlichen Reise immer getan hatte. Vorher war das Schlafzimmer, genauso wie das Bad, seine Tabuzone gewesen. Nun aber war der von Sendo liebevoll geflochtene Weidenschlafkorb mit dem Lammfell, der im Hauseingang gleich hinter der Tür stand und ein sehr komfortables Hundebett abgab, verwaist.
Auf Effels Nachttisch lag die Alraunenwurzel, die ihm Perchafta geschenkt hatte und die ihrer Form nach beinahe etwas Menschliches hatte. Er wusste, dass diese Pflanze äußerst selten war, und selbst wenn man sie gefunden hatte, war man ihrer noch lange nicht habhaft. Ihr wurden magische und heilende Kräfte zugesprochen und es sollten schon merkwürdige Dinge geschehen sein, wenn man bei ihrer Ernte nicht ganz bestimmte Rituale sehr genau eingehalten hatte. Doch von dem Krull hatte er noch mehr erfahren: Irgendwann würde sie ihm einmal von großem Nutzen sein. Seitdem trug er sie tagsüber immer bei sich und auch nachts bewahrte er sie sorgsam in seiner Nähe auf.
Effel schlug die Bettdecke zurück, stand auf, trat mit drei Schritten an das Fenster und öffnete es leise. Sam erwachte, fand alles in Ordnung, legte seinen Kopf wieder auf eine Vorderpfote, tat einen zufrieden klingenden Seufzer und schlief weiter.
Die Nacht, in der es geregnet hatte, wich allmählich dem Tag. Am Horizont ging die Sonne auf. Ganz sanft erfüllte sie den Himmel in feurigen Tönen. Wolken ritten auf dem kühlen Herbstwind und erste Vogelstimmen waren zu hören. Der nahe Wald, jetzt noch in dunklem Grau, aus dem langsam weißer Nebel stieg, bildete einen starken Kontrast zum Rest des Himmels. Es würde nur noch wenig Zeit verstreichen, bis er im vollen Licht der Sonne seine ganze Farbenpracht zeigen würde.
Der frühe Morgen war seine liebste Tageszeit. Er hatte es sich schon vor Jahren zur Gewohnheit gemacht, noch vor dem Frühstück zusammen mit Sam eine halbe Stunde oder länger durch den Wald zu laufen. Heute tat er das nicht, denn er wollte jeden Moment mit Nikita genießen. Gerade erinnerte er sich daran, was Perchafta während ihrer gemeinsamen Reise an einem Abend gesagt hatte: »Wenn etwas zur Gewohnheit wird, egal was es ist, sei es noch so gesund oder meditativ, kann es schädlich sein. Unterbrich ab und zu den Rhythmus, dann bleibst du wach. Gewohnheiten verleiten zum Schlafen ... und auch von gesunden Dingen kann man abhängig werden.« Dabei hatte er wieder sein verschmitztes Schmunzeln gezeigt.
Das war nicht das einzige Mal, dass er Effel dazu gebracht hatte, eine Überzeugung in Frage zu stellen. Die Begegnung mit Perchafta gehörte, und da war er sich vollkommen sicher, zu den wichtigsten seines Lebens. Bis vor Kurzem hatte er zwar hin und wieder von der Existenz dieser seltsamen Wesen gehört, aber noch nie eines von ihnen gesehen. Ihm war schnell klar gewesen, dass Perchafta damals, am ersten Tag seiner Reise, von ihm erkannt werden wollte. Nachdem der weise Gnom dann sein Begleiter geworden war, hatte Effel auch andere Krulls sehen können und deren warmherzige Gastfreundschaft genossen. Er hatte viele ihrer erstaunlichen Fähigkeiten selbst erfahren. Dass das längst noch nicht alle waren, sollte die Zukunft ihm noch zeigen.
Mindevol, der Dorfälteste, hatte nach seiner Rückkehr mit einem wissenden Augenzwinkern zu ihm gesagt: »Na, mein Lieber, die gemeinsame Zeit mit Perchafta hat dich verändert, nicht wahr? Im Außen war deine Reise zwar kurz, im Innen war sie dagegen um einiges länger ... und tiefer gehend. Die Begegnung mit Nikita hat sicherlich dazu beigetragen, aber das ist eine andere Geschichte.« Die noch längst nicht zu Ende ist und in der du noch eine Menge dazulernen wirst, sagte er ihm nicht.
»Du hast völlig recht, Mindevol. Perchafta ist ein Geschenk. Er verbindet Lernen mit unmittelbaren Erfahrungen, mit tief gehenden und manchmal auch recht heftigen Erfahrungen. Manchmal hatte ich das Gefühl, als wüsste er immer, was passieren wird ... so als ob er die Situationen erschaffen würde. Ich habe mich immer sicher gefühlt ... auch wenn ich während meiner Innenreisen an weit entfernten Orten und in anderen Zeiten gewesen war, habe ich immer gespürt, dass er bei mir ist. Er zeigt eine große Präsenz bei allem, was er tut oder sagt.
Das größte Geschenk aber ist die Begegnung mit Nikita und ich hoffe sehr, dass dieses Erlebnis noch lange andauert. Dass du mich für diese Mission ausgewählt hast, werde ich dir mein Leben lang danken, egal was noch geschieht.«
»Danke nicht mir, danke dir selbst, Effel. Wenn du dich nicht auf alles eingelassen hättest, wäre nichts geschehen. Ich wusste ja, dass du wissbegierig bist ... und mutig«, fügte er lächelnd hinzu, »immerhin kenne ich dich ja schon eine ganze Weile.«
Und du wirst noch sehr viel mehr Mut brauchen, fügte er noch im Stillen an.
Wie schön es hier ist, ging es Effel gerade durch den Kopf. Er hatte von Mindevol gelernt, auch Altbekanntes immer mal wieder mit neuen Augen zu betrachten. Und nach einer kleinen Pause, in der er seinen Blick über Seringat schweifen ließ, dachte er: Ich werde alles dafür tun, dass Flaaland so friedlich bleibt, wie es ist ... sofern es in meiner Macht liegt. Er schaute zu dem breiten Doppelbett hinüber, wo Nikita im Schlaf gerade leise stöhnte, als ihn ein anderer Gedanke anflog. Würde ich in deiner Welt leben können und ... wollen, wenn es keine andere Möglichkeit gäbe? Würde ich für dich das alles hier aufgeben? Er schüttelte diese Vorstellung so schnell wieder ab wie ein lästiges Insekt. Wenn es wirklich einmal so weit kommen sollte, könnte er immer noch darüber nachdenken, obwohl er eine leise Ahnung davon hatte, wie er sich entscheiden würde. Aber im Moment zählte nur das Hier und Jetzt.
Unten im Dorf krähte ein Hahn. Zunächst zaghaft und leise, so als wolle er überprüfen, ob seine Stimme noch funktioniert, dann lauter. Unmittelbar darauf antwortete ihm ein zweiter, offenbar noch verschlafen, dann ein dritter. Innerhalb kurzer Zeit war daraus ein Konzert geworden, in das bestimmt jeder Hahn des Dorfes eingestimmt hatte. Und es schien so, als versuchte dabei jeder, alle anderen an Lautstärke zu übertreffen. Manche Stimmen überschlugen sich im Übereifer, worüber Effel innerlich leise lachen musste.
Fast so, wie manchmal auf unseren Versammlungen, dachte er und erinnerte sich an den letzten April, als beraten worden war, wie man auf die Vertragsverletzung der Anderen reagieren sollte. Nach dem überraschenden Besuch von Schtoll, der mitten im Winter nach langer Reise mit eisigem Bart vor Mindevols Haus gestanden hatte, um Verbündete zu suchen, war der Ältestenrat einberufen worden. Bis auf wenige, die krank oder anderweitig verhindert waren, waren alle gekommen und Effel konnte sich noch gut an die stickige Luft im Saal erinnern, den man trotz der winterlichen Kälte gar nicht hätte zu heizen brauchen.
Für Effel hatte damit das größte Abenteuer seines Lebens begonnen und er wurde das Gefühl nicht los, dass es noch lange nicht zu Ende war. Er würde Schtoll gerne bald wiedersehen. Nicht nur, um ihm berichten zu können, was aus seiner Mission geworden war, die er ja ausgelöst hatte. Das würde gleich nach den Beratungen des Rates der Welten auf anderem Wege ohnehin sehr viel schneller geschehen. Nein, er wollte mehr wissen. Er wollte mehr über die Lebensweise und die Kultur dieses so weit entfernt lebenden Volkes aus dem Süden erfahren. Schtoll hatte während seines kurzen Besuchs viel zu wenig davon erzählen können und das, was er erzählt hatte, war in mancher Beziehung so völlig anders gewesen als das, was Effel kannte. So wie er den Fürstensohn einschätzte, würde dieser nicht Däumchen drehen und darauf warten, was andere entschieden, ganz egal, wer das war. Leute wie er nahmen die Dinge selbst in die Hand, das hatte er ja schon bewiesen.
In Seringat waren einige Fenster bereits erleuchtet und aus einem flackerte unruhig rötliches Licht. Soko ist also schon dabei, das Feuer in der Werkstatt anzufachen, dachte Effel. Der Schmied war ebenfalls Frühaufsteher und Effel sah ihn förmlich vor sich, wie er mit nacktem, muskulösem Oberkörper die beiden mächtigen Blasebälge in seiner Werkstatt bediente. Diese lehnte sich mit ihrem weit ausladenden, riedgedeckten Vordach, das zur Wetterseite hin fast bis zum Erdboden reichte, ziemlich windschief an das Wohnhaus aus Backstein an. Dort wohnte Soko mit seiner alten Mutter Susa, die nach einem Treppensturz seit einiger Zeit pflegebedürftig an ihr Bett gefesselt war und um diese Stunde sicher noch schlief.
Agata, die kinderlose Witwe Berthors, der vor zwei Jahren im Hochgebirge bei der Verfolgung einer verletzten Gämse abgestürzt und ums Leben gekommen war, hatte ihre Pflege übernommen und schaute mehrmals am Tag nach ihr. Sie versorgte die alte Frau liebevoll, aber es gab auch Leute die wissen wollten, dass ihr größeres Interesse Soko galt. Weil sie am anderen Ende des Dorfes wohnte, war es für sie manchmal, wie sie es nannte, ein kleiner Spießrutenlauf, wenn ihr aus einem der Gärten oder einer geöffneten Haustür, an der sie vorübergehen musste, zugegebenermaßen öfter als vielleicht nötig, zugerufen wurde: »Na, Agata wie geht es denn Susa heute, ist Soko auch da?« Oder: »Soko ist aber nicht zu Hause!« Selbst wenn dabei gekichert wurde, war dies durchweg freundlich gemeint, denn jeder im Dorf hätte Agata wieder einen Mann gegönnt ... und Kinder. Und wenn sich die junge Frau dann der Schmiede näherte, kam sie sich wie eine Sechzehnjährige vor, in deren Bauch Schmetterlinge ihre ersten Flugübungen vollführten.
Bestimmt hatte Soko heute in der Frühe schon die kranken oder verletzten Tiere versorgt, die er hinter dem Haus in einem geräumigen Stall, in unzähligen Käfigen und kleinen Gehegen beherbergte, denn das war stets seine erste Arbeit des Tages. Scherzhaft hatte er einmal gesagt, dass er nicht genau wüsste, ob er nun Schmied und im Nebenberuf Tierarzt sei oder umgekehrt. Er war bekannt für seine heilenden Hände. Besonders durch die meist erfolgreiche Behandlung von Pferden hatte er sich einen Namen gemacht.
Bei Effels Ankunft in Seringat war er jedenfalls nicht zu Hause gewesen, da er in einem der Nachbardörfer war, um einem Freund beim Beschlagen der Pferde eines großen Gestüts zu helfen. Er würde wohl an einem der nächsten Tage vorbeikommen, vermutete Effel. Jetzt hatte er sicher viel zu tun, wenn er seine unerledigten Aufträge noch fristgerecht fertigstellen wollte. So groß und stark er auch äußerlich war – viele fanden ihn sogar grobschlächtig – so weich war doch sein Herz. Wer ihn nicht näher kannte, hätte in diesem oft lauten und manchmal auch cholerischen Mann, den man besser nicht reizte, niemals eine sanfte Seite vermutet, es sei denn, man hatte ihn schon bei der Behandlung von kranken Tieren erlebt. Wenn er mit seinen großen Händen behutsam die Wirbelsäulen seiner vierbeinigen Patienten abtastete, verschobene Wirbel wieder einrenkte oder Hüftgelenke begradigte, schien er sich in einen Menschen zu verwandeln. Erst im letzten Jahr hatte er Effels Lieblingspferd, das sich bei einem Ausritt vertreten hatte, mit zwei kurzen Handgriffen kuriert.
An Soko hatte Effel sehr deutlich erkannt, dass jede Medaille zwei Seiten hat. Wenn er den fünfzehn Jahre älteren Schmied in ein Nachbardorf zur Arbeit begleitet hatte, was gelegentlich vorkam, hatte dieser ihm in langen Gesprächen auch diesen Teil seiner Persönlichkeit offenbart. Stets hatte er ein offenes Ohr und Effel konnte mit ihm über alles reden. Soko war ein einfühlsamer Zuhörer und wenn er einen Rat gab, so tat er dies immer so, dass es nicht wie ein Ratschlag aussah. Er hatte die Gabe, es für den anderen so aussehen zu lassen, als sei es dessen eigene Idee gewesen. Mit der Zeit waren sie schließlich Freunde geworden.
In diesem Moment sah und hörte Effel seine Vermutung über die Vorgänge in der Schmiede auch schon bestätigt, denn eine dünne Rauchfahne stieg kräuselnd aus dem Kamin des mit dunkelroten Schindeln bedeckten Hauses und zerteilte den inzwischen rosafarbenen frühmorgendlichen Himmel. Soko musste gerade ein Fenster geöffnet haben, denn das Zischen der Blasebälge war jetzt auch hier auf dem Hügel deutlich zu vernehmen. Es hörte sich an, als würden zwei hungrige Riesenschlangen durch das Dorf kriechen, die bereit waren, alles zu verschlingen, was ihnen unvorsichtigerweise oder todesmutig begegnen würde.
Von seinem Fenster aus konnte Effel das ganze Dorf überblicken. Er hatte etwas oberhalb von Seringat nicht weit vom Waldrand gebaut. Das Haus stand auf einem Stück Land mit einer kleinen Quelle, die er eher zufällig während einer Jagd entdeckt hatte, und erst kurz vor seiner Abreise war er dort eingezogen.
Jetzt war er mit der Frau zurückgekehrt, mit der er hier leben wollte, und er hoffte, dass dies auch ihr Wunsch war oder bald werden würde. Saskia, seine Jugendliebe und Freundin, hatte während seiner Abwesenheit viel Arbeit in den Garten gesteckt. Das hatte er bei seiner Rückkehr mit einem Blick gesehen und sofort ein schlechtes Gewissen bekommen, das sich seitdem auch hin und wieder zu Wort gemeldet hatte.