Kitabı oku: «Die Siegel von Tench'alin», sayfa 2

Yazı tipi:

Seit seiner Ankunft in Seringat hatte er sie nur einmal kurz aus der Ferne gesehen und seitdem war sie aus seinem Blickfeld verschwunden. Sogar Mira wusste angeblich nicht, wo sie war.

»Ich weiß auch nicht, wo sie sich verkrochen hat«, hatte sie auf sein Fragen geantwortet. »Es ist wohl besser, sie erst einmal in Ruhe zu lassen. Wenn sie Hilfe braucht oder einfach nur reden will, wird sie zu mir kommen ... da bin ich mir ganz sicher. Ich glaube, dass sie etwas geahnt hat, denn nach deiner Abreise hat sie etwas von zwei Tauben erwähnt. Sie sagte mir, die Vögel hätten zunächst beisammen gesessen, seien dann aber in getrennten Richtungen davongeflogen. Für Saskia hatte es wohl eine Bedeutung, denn sie hatte Tränen in den Augen, als sie mir davon erzählte.« Mira ahnte zwar, wo die junge Frau sich aufhielt, wollte es aber für sich behalten.

»Mir ging es genauso, Mira, und ich hatte gehofft, sie hätte es nicht gesehen. Aber das war wohl zu optimistisch gedacht, denn sie hat von euch gelernt und ist es gewohnt, solche Zeichen zu deuten.«

Effel fröstelte ein wenig, wie er jetzt so nackt am Fenster stand, und das kam nicht allein von dem kühlen Morgenwind, der in das Zimmer wehte. In den Bergen wird bald schon der erste Schnee fallen, wie wohl der Winter wird?, dachte er. Und dann: Ob Sas nach Haldergrond geht? Ich werde sie suchen und mit ihr reden. Ich möchte ihr alles erklären, das bin ich ihr schuldig. Ich werde ihre Mutter fragen, wo sie ist, dann Ihna und wenn die beiden es mir nicht sagen, werde ich Brigit bitten, mir zu helfen.

Brigit war eine Seherin, die weit über die Grenzen von Seringat hinaus bekannt war und etwas außerhalb des Dorfes alleine mit ihren Katzen in einem kleinen Haus mit wunderbar verwildertem Garten lebte. Von überall her kamen die Leute, um sich bei ihr Rat zu holen. Effel hatte inzwischen durch seinen Bruder von dem Überfall auf Brigit erfahren. Auch dass Vincent, der verwöhnte Erbe von Raitjenland, mit dem Mordanschlag in Verbindung gebracht wurde. Seitdem war Vincent verschwunden – und er würde es auch bleiben, was aber hier noch niemand wusste.

Für den Fall, dass sich Perchafta an diesem Morgen nicht melden würde, um von den Beschlüssen des Rates der Welten zu berichten, was eher unwahrscheinlich war, wollte Effel nach dem Frühstück aufbrechen, um Brigit aufzusuchen. Er fragte sich, ob Nikita wohl mitkommen wollte und wenn, was sie als Wissenschaftlerin der Neuen Welt von einer Frau halten würde, die hellsehen konnte oder aus der Hand las. Er war sehr gespannt.

Die weißen Vorhänge, die Saskia genäht hatte, bauschten sich leicht im Wind. Sie sehen aus wie die Segel unserer Schiffe, mit denen wir aus Frankreich fliehen mussten ... es war verdammt knapp damals, dachte er und fast schien es ihm, als würde er wieder den stark salzigen Geschmack der Meeresbrise auf seiner Zunge schmecken, als sie den Hafen von La Rochelle hinter sich gelassen hatten und Fahrt aufnahmen. Er wollte aber den jetzigen Moment genießen und nicht wieder von einer der so überaus lebendig erlebten Zeitreisen in Bann genommen werden, von denen er mit Perchafta und später auch im Tal mit Nikita einige unternommen hatte.

Er blickte sich um. »Die ganze Welt in einem Raum«, flüsterte er »ich liebe dich so sehr, Leila.« Er würde sich daran gewöhnen müssen, dass Leila in diesem Leben Nikita hieß. Er hatte keine Gelegenheit, sich weiteren Gedanken zu überlassen, denn plötzlich fühlte er eine feuchte Hundeschnauze an seinem Oberschenkel. Effel beugte sich zu seinem Hund hinunter, streichelte ihn und sagte ganz leise: »Na Alter, hast du gut geschlafen? Wir haben wohl einiges an Schlaf nachzuholen.« Obwohl Mindevol jetzt sicher sagen würde, dass man im Leben nie etwas nachholen kann. Der Hund antwortete mit leisem Grunzen und verhaltenem Schwanzwedeln, gerade so, als wolle auch er Nikita nicht aufwecken.

Nach ihrer Rückkehr aus Angkar-Wat war der Wolfshund der Held des Dorfes gewesen, nachdem Effel von dem Erlebnis mit dem mächtigen Grizzly erzählt hatte. Damals hatte Sam ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Suna hatte daraufhin seinem vierbeinigen Freund zur Belohnung einen mächtigen Knochen aus der Metzgerei ihres Bruders gebracht, mit dem er zwei Tage hingebungsvoll beschäftigt gewesen war, bevor er ihn dann irgendwo im Garten verbuddelt hatte. Dort würde er eines Tages wahrscheinlich von einem Waschbären oder einem anderen hungrigen Waldbewohner gefunden werden.

»Guten Morgen ... bist du schon lange wach?«, fragte Nikita mit belegter Stimme vom Bett her. Sie räusperte sich und stützte ihren Kopf auf einem Arm auf, während sie mit der anderen Hand eine Haarsträhne vor ihren Augen wegwischte. Kleine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Mit einem mächtigen Satz war Sam auf dem Bett und begrüßte die Frau, die seit einigen Tagen zu seinem Leben gehörte und bereits sein Hundeherz erobert hatte.

»Hey, nicht so stürmisch, Sam«, lachte Nikita, »lass mich erst einmal richtig aufwachen!« Der Hund legte sich sofort nieder, hielt ihr seinen Kopf hin und ließ sich hinter den Ohren kraulen ... und wenn Hunde verliebt schauen können, schaute er verliebt. Wie macht sie das nur?, dachte Effel, bei ihr wird er zum Schoßhündchen ... na, ja, ist ja auch nur ein Mann ... oder aber sie hat ihn mit Schokolade bestochen, gluckste er in sich hinein.

»Was ist so lustig?«, fragte Nikita, die sein breites Grinsen durchaus bemerkt hatte – dafür hätte sie nicht jahrelang Psychologie studieren müssen.

»Oh, ich dachte nur gerade über Männer und Frauen nach ... genauer gesagt ... über zwei Männer und eine Frau.«

»Und, ... was hast du dabei gedacht, verrätst du es mir?«

»Nein, lieber nicht ... später vielleicht.«

»Da bin ich aber gespannt ... ich werde dich daran erinnern.«

»Da bin ich mir sicher.«

»Effel, es ist wunderschön hier, einfach herrlich.« Nikita räkelte sich. »Die Ruhe und die gute Luft ... ich habe geschlafen wie in Abrahams Schoß. Ich fühle mich so wohl in deinem Haus ... aber diese Nacht hatte ich einen sehr merkwürdigen Traum«, und jetzt erschienen zwei Längsfalten in der Mitte ihrer Stirn, »ich erinnere allerdings nur noch Bruchstücke. Irgendetwas von meinem Vater habe ich geträumt ... er wurde verfolgt ... von einem Mann mit einem merkwürdigen großen Hut ... wo immer mein Vater hinging, er folgte ihm wie ein Schatten ... richtig unheimlich ... mir stellen sich alle Haare auf, wenn ich jetzt davon erzähle ... dann war wieder alles dunkel ... dann tauchte plötzlich Jimmy, der Sohn unserer Haushälterin, auf ... und wieder war alles wie im Nebel ... Als Nächstes sah ich eine dunkelhaarige, wunderschöne Frau, deren Augen hin und wieder rot leuchteten. Sie stand in einer großen Muschel ... und sie hielt eine Rede in einem großen Saal, der mit wunderschönen Bildern bemalt war, und viele merkwürdige Wesen hörten ihr zu. Es waren jedenfalls keine Menschen ...«, Nikita seufzte. »Ich glaube, ich muss das Träumen wieder lernen. Mit unseren Pillen, die wir nehmen, schlafen wir zwar sehr tief, aber sie verhindern Träume. Ich kann mich nicht erinnern, je mehr als vier Stunden am Stück geschlafen zu haben. Aber das ist bei uns ganz normal. Bisher fand ich das vorteilhaft, weil man dadurch Zeit für all die anderen Dinge hat.«

»Ich hoffe, von dem Teil, den du über deinen Vater geträumt hast, wird nichts wahr. Es wäre ja schlimm, wenn ihm etwas geschehen würde ... aber wie du erzählt hast, wird er ja gut beschützt. Der Rest deines Traumes hat bestimmt vom Rat der Welten gehandelt ... darauf möchte ich fast wetten ... Sam, komm jetzt runter vom Bett!«, sagte Effel dann so streng, wie ihm dies gerade möglich war, denn innerlich amüsierte er sich immer noch über das Verhalten seines Hundes. Der schien das gespürt zu haben, denn er bequemte sich nur sehr langsam und widerwillig vom Bett herunter, wo es doch gerade so gemütlich war und, wer konnte das schon wissen, vielleicht später noch eine schöne Balgerei hätte geben können. Er warf Effel einen schrägen Blick zu, so als wolle er sagen: Nie gönnst du mir etwas, was natürlich nicht stimmte, aber zeigte, dass Hunde wirklich nur im Hier und Jetzt leben.

»Jetzt tu nicht so beleidigt, Alter«, lachte Effel, »wir toben schon noch mit dir ... später, draußen im Garten.« Dann setzte er sich zu Nikita, nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss.

»Du kennst Abraham?«, grinste er. »Sag bloß, ihr lest die Bibel.« Fast hätte er sie wieder bei ihrem früheren Namen genannt, weil dieser ihm immer noch vertrauter war. »Haben wir dich aufgeweckt?«

»Nein, Fran ..., Effel«, korrigierte sie sich gleich, » ... es ist gar nicht so einfach, sich an die jetzigen Namen zu gewöhnen, nicht wahr? Nein, ihr habt mich nicht aufgeweckt, es waren wohl die Hähne. Und außerdem, mein Lieber, die Bibel habe ich gelesen. In unseren Philosophiekursen an der Uni nehmen wir alle alten Religionen durch«, lächelte sie augenzwinkernd und streichelte sein Gesicht. »Du hast ein wunderschönes Haus. Du bist reich, Effel. In meiner Heimat muss man dafür in einer solchen Lage ein Vermögen bezahlen ... wenn man es überhaupt noch bekommen kann.«

»Wirklich reich fühle ich mich erst jetzt, Nikita, weil wir uns gefunden haben ... nach so langer Zeit. Diesen Platz hier habe ich eigentlich Sam zu verdanken. Ich war auf der Jagd und er hetzte einen waidwunden Eber. Ich folgte den beiden durch ein dichtes Gestrüpp ... und als ich dann wieder im Freien stand, entdeckte ich diesen mächtigen, seltsam geformten Felsen, der nahezu senkrecht aus dem Erdboden ragte ... seltsam deshalb, weil er aussah, als sei er irgendwann einmal bearbeitet worden ... und gleich daneben sprudelte eine Quelle.

Es war viel Arbeit, alles freizulegen. Der Stein ist heute Teil der Wand, an die ich den unteren Kamin gebaut habe, und die Quelle versorgt das Haus mit Wasser ... mit dem Wasser, das dir so gut schmeckt. Fast alles andere, was du hier siehst, ist aus der Werkstatt meines Bruders. Mein Vater und viele Freunde haben beim Hausbau geholfen. Im Garten ist allerdings noch Arbeit, denn jetzt ist Pflanzzeit ... obwohl Saskia schon viel getan hat.

Sie hat wirklich einen grünen Daumen. Auch im Keller sollte ich bald für Ordnung sorgen, einige Kisten sind noch immer nicht ausgepackt. Ich werde mich wohl in den nächsten Tagen an die Arbeit machen müssen.«

Während er das sagte, stand er auf und ging wieder zum Fenster.

»Im Garten helfe ich dir gerne«, sagte Nikita hinter ihm, »ich wollte schon immer mal in der Erde wühlen ... ich meine, außerhalb eines Golfplatzes«, kicherte sie. »Ich freue mich jedenfalls darauf.« Sie bemerkte gerade, dass sie ihren Lieblingssport, dem sie zu Hause in jeder freien Minute begeistert nachgegangen war, überhaupt nicht vermisste.

Sie war erleichtert gewesen, dass Saskia hier noch nicht gewohnt hatte, denn sie hätte sich schlecht dabei gefühlt, wenn Effels Freundin wegen ihr hätte ausziehen müssen.

»Was denkst du, wie lange der Rat der Welten für seine Entscheidung brauchen wird? Werde ich die Pläne bekommen?« Nikita setzte sich im Bett auf, sie hatte sich inzwischen das Kopfkissen hinter den Rücken gestopft und schaute ernst aus ihren blauen Augen. Ihr war durchaus bewusst, welche Gedanken sie bei Effel mit ihrer Frage anstoßen würde. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen, was geschehen würde, wenn sie die Pläne wirklich erhielte. In Angkar-Wat hatten sie vereinbart, immer den jeweiligen Moment zu leben und auszukosten. Beiden war durchaus bewusst, dass die Zukunft Entscheidungen von ihnen verlangen würde.

»Ich weiß es nicht, Perchafta hat sich dazu nicht geäußert. Er hat aber gesagt, wir seien die Ersten, die etwas erfahren werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht mehr allzu lange brauchen werden. Sie müssten jetzt gerade zusammen sein. Ich wäre dort nur allzu gerne Mäuschen. Alleine die Vorstellung, dass dort mehr als zweitausend Teilnehmer zusammenkommen ... da wird es für die Krulls eine Menge Arbeit geben.«

»Ich wäre auch gerne dabei«, gab Nikita zur Antwort. »Ich habe dem Professor versprochen, mich heute zu melden. Er ist sicherlich ungeduldig. Wie ich ihn kenne, übernachtet er seit Tagen im Büro.«

»Was wird der Professor sagen, wenn er erfährt, dass du die Pläne gefunden hast?«, fragte Effel.

»Was er sagen wird? Er wird vollkommen aus dem Häuschen sein und alles daransetzen, dass sie möglichst schnell in seine Hände gelangen. Dabei wird er mir jede erdenkliche Hilfe zukommen lassen wollen ... wenn er wüsste, wie es hier ist ... ob er sich das vorstellen kann?«, Nikita lächelte. »Ich glaube nicht, dazu denkt er viel zu rational und wissenschaftlich. Das Myon-Neutrino-Projekt ist für unsere Firma außerordentlich wichtig, deswegen werden sie ihm auch alle Mittel zur Verfügung stellen. Mithilfe der Pläne könnten wir wahrscheinlich Maschinen bauen, mit denen wir die Energieprobleme unserer Welt endgültig lösen würden. BOSST würde damit eine Menge Geld verdienen. Davon ganz abgesehen brächte es dem alten Professor Rhin großen wissenschaftlichen Ruhm ein – na ja, und mir natürlich auch«, fügte sie leiser hinzu und Effel glaubte, so etwas wie Sehnsucht aus ihrer Stimme herauszuhören.

»Haben sie bei euch denn keine Angst vor den Konsequenzen ihres ... Vertragsbruches?«, erwiderte er und war inzwischen zu einem Stuhl gegangen, um sich Hose und Hemd überzuziehen, die er in der letzten Nacht dorthin geworfen hatte; ein Hosenbein war auf links gedreht. »Schließlich handelt es sich nicht um eine Bagatelle.«

»Ich glaube, Mal Fisher, mein oberster Boss, hat vor gar nichts Angst«, meinte Nikita trocken. »Wir werden sehen, was der Rat der Welten beschließt, und dann können wir immer noch darüber nachdenken ... Was wohl gerade in unserem Tal geschieht?«

Nikita und Effel hatten in Angkar-Wat die großartige Gastfreundschaft der Krulls genossen. Diese hatten dem Paar ein Zelt aufgebaut, das mit seinen weichen Teppichen ein ideales Liebesnest gewesen war. Sie hatten sich um nichts kümmern müssen, denn auch für ihr leibliches Wohl war bestens gesorgt worden. Wenn sie nicht ineinander verschlungen waren oder sich aus ihrem Leben erzählt hatten, hatten sie die Reste der stark verfallenen Burganlage Gisor erkundet. Hier hatte vor so langer Zeit ihre verschworene Gemeinschaft eine neue Heimat gefunden.

Sam hatte die Gelegenheit zu kleinen Jagdausflügen genutzt und hin und wieder war aus der Ferne sein aufgeregtes Bellen zu hören gewesen, wenn er wieder etwas Interessantes aufgestöbert hatte. Die Krulls hatten auch ihn verwöhnt, denn er schlief nachts zufrieden unter einem kleinen Busch vor dem Zelt, so als hätte er die Liebenden nicht stören wollen.

Während ihrer gemeinsamen Streifzüge durch das Tal waren ihnen immer wieder alte Erinnerungen gekommen. Sie hatten sich dann unter einen Baum gesetzt, die Augen geschlossen und waren gemeinsam in ihre Vergangenheit eingetaucht.

Mal waren vor Effels geistigem Auge Szenen des früheren Lebens entstanden, ein anderes Mal hatte Nikita einfach zu erzählen begonnen. Die Worte waren dann regelrecht aus ihr herausgesprudelt. Oft hatten sie vor der Ruine ihres einstigen gemeinsamen Hauses gestanden und geweint. Ab und zu hatte ihnen Perchafta Gesellschaft geleistet, soweit es ihm seine Zeit erlaubt hatte, denn die Krulls waren mit den Vorbereitungen für das Treffen des Rates der Welten beschäftigt gewesen.

Die Gespräche mit ihm waren stets von Weisheit und Humor geprägt. Einmal hatte er sie in die Eingangshalle der Höhlen von Tench´alin mitgenommen, in der er die beiden einige Tage zuvor erwartet hatte, nachdem Nikita die Pläne gefunden hatte.

»Weiter darf ich euch nicht hineinlassen«, hatte er gesagt. »Schon dass ihr bis hierher gekommen seid, ist ein besonderes Privileg. Keines Menschen Fuß hat diese Hallen je betreten.«

»Befinden sich die Siegel in der Nähe?«, hatte Nikita ganz unschuldig gefragt.

Perchafta hatte sie aus großen Augen überrascht angeschaut: »Woher weißt du von den Siegeln, Nikita?«

»Keine Ahnung, ich weiß es nicht, Perchafta, die Frage kam von irgendwo tief aus meinem Inneren – ich musste sie einfach stellen. Ich dachte an euer Buch Balgamon und die geheimen Schriftzeichen, an den Code mit dem man sie entschlüsseln kann und diesen Rat der Weisen ... von all dem hast du uns erzählt ... vor ein paar Tagen im Höhleneingang.«

Perchafta hatte sich schnell gefasst und war fast wieder die Ruhe selbst. »Lass uns von etwas anderem reden«, hatte er dann gesagt. »Ihr dürft niemandem, wirklich niemandem den Zugang zu diesem Tal verraten, hört ihr? Ich könnte euch dann nicht mehr schützen. Ich könnte niemanden schützen, der sich Zugang zu den Höhlen verschaffen wollte ... und wenn dadurch die Siegel erwachen würden ... da endet meine Macht«, Perchaftas Stimme war jetzt leise, aber umso eindringlicher. »Versprecht mir das!«

»Wir versprechen es«, hatten beide wie aus einem Munde geantwortet und Effel hatte gefragt: »Was sollen wir denn den Leuten sagen? Jeder wird den Weg hierher wissen wollen. Sie werden fragen, wie und wo wir uns getroffen haben. Ich muss dem Ältestenrat Bericht erstatten. Sie haben mich ausgesandt, unseren Feind aufzuhalten«, dabei deutete er lächelnd auf Nikita. »Ich kann und will weder Mindevol noch den Ältestenrat belügen ... Mindevol würde es sowieso gleich bemerken.«

»Niemand«, hatte Perchafta wieder ernst das Wort ergriffen, »niemand darf je erfahren, wo der Eingang zu diesem Tal und den Höhlen ist. Alles andere dürft ihr erzählen.«

Die Art, wie Perchafta das sagte, ließ die beiden nach ihrem Versprechen gleich das Thema wechseln und sie hatten den Eindruck, als wenn der kleine Krull an diesem Tag nicht mehr zu seiner gewohnten Lockerheit zurückfand.

An anderen Abenden hatten sie dann, meist Hand in Hand, vor dem Zelt gesessen, einen schweren, süßen Wein aus großen kristallenen Gläsern genossen und den Zikaden und dem Nachtvogel gelauscht, der klagend seine eintönigen Weisen durch das Tal schickte. Sie waren stets von den Emurks bewacht worden, die auf Bitten der Krulls unsichtbar geblieben waren und nebenbei mit ihrer eigenen Abreise und dem bevorstehenden Fest ihre Arbeit gehabt hatten.

Am dritten Tag ihres Aufenthaltes in Angkar-Wat hatten sie bei einem ihrer kleinen Ausflüge ein Seitental entdeckt, das ihnen bisher nicht aufgefallen war. Sam, der wie immer vorausgelaufen war, war auf einmal verschwunden gewesen und man hörte nur noch sein Bellen, das er immer dann hören ließ, wenn er etwas gefunden hatte. Effel war losgerannt und als Erster bei ihm gewesen. Dort war er wie angewurzelt stehen geblieben. Wenig später hatte Nikita neben ihm gestanden und war nicht weniger über das erstaunt, was sich ihren Blicken bot. Effel hatte nur fassungslos seinen rechten Arm ausgestreckt und auf das große Segelschiff gedeutet.

»Kneif mich, ich glaube, ich träume.« Er hatte sich die Augen gerieben, aber das Bild war geblieben. Nikita hatte mit großen Augen auf die Brigg geschaut, die mit drei leicht im lauen Wind flatternden, trapezförmigen, strahlend weißen Rahsegeln an beiden Masten und einem zusätzlichen rot-weiß gestreiften Briggsegel am Hauptmast auf mächtigen hölzernen Pfosten stand. So konnte weder Kiel noch Schwert durch die Last beschädigt werden. Sie hatte schnell das Schiff auf gut neunzig Fuß Länge und dreißig Fuß Breite geschätzt.

Über dem Oberbramsegel hatte eine hellblaue Fahne am Ende des sicherlich hundertzwanzig Fuß hohen Großmastes geflattert. Auf ihr waren drei fliegende Albatrosse abgebildet gewesen, ein roter, ein schwarzer und ein grüner. Knapp darunter hatte sich der Bootsmannstuhl leise knarrend träge im Wind gedreht. Der große Anker hatte auf dem Boden gelegen und die eiserne Ankerkette hatte matt in der Sonne geglänzt. Die Schäkel waren vorbildlich poliert gewesen und ihr Anblick hätte sicher dem strengsten Kapitän Freude bereitet. Fender aus Kork hatten über der Reling gehangen und die Fenderleinen waren locker darüber geworfen. Nikita hatte von unten durch die Klüsenöffnungen sogar zwei Poller aus Messing erkennen können.

Das Paar hatte langsam das Schiff umkreist, um es von allen Seiten betrachten zu können, und war sich neben der Brigg ziemlich klein vorgekommen. An beiden Bordseiten, auf denen in goldenen Lettern der Name ›Wandoo Ii‹ zu lesen war, hatten jeweils drei große Rettungsboote gehangen, deren Dollen ebenfalls matt schimmerten. Die Gangway war heruntergelassen, zwei dicke Taue hatten als Handläufe gedient. Aber es war nirgends eine Menschenseele zu sehen gewesen, die an Bord hätte gehen können. Den geschwungenen Steven hatte eine kunstvoll geschnitzte und bemalte Galionsfigur geziert. Sie hatte einen aus dem Wasser springenden Merlin dargestellt, der von einem fremdartigen Wesen harpuniert wurde.

»Schau«, hatte Nikita gesagt und dabei auf die Figur gedeutet, »ein Mensch ist das jedenfalls nicht.«

»Nein, dann müsste sich der Künstler schon sehr viele Freiheiten genommen haben«, hatte Effel geantwortet, »was ich aber nicht glaube, denn der Schwertfisch ist sehr naturgetreu nachgebildet.«

»Was glaubst du, was das ist? Eine Sagengestalt?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht treffen wir ja den Künstler hier irgendwo, dann können wir ihn fragen. Ich bin mir sicher, dass es Perchafta weiß.« Sie waren langsam weitergegangen.

Die gesamte Reling hatte ebenfalls von der Kunst der Holzschnitzer gezeugt, die hier am Werk gewesen sein mussten. Das mächtige eichene Ruderblatt war an seinen Rändern mit Metall beschlagen gewesen. Das ganze Schiff war auf Hochglanz gewienert und hätte an einem geeigneteren Ort sicher sofort in See stechen können. Gerade hatte der Wind ein wenig kräftiger geblasen und sofort hatten sich Brigg- und Rahsegel für einen Moment leicht aufgebläht. Die Fenderleinen waren langsam hin- und hergeschwungen und irgendwo an Deck hatte eine Glocke leise angeschlagen.

»Die Schiffsglocke«, hatte Effel geflüstert.

»Ja, der Wind muss sie bewegt haben«, hatte Nikita zurückgeflüstert, »denn ich sehe niemanden an Bord.«

»Ich glaube nicht, dass wir flüstern müssen«, hatte Effel grinsend gesagt, »denn wenn jemand hier wäre, hätte er uns längst entdeckt.«

Ein lautes, knarrendes Geräusch war plötzlich an ihre Ohren gedrungen, die Segel hatten sich in einem Windstoß gebläht und man hätte fast meinen können, das Schiff wolle sich aus seinem hölzernen Gerüst befreien. Aber es war offensichtlich gut befestigt gewesen.

»Ein Geisterschiff«, hatte Nikita gesagt, es aber nicht wirklich ernst gemeint. Sie hatte Effel zugezwinkert, auf dessen Gesicht sofort ein noch breiteres Grinsen erschienen war.

»Ja, gewiss, und wenn der Wind noch zunimmt, wird es einfach lossegeln«, hatte er ergänzt, »und schau ... gleich daneben ist das Geisterhaus.«

Ein niedriges, sicherlich fünfzig Fuß langes und dreißig Fuß breites Gebäude, halb aus Stein, halb aus Holz, hatte in einer Entfernung von vielleicht siebzig Schritten vor der Felswand gestanden. Zwischen dem Haus und dem Schiff hatte sich eine ebene, gepflegte Rasenfläche befunden, die so gar nicht zum Rest des wilden Tals passen wollte. Es musste viel Arbeit gewesen sein, diese Fläche so perfekt einzuebnen.

Von dem mit Holzschindeln gedeckten Dach des Hauses herab hatte die Fahne mit den Albatrossen geweht. Nur eines der vier mit schweren Holzläden gesicherten Fenster an der Vorderfront des Gebäudes war geöffnet gewesen. Jeder Holzladen war mit einem geschnitzten Anker verziert. Wenn sich jemand im Inneren des Hauses aufgehalten hatte, so war er wohl nicht erpicht darauf gewesen, die Bekanntschaft des Paares zu machen. Es war auch hier niemand zu sehen gewesen. Die einzigen Geräusche waren vom Schiff hergekommen, wenn die Segel sich an der übrigen Takelage rieben.

»Hallo?«, hatte Nikita in Richtung des Hauses gerufen. Das leise Schließen des offenen Fensters – und das war nicht der Wind – war die Antwort gewesen. Der Holzladen war von innen verriegelt worden. Sam hatte leise geknurrt.

»Das war deutlich«, hatte Effel gemeint.

»Vielleicht ist nicht aufgeräumt«, hatte Nikita gescherzt, »aber seltsam, seltsam. Wir scheinen hier nicht erwünscht zu sein.« Dann, mit dem Kopf in Richtung des Schiffes deutend, hatte sie stirnrunzelnd ergänzt: »Meinst du nicht, dass es selbst für ein Trockendock ein wenig weit weg vom Meer ist? Verstehst du den Sinn des Ganzen? Irgendwie ähnelt es dem Schiff, auf dem wir damals fliehen mussten. Unseres hatte aber drei Masten und es war irgendwie ... breiter«, hatte sie nach einer kleinen Pause hinzugefügt.

»Ja«, hatte Effel genickt und Nikitas Hand genommen, »das habe ich auch gesehen, aber findest du das hier nicht einfach alles sehr merkwürdig? Wer mag wohl dort in dem Haus sein?«

»Das ist in der Tat merkwürdig«, war eine vertraute Stimme hinter ihnen zu hören gewesen und sie hätten sich nicht umdrehen müssen, um zu wissen, dass es Perchaftas war. Er hatte neben Effel gestanden und auf das Schiff gedeutet.

»Das haben die Emurks gebaut, bald nach ihrer Ankunft in Angkar-Wat vor mehr als dreihundert Jahren. Und es ist ihr ganzer Stolz. Sie haben immer daran geglaubt, eines Tages wieder in ihre Heimat zurück kehren zu können. Hier in der Schule für Nautik haben sie ihre Nachkommen mit der Seefahrt vertraut gemacht. Hinter der nächsten Biegung haben sie ihre Hütten gebaut, sicherlich tausend Fuß lang an beiden Seiten des Tales. Bitte geht dort nicht hin, sie würden das sicherlich als aufdringlich empfinden und ich glaube, sie würden sich wegen der schäbigen Bauweise schämen. Sie sind ein stolzes Volk und haben das Tal stets nur als vorübergehende Bleibe betrachtet.«

Sowohl Effel als auch Nikita wussten, wer die Emurks waren, wenn sie auch selber noch nie einen zu Gesicht bekommen hatten.

»Nachdem klar war, dass ihre Verbannung ein Ende gefunden hatte – du weißt warum, Nikita«, hatte der Krull gelächelt und die Frau freundschaftlich in die Seite geknufft, »dachte ich eigentlich, sie hätten nichts Besseres zu tun, als ihre Sachen zu packen. Ich wähnte sie schon weit weg, als sie mir berichteten, sie wollten sich gebührend von uns und dem Tal verabschieden. Wie geprügelte Hunde seien sie hier angekommen, meinten sie, und mit Pauken und Trompeten würden sie uns verlassen. Sie werden ein großes Fest feiern und haben alle Krulls eingeladen. Es wird etwas dauern, bis meine große Familie hier eingetroffen ist, und ich glaube, wir werden über die Mengen an Essen staunen. Die Getränke werden wir beisteuern, das haben wir ihnen versprochen. Ihr solltet sehen, was ein Emurk verdrücken kann – über das Wie kann man sich sicherlich streiten «, hatte er amüsiert hinzugefügt.

»Aber wo sind sie?«, hatten die beiden wie aus einem Munde gefragt.

»Ich zog es vor«, hatte Perchafta geantwortet, »sie darum zu bitten, diskret im Hintergrund zu bleiben.«

»Wir können sie uns jetzt ungefähr vorstellen«, hatte Effel gemeint und auf die Galionsfigur geschaut, »nicht wahr Leila, eh, Nikita. Ich werde wohl etwas Zeit brauchen, um mich an deinen neuen Namen zu gewöhnen.« Nikita hatte nur kurz zustimmend nicken können, weil Perchafta wieder das Wort ergriffen hatte.

»Ihr Schulschiff, die Brigg, die ihr hier seht, haben sie in nur drei Monaten gebaut, ihre besten Schiffsbauer hatten sich mächtig ins Zeug gelegt. Sie mussten zunächst das Holz weit unten im Tal schlagen und dann die ganze Strecke bis hier nach oben transportieren. Eine gewaltige Kraftanstrengung, selbst für Emurks. Und was ihr hier seht«, der Krull hatte auf das Gebäude gedeutet, »war ihre Schule für Nautik. Allerdings hat niemand – weder die Lehrer noch die Schüler – je das Meer gesehen, na ja, außer Vonzel vielleicht, als er bei dir in deiner Welt war, Nikita.

Der Kapitän, der das Volk hergeführt hatte, ist bald nach der Ankunft gestorben. Sein Grab befindet sich etwas weiter oberhalb den Berg hinauf, damit sein Geist immer das Schiff sehen kann. Mit der Zeit sind dann auch alle anderen gestorben, die mit ihm zusammen an der Küste Flaalands gelandet waren. Sie hatten unterwegs hohe Verluste gehabt, aber das ist eine andere Geschichte. Ich wünsche ihnen jedenfalls, dass sie genügend über die Seefahrt gelernt haben und wohlbehalten ihre alte Heimat erreichen. Das Meer ist ja doch noch mal etwas anderes als die Trockenübungen hier oben. Wir werden sie jedenfalls nach besten Kräften unterstützen und gegebenenfalls unsere Beziehungen spielen lassen«, hatte der Krull seine Ausführungen mit einem Augenzwinkern beendet.

Dies war ihr letzter Tag in Angkar-Wat gewesen. Früh am nächsten Morgen hatten sie ihre Heimreise angetreten. Allerdings hatten da beide noch nicht gewusst, dass sie sich nicht an den Zugang zu diesem Tal würden erinnern können. Perchafta war auf Nummer sicher gegangen.

Nikita schaute Effel zu, wie er sich anzog, und fuhr fort: »Fisher wird sagen, dass nichts ewig ist. Ich sehe ihn geradezu vor mir mit ... wie komisch ... einem süffisanten Lächeln. In der Regel ist er freundlich, ja verbindlich. Er lebt für die Firma. Von seinem Privatleben ist nichts bekannt, weder ob er verheiratet ist, noch ob er Kinder hat. Manche Kollegen behaupten sogar, er wohnt auch dort unten in seinem unterirdischen Reich. Eigene Interessen und die der Firma scheinen dasselbe zu sein. Jedenfalls schert er sich in diesem Fall nicht um irgendwelche Verträge, da bin ich mir sicher. Mal Fisher ist der geheimnisvollste Mann des gesamten Konzerns, manchmal ist er mir ein wenig unheimlich. Er scheint seine Augen und Ohren überall zu haben, jedenfalls ist er immer bestens informiert. Kannst du dir vorstellen, dass sein Büro zweihundert Fuß tief unter der Erde liegt?«

Was Nikita nicht wissen konnte, war, dass sie genau in diesem Moment und an dem von ihr beschriebenen Ort, Mittelpunkt eines Gesprächs von Mal Fisher war.

»Das fällt mir schwer ... so wie vieles, was du von ... der Neuen Welt erzählst liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft.« Beinahe wäre ihm ›von deiner Welt‹ herausgerutscht. Er wollte das aber vermeiden, denn sein tiefer Wunsch war es, dass sie bei ihm bliebe und irgendwann seine Welt als die ihre empfinden würde.