Kitabı oku: «Klaus Mann - Das literarische Werk», sayfa 2

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David Deutsch sagte: »Ich habe wirklich ein wenig Herzklopfen, weil ich Marcel Poiret kennenlernen soll.« Daraufhin Martin, verwundert: »Haben Sie ihn denn in Berlin nie getroffen?« Die Frage war ihm gleich etwas peinlich; er vergaß immer wieder, daß David in Berlin ja nicht zum gleichen »Set« gehört hatte wie er selber und Marion. – David versetzte, nicht ohne Hochmut: »Ich habe in Berlin nur sehr wenig Menschen gekannt. – Aber ich habe alle Bücher von Poiret gelesen«, fügte er hinzu. Diese Bemerkung ließ die alte Schwalbe ein wenig gehässig werden. »Natürlich! Freilich!« rief sie aufgebracht. »Von wem hätte er denn nicht alle Bücher gelesen?!« – Wirklich war die literarische Bildung des jungen Deutsch lückenlos in einem erstaunlichen Grade. Von den vierundzwanzig Stunden des Tages verbrachte er acht oder zehn mit Lektüre. Sein Gedächtnis war von einer fast krankhaften Stärke; er litt unter seiner Zuverlässigkeit wie unter einem Fluch. – »Besonders mag ich die ersten kleinen Bücher von Poiret«, sagte er jetzt und lächelte seiner mütterlichen Freundin zu, gleichsam um Verzeihung bittend. »Das sind traurige, reine Dichtungen. Als er seine große Ratlosigkeit noch zugab, fand er die rührendsten Töne. Die Begegnung mit der Politik kann für junge Dichter gefährlich werden …« – Martin sagte – schnell und leise, ganz ohne die schleppend-kokette Manier, in der er sich sonst gefiel: »Aber ist es denn besser, wenn man der Politik ausweicht …? Wie man es auch immer anfaßt und wie man sich auch entscheidet: die Zeit ist gefährlich für junge Dichter …«

Marcel Poiret pflegte seit mehreren Jahren einen Teil des Winters in Berlin zu verbringen. Einer seiner Romane war in deutscher Übersetzung erschienen und hatte ein gewisses Aufsehen gemacht. Boshafte Kritiker, die dem jungen Poiret übelwollten, behaupteten, daß man ihn »auf der anderen Seite des Rheins« irrtümlich für einen französischen Dichter halte, während man in Paris sehr wohl wisse, daß er nur einer von jenen zahllosen jungen Herren sei, die à tout prix auffallen wollen, sei es durch die grelle Farbe ihrer Hemden und Socken, sei es durch den anstößigen Exhibitionismus ihrer literarischen Beichten.

Poiret gehörte zu einer Gruppe von jungen französischen Künstlern – sie setzte sich nicht nur aus Autoren, sondern auch aus Malern und Komponisten zusammen – die auf eine höchst gewagte und etwas verwirrende Art in ihrem Stil und in ihrer Gesinnung einen konsequenten, aggressiven Marxismus mit einem extremen Romantizismus zu vereinigen suchten. In den artistischen Manifestationen dieser Gruppe, der es wirklich gelang, das Juste milieu sensationell vor den Kopf zu stoßen, begegneten sich die politischen Symbole von Hammer und Sichel mit allerlei geisterhaft Holdem und spukhaft Gräßlichem: widrig eiternden Wunden, zauberischen Blumen, flatternden Damen im Kostüm der neunziger Jahre, obszönen Traumgebilden, verrenkten Gliedern, sonderbarsten Fratzen. Es war ein Kult des Häßlichen, Schockierenden und Grauenhaften, den die Gruppe trieb – eine Art von pervertiertem Ästhetizismus, dem es jedoch an moralischem Pathos nicht fehlte. Sie stellten die Welt auf den Kopf, verzerrten ihre Formen, trieben Schabernack mit ihren Gesetzen: weil sie den Zustand der Welt mißbilligten; weil sie sich für die totale Veränderung des Weltzustandes revolutionär einsetzen wollten. Hinter all dem Hexensabbat aus Traum und Polemik, aus Bitterkeit, rüdem Ulk, Trauer und Obszönität verbarg – oder offenbarte sich die revolutionäre Hoffnung; ein fast naiver – und vielleicht mehr gewollter als eigentlich geglaubter materialistischer Optimismus; die mit religiöser Inbrunst krampfhaft festgehaltene Zuversicht, daß der Spuk vergehen, Qual, Angst und Fluch sich gnädig lösen werden, wenn das Wunder der wirtschaftlichen Umorganisierung erst vollbracht, die Tat der sozialistischen Veränderung Ereignis geworden sein wird …

In dieser Gruppe, die mit dem ganzen Rest des literarischen Frankreich in Fehde lag – in einer Fehde übrigens, die sich oft in nächtlichen Raufereien, im Beschmieren von Hauswänden oder in Skandalszenen bei Theaterpremièren manifestierte – zu dieser zugleich verzweifelten und munteren, stolz abseitigen und lärmend vordringlichen Gruppe bekannte sich Marcel Poiret. Er hatte seine literarische Laufbahn in einer Atmosphäre begonnen, die grundverschieden von derjenigen war – oder doch zu sein schien – die jetzt ihn und ein Dutzend von Kameraden wie zu einem verschwörerischen Zirkel verband. Die erbitterte Opposition gegen das reaktionär-bigotte Milieu einer französischen Bourgeoisfamilie, aus der er stammte, hatte sich zunächst nur als bissig-melancholische Aufsässigkeit und als eine etwas puerile Neigung zu bohèmehaften Exzentrizitäten geäußert. »Mein Vater«, pflegte Marcel zu konstatieren, »war ein degeneriertes Schwein. Nach außen der gute Patriot, le bon citoyen, ehrbar, allgemein respektiert; in Wahrheit: versoffen, faul, lasterhaft. Er haßte meine Mutter. Das dürfte der einzige menschliche Zug an ihm gewesen sein, und übrigens das einzige Gefühl, das ich mit ihm gemeinsam hatte. Leider fehlen mir die Beweise dafür, daß der Herzschlag den alten Schurken im Bordell der reichen Spießer, Rue Chabanais, getroffen hat. Madame Poiret behauptet, er sei nach einem Diner mit Geschäftsfreunden bei Larue vom Tode ereilt worden, was übrigens eine mindestens ebenso unappetitliche Vorstellung ist. Madame Poiret ist eine Hyäne. Sie hat alle schlechten, niederträchtigen Eigenschaften. Sie ist frömmlerisch; pathologisch geizig; grausam bis zum Sadistischen; intellektuell minderbegabt bis zum Idiotischen; boshaft, hysterisch, ohne einen Funken Humor, ohne eine Spur von echter Sympathie für irgendein lebendes Wesen. Madame Poiret«, sagte Marcel abschließend, »ist ein Scheusal.«

Der Haß gegen seine Mutter, die für ihn die Bourgeoisie und besonders die französische Bourgeoisie repräsentierte, bestimmte seine Entwicklung. Er perhorreszierte das Christentum, weil Madame Poiret zur Messe ging. Er trieb sich mit Amerikanern, Chinesen und vorzugsweise mit Deutschen in den Nachtlokalen von Montmartre und Montparnasse herum, weil Madame Poiret alle Ausländer für Barbaren hielt, von den Deutschen niemals anders als »les sales boches« sprach und der Ansicht war, daß die Nachtlokale eine infame Erfindung des Teufels, des deutschen Kaisers und der Bolschewisten seien, um die französische Nation zu korrumpieren. Er ging niemals vor vier Uhr morgens schlafen und betrank sich jede Nacht mit Whisky und Gin, weil seine Mutter sich um neun Uhr in ihr Zimmer zurückzog, um halb zehn Uhr das Licht löschte und die Namen der starken angelsächsischen Alkoholika nur mit ekelverzerrtem Gesicht, übrigens höchst fehlerhaft, aussprechen konnte. Aus tiefer Aversion gegen das ein wenig altmodisch-tadellose Französisch, in dem Madame Poiret sich ausdrückte, hätte der Sohn am liebsten nur noch englisch, deutsch oder russisch geredet. Zu seinem Leidwesen war er total unbegabt für fremde Sprachen. Er tat sein Bestes, die Mutter und ihre Freundinnen zu schockieren, indem er seine Konversation mit Unflätigkeiten würzte und, soweit dies irgend anging, den Jargon der Pariser Unterwelt kopierte. Er kleidete sich halb rowdyhaft, halb im Stil der Oxford-Studenten: in grellfarbige, übrigens kostbare Stoffe. Der Zwanzigjährige wurde zum deklarierten Liebling einer fragwürdig-bunt zusammengesetzten Gesellschaft, die im Paris des ersten Nachkriegsjahrzehntes ihr seltsames Wesen trieb; zum umworbenen Enfant terrible jener zugleich exklusiven und phantastisch gemischten Zirkel, in denen whiskysüchtige Halbgenies aus New York sich mit brasilianischen Abenteurern, hemmungslos gewordene Aristokratinnen sich mit den Stars der russischen oder schwedischen Ballette, mit opiumrauchenden Lyrikern, Negerboxern und reichen Berliner Snobs trafen. Marcel Poiret amüsierte sich ein wenig in dieser »monde«; verachtete sie; wurde von ihr verhätschelt; schilderte und verhöhnte sie schließlich in seinem ersten Roman. Vielleicht war es vor allem seine schlechte Gesundheit, die ihn davor bewahrte, sein Talent und seine rebellischen Instinkte auf die Dauer an eine Existenz zu verschwenden, die ihm nur reizvoll schien, weil sie seiner Mutter ein Greuel war, und deren wesentliche Inhalte die Cocktails und die mannigfachen Formen des Beischlafes waren. Mit seiner Lunge war nicht alles in Ordnung. Er fieberte; die Nächte in den raucherfüllten Atelierwohnungen und in den Bars bekamen ihm nicht. Aus bitterem Trotz, aus Traurigkeit, Ratlosigkeit und verspieltem Zynismus wütete er gegen den eigenen Körper. Er war drauf und dran, sich zugrunde zu richten. Immerhin hatte er vitalen Selbsterhaltungstrieb genug, um Schluß mit der abwechslungsreich-makabren Daseinsform zu machen, als er in den Cafés von Montparnasse und den Studios seiner New Yorker Freundinnen mehrfach Blut zu spucken begann. Die Ärzte rieten ihm zu Davos. Er mußte nun jedes Jahr ein paar Monate dort sein. Dort lernte er die Einsamkeit kennen. Sie machte ihn vertraut mit anderen Freuden, anderen Wonnen, Beängstigungen, Erkenntnissen, Zweifeln, Qualen und Ekstasen als die Cocktailparties und komplizierten Orgien. – Im Jahre 1929 kam Marcel Poiret zum ersten Mal nach Berlin, um für eine literarische Gruppe Vorträge über den Marquis de Sade, Baudelaire und Rimbaud zu halten. Er hatte Marion gleich am zweiten Abend ihrer Bekanntschaft gesagt: »Wenn du mich nicht mit Brutalität und Geschicklichkeit abschüttelst, bleibe ich bei dir. Ich brauche einen Menschen wie dich. Aber ich kann dir gar nichts bieten. In meinem Kopf sieht es furchtbar wüst aus. Oft habe ich so große Angst davor, daß ich verrückt werden muß. Vielleicht bin ich es schon. Ich habe zu hassen gelernt, ehe ich zu lieben gelernt habe …«

Marion und Marcel kamen durch die Drehtüre des Cafés. Zwischen sich hatten sie einen jungen Menschen, der kleiner und schmaler war als Marcel und ihm übrigens auffallend ähnlich sah. Marcel sagte: »Et voilà Kikjou – mon petit frère.« David Deutsch war einen Augenblick lang recht erschrocken über die Tatsache, daß Marcel einen Bruder präsentierte – ›und aus seinen Büchern scheint doch hervorzugehen, daß er keine Geschwister hat‹, dachte er. – »Il est beaucoup plus gentil que moi«, sagte Marcel, einen Arm um die Schulter des Jungen gelegt, den er Kikjou nannte. Dann umarmte er die Schwalbe, wobei er sie ausführlich auf beide Wangen küßte. Marion und Martin lachten. »Idiot!« sagte Marion – und Martin, erklärend zu David Deutsch: »Er hat natürlich nie einen Bruder gehabt. – Aber sie sehen sich wirklich ähnlich«, fügte er hinzu und schaute mehrere Sekunden lang, schläfrig-neugierig, aufmerksam und zärtlich den Fremden an.

Kikjou, der kleine Bruder Marcels: warum nicht? Sie hatten gemeinsam: vor allem den hohen, dunklen, kühn und reizvoll gespannten Bogen der Brauen über den weit geöffneten, hellen Augen; die etwas zu dicken, ein wenig aufgeworfenen, stark roten Lippen, die in der Blässe ihrer Gesichter wie geschminkt wirkten; die breite, niedrige Stirn, in die das Haar üppig wucherte. Kikjous Haar hatte einen mattgoldenen, fast honigfarbenen Ton; Marcels dickes Gelock war von fahl nachgedunkeltem Blond. Marcels Augenbrauen waren stark und etwas buschig, während diejenigen Kikjous wie mit einem Kohlestift gezeichnet schienen.

Sie hatten beide die rundgeschnittenen, weitgeöffneten Augen von unbestimmbarer Farbe, aber in Marcels Augen gab es das stärkere Leuchten. Es waren erstaunliche Augen, kindliche Augen, etwas wahnsinnige Augen, verführerische, rührende, unschuldige und, auf eine geheimnisvolle Art, furchtbare Augen, von einer hoffnungslos traurigen und sinnlichen Glut. Die Augen des Jüngeren wirkten sanfter, blasser und weicher. Alles wirkte sanfter, blasser und weicher an Kikjou, le petit frère de Marcel. In seinem Gesicht gab es nur helle Farben. Es war schmaler und empfindlicher geformt und viel glatter als Marcels Gesicht, welches grobknochig schien, mit breiten Wangen und Falten in der Stirn – viel zu tiefen für den Siebenundzwanzigjährigen. Die Mischung aus Kindlichkeit und Ramponiertheit charakterisierte das Aussehen Marcels; eine wüste Kindlichkeit war ihm eigen. Er wirkte sechzehnjährig und unendlich alt; unberührt und vielfach gezeichnet von den abenteuerlichsten, tiefsten und wirrsten Erfahrungen. Kikjous Stirne war wie aus Perlmutter geformt, sie hatte ein mattes Leuchten. Kikjou war auffallend hübsch – zu hübsch, anstößig hübsch für einen jungen Mann; Marcel beinahe häßlich, aber reizbegnadet in einem bestürzenden, fulminanten, wahrhaft sensationellen Grade. Die Kellnerin, die ihm den Tee servierte, konnte sich diesem Charme, der durch seine Heftigkeit beinahe weh tat, ebensowenig entziehen wie der Arzt, der seine Lunge untersuchte, oder der alte Literaturkritiker, der dem exzentrischen Dichter mit der felsenfesten Absicht entgegentrat, ihn unausstehlich zu finden. Nun stellte sich heraus, daß er unwiderstehlich war … Marion, Martin, David Deutsch und die Schwalbe empfanden alle vier genau dasselbe, als sie Marcel Poiret wiedersahen: ›Mein Gott – ich hatte doch bis zum gewissen Grade vergessen, wie schön er ist. Er ist schön.‹

Poiret hatte die Schwalben-Mutter, in deren Berliner Lokal er oft gewesen war, seit ihrer Ankunft in Paris noch nicht gesehen. Er versuchte deutsch mit ihr zu reden; es kam ein konfuses Kauderwelsch dabei zustande, durchsetzt mit englischen Brocken – Marcel neigte dazu, die beiden Sprachen miteinander zu vermischen. »Poor Berlin!« rief er aus – sie waren vom Boulevard St.-Germain in die lange traurige Rue de Rennes eingebogen und gingen nun Richtung Gare de Montparnasse, in zwei Dreierreihen: voran Marcel, David und die Schwalbe; hinter ihnen Marion und Martin mit dem »petit frère«. »Poor Berlin!« sagte Marcel. »So schöne Stadt, ganz verdorben! Ganz verdorben – very sorry for you, meine süße Schwalbe, very sorry!« Die Grauhaarige, rüstig neben dem jungen Dichter einherstapfend, nickte und brummte: »Große Schweinerei! Na, wird ja nicht lange dauern …« – Mit soviel biederem Optimismus war Marcel nicht einverstanden. Mühsam jedes Wort suchend – um es dann abenteuerlich falsch zu betonen – riskierte er es, zu widersprechen: »Ah, ma pauvre Hirondelle – keine Illusionen! Schluß mit Illusionen, ma pauvre! Hitler ist, was Bourgeoisie will. Wird sich lange halten, weil genau ist, was Bourgeoisie gerne mag. Bourgeoisie will häßliche, kleine Mann: bißchen Bauch schon« – er deutete pantomimisch die leichte Leibeswölbung des deutschen Kanzlers an – »und kleine moustache – garstig moustache, kommt wie schwarze Schmutz aus Nase gelaufen – oh, so very ugly! Le bel Adolphe – häßlischste Mann von die Welt. Häßlische Nase, und abscheulich Haar – so gemein in die Stirn coiffiert! Very sorry for you, Hirondelle, ma pauvre – Deine Führer, häßlischste Mann von die Welt!« Er klopfte ihr mitleidig die Schulter, während David Deutsch, nervös amüsiert, von krampfhaftem Gelächter geschüttelt wurde und sich das verzerrte Gesicht mit den Händen bedecken mußte. Die Schwalbe wiederholte, gutmütig den französischen Akzent karikierend: »Mein Führer, häßlischste Mann von die Welt!« – Marcel sah, wenn er lachte, wie ein vergnügter Handwerksbursche aus. Alles, was an ihm proletarisch-bäuerlich war – und seine Physiognomie hatte volkstümlich-derbe Züge neben den dekadenten – kam im herzhaften Gelächter zum Ausdruck und schien, solange die Freude anhielt, dominierend zu werden. Das Lachen verjüngte ihn und machte ihn gesund.

Marion, die den kleinen Kikjou schon ein paar Tage vorher mit Marcel getroffen hatte, versuchte Martin klarzumachen, was für eine Art Geschöpf man da vor sich hatte; es störte sie kaum, daß der Geschilderte dabei war und sogar etwas Deutsch verstand. »Er gehört zu diesen Jungens, wie man sie in Paris manchmal trifft, die alle Sprachen können und gar keine«, sagte sie. »Ich glaube, ursprünglich kommt er aus Brasilien; aber das ist alles etwas zu kompliziert für mein Fassungsvermögen. Jedenfalls ist er mit seiner Familie böse, und seine Familie ist wohlhabend und lebt teilweise in Rio, teilweise in Lausanne, der Wichtigste ist aber ein alter Onkel, und wir können ihn nicht ausstehen, weil er kein Geld schickt, oder beinah kein Geld, jedenfalls nicht genug!« – »Marion! Sie sind schrecklich!« unterbrach Kikjou sie lachend; aber er sah dabei nicht das Mädchen an, sondern Martin, aus sehr sanft strahlenden Augen. – Marion, unbeirrbar, fuhr fort: »Marcel behauptet, daß Kikjou manchmal recht schöne Gedichte macht. Aber der liebe Gott kommt zuviel in ihnen vor. Marcel ist doch so besonders gegen den lieben Gott.« – »Marion, du bist wirklich schrecklich!« Jetzt sagte es Martin, und auch er sah an der Angeredeten vorbei; es gelang ihm aber nicht mehr, Kikjous Blick einzufangen.

Marcel wandte sich um und rief über die Schulter: »Der liebe Gott? Toujours le Bon-Dieu? Merde alors! On se dispute toute la soirée sur le Bon-Dieu – il parait que le petit Kikjou aime beaucoup ce type-là. Voilà notre petit Kikjou tout à fait furieux parce que je dis, tout simplement, que cet espèce de Bon-Dieu est un salaud, une cochonnerie, une vacherie, une connerie – une … je ne sais pas quoi …« – »Marcel!« bat Kikjou, mit einer ganz leisen, aber merkwürdig innigen, fast metallisch tönenden Stimme. »Marcel! Je t’en prie!« Dabei hob er mit einer priesterlich runden, sanft warnenden, beschwörenden Geste die flach geöffnete Hand. Aber der andere redete weiter, mit Akzent und Haltung eines streitsüchtigen Taxichauffeurs. »Eh quoi – alors! Sans blague! Merde alors! Tu ne comprends pas que c’est encore une espèce de politesse – par pitié – qui me fait dire que ton Bon-Dieu soit un salaud, puisque, en vérité, il n’existe pas, tout simplement. Et je crois qu’il vaudrait toujours mieux d’exister comme un salaud que de n’exister du tout … Et quoi alors?!« – Seine Stimme klang böse, die Augen hatten ein schlimmes Funkeln. Er wartete Kikjous Antwort nicht ab, sondern drehte ihm wieder den Rücken und ging schnell weiter, so schnell, daß David Deutsch und die Schwalbe nun wirklich Mühe hatten, mit ihm Schritt zu halten. Kikjou sagte, und lächelte etwas fahl: »Sie müssen es entschuldigen … Aber Sie kennen ihn ja. Sie wissen, warum er diese fürchterlichen Dinge sagen muß.« Sie blieben mehrere Minuten lang stumm, bis Martin fragte: »Aus welcher Sprache stammt eigentlich das Wort Kikjou? Es klingt wie ein Vogelname … Heißen Sie wirklich so?« Der Fremde schwieg einen Augenblick, ehe er antwortete: »Als ich ganz klein war, in Rio drüben, hat mich eine indianische Kinderfrau so genannt. Und dann Marcel wieder.« Martin nickte.

Sie hatten die Gare de Montparnasse erreicht und bogen links in den Boulevard ein. Die Schwalbe schlug vor, man solle einen Rundgang durch die großen Cafés machen: »um die Freunde zu sammeln …« als gälte es, einen feierlichen oder kriegerischen Umzug zu organisieren. In der »Coupole« fanden die Deutschen keinen ihrer Bekannten; nur Marcel wurde von ein paar jungen Leuten begrüßt, es waren französische Literaten, sie paßten nicht ganz in den Kreis. Im »neuen« »Café du Dôme« – einer erst seit einigen Jahren eröffneten, etwas eleganteren Dépendance des alten, schon klassisch ehrwürdigen Etablissements – trafen sie Professor Samuel, den Maler: ein betagter Herr, würdig, väterlich, aber immer noch unternehmungslustig, nicht ohne verschmitzte, leicht diabolische Züge; Professor Samuel – Schüler der großen Pariser Impressionisten, von den internationalen Kennern und Sammlern seit Jahrzehnten respektiert; seit Jahrzehnten in den Montparnasse-Cafés ebenso intim beheimatet wie in den Berliner Lokalitäten gleichen Stils – er rief mit seinem wunderbaren, orgeltiefen Baß: »Da seid ihr ja, meine Kinder!« – und zog einen nach dem anderen ans Herz; zuerst Marion, dann Marcel, dann Martin, David, die Schwalbe, und sogar Kikjou, den er gerade erst kennenlernte. Der »Meister« war stets gerne dazu bereit, junge Leute, männlichen oder weiblichen Geschlechtes, zu umarmen und ein wenig zu liebkosen. Er hatte, unter dem breitrandigen Schlapphut, ein großes, kluges, altes, blasses Gesicht; die Augen verschwanden hinter geheimnisvoll spiegelnden Brillengläsern; das Lächeln des feingeschnittenen Mundes war sowohl gütig als schelmisch und von einer gleichsam verklärten, väterlich-allumfassend gewordenen Sinnlichkeit. »Der Meister! Le maître lui-même!« riefen die jungen Leute durcheinander. Sie kannten ihn alle, und sie waren angenehm berührt, seine schöne Orgelstimme wieder zu hören. Er genoß großes Vertrauen bei den jungen Leuten, die oft ratlos waren. Man beichtete ihm, klagte bei ihm, erbat Rat, er hatte für alles Verständnis, es überraschte ihn nichts, er hatte viel gesehen, auch selber viel mitgemacht, er war alt und klug.

In der Gesellschaft des Meisters gab es einen munter und adrett wirkenden kleinen Herrn mit auffallend schönem, soigniertem weißem Haar über einer rosig appetitlichen Miene. Marion und Martin schienen mit ihm intim zu sein, auch Marcel und die Schwalbe kannten ihn, David hatte ihn nie gesehen. Er hieß Bobby Sedelmayer und war der Manager der Knickerbocker-Bar in Berlin gewesen – eines Etablissements, in dem die arriviertesten von den Stammgästen der Schwalbe sich mit dem eigentlichen Kurfürstendammpublikum, den Snobs und den hochbezahlten Künstlern, begegneten. Der kleine Sedelmayer und die Schwalbe standen in einem neckisch-gespannten Verhältnis, jedoch überwog die schalkhafte Nuance; denn im Grunde waren sie nie Konkurrenten gewesen, da bei der Schwalbe die Erbsensuppe dreißig Pfennig, bei Bobby der Cocktail fünf Mark kostete. Nun hatten sie beide ihre Pforten schließen müssen und begegneten sich auf der Terrasse des »Dôme« – beide übrigens durchaus optimistisch, bei allem Ernst der Situation, und den Kopf voller Pläne. Bobby hatte in seinem Leben mindestens schon fünfundzwanzig verschiedene Professionen gehabt, hinter ihm lagen vielerlei Abenteuer, es war erstaunlich, daß er immer noch ein so rosig-adrettes Aussehen zeigte. Er war vermögend und er war bettelarm gewesen. Er hatte in einem großen Kunstsalon in Frankfurt am Main Picassos verkauft und zu Berlin heiße Würstchen, nachts, auf der Friedrichstraße. Er war Fremdenführer in New York gewesen und Schauspieler in München, Journalist in Budapest und der Empfangschef eines Institut de Beauté an der Tauentzienstraße in Berlin. Er war einfallsreich, tapfer, immer guter Laune, intelligent und unverwüstlich. Marion küßte ihn auf beide Backen, er zog sie sofort beiseite, um ihr mitzuteilen: »Jetzt mache ich natürlich in Paris ein Lokal auf, der alte Bernheim wird mir das Geld geben, du kommst doch zur Eröffnung, ich will es diesmal ganz schick machen – Avenue de l’Opéra, große Negerband – der alte Bernheim scheint ziemlich viel money im Ausland zu haben …«

Außer Bobby fand sich ein verschüchtert wirkender Jüngling an Samuels Tisch: ährenblondes, artig gescheiteltes Haar, das hübsche, glatte Gesicht etwas entstellt durch mehrere Pickel auf der Stirne und um den Mund; dunkel und nicht ohne Feierlichkeit gekleidet, mit breiter, schwarzer Krawatte, im Stil lyrisch gestimmter Heidelberger Studenten. – Martin zwickte Samuel in den Arm: »Wo hast du den aufgegabelt?« Der Meister schmunzelte: »Ach, er saß so einsam und bekümmert hier auf der Terrasse, mit seiner deutschen Zeitung auf den Knien. Ich habe es für meine Christenpflicht gehalten, ihn anzusprechen. Er ist ein ungeheuer braver Junge, soviel habe ich schon heraus. Übrigens scheint er dort drüben, in Deutschland, arge Sachen erlebt zu haben.«

Dann wendete der Meister sich wieder an die ganze Gesellschaft und erklärte, gegenüber, im »Select«, sitze der reiche Bernheim mit noch ein paar Leuten. »Wollen wir nicht hinübergehen? Er bezahlt uns die Drinks.« Alle waren dafür, aber die Schwalbe sagte: »Ich muß nur erst noch ins alte ›Dôme‹ und in die ›Rotonde‹ schauen, ob nicht die arme Proskauer irgendwo sitzt. Sie kommt direkt aus Berlin und wird sicher etwas Interessantes zu erzählen haben.«

Samuel, mit Marion, Martin, Kikjou und dem schüchternen Studenten, ging schon ins »Select« hinüber, wo der reiche Bernheim die Drinks bezahlen würde; während die Schwalbe sich von Marcel und David ins alte »Dôme« begleiten ließ. Dort fanden sie gleich das Mädchen, welches sie suchten; sie saß in einem kleineren Nebenraum in der Nähe der Theke. Die Proskauer, mit einer ungewöhnlich langen, stark gebogenen Nase, an der die dunkeln, sorgenvollen Augen behindert vorbeiblickten, präsentierte sich als eine sehr häßliche, aber Vertrauen einflößende, sympathische Person. Sie hielt sich schlecht; ihr schräg gehaltener Kopf mit tiefsitzendem, unordentlich geflochtenem schwarzem Haarknoten steckte zwischen den zu hohen Schultern. Ihre Worte kamen wie das leise, undeutlich-sonore verständige Plätschern einer kleinen Quelle unter der Felszacke ihrer Nase hervor. Man hätte sie recht gerne als milde Schwester um sich gehabt, wenn man fiebrig zu Bette lag. Marcel empfand angesichts dieses Typs von Mädchen ein Mitleid, das an Zärtlichkeit grenzte. ›Pauvre enfant‹, dachte er und schaute die Proskauer leuchtend aus den Sternenaugen an.

Bei ihr am Tisch saßen zwei Männer, beide hatten fast drohend ernste, unrasierte Mienen, und sie wirkten, als versteckten sie hohe, derbe, kotbespritzte Stiefel. Die Proskauer stellte sie als Theo Hummler und Dr. Mathes vor: »Zwei sozialdemokratische Genossen«, murmelte sie verständig. Die beiden hatten einen erschreckend festen Händedruck. Als sie mit Marcel bekannt wurden, sagten sie: »Enchanté«, wurden etwas rot und lachten geniert, als wäre es ein ungehöriger kleiner Scherz, daß sie das französische Wort benutzten. Beide Männer waren groß gewachsen und gut aussehend. Theo Hummler hatte sehr dichtes, schwarzes, etwas fettiges Haar und kluge, freundliche Augen. Dr. Mathes blickte etwas glasig um sich. Ein rotblonder Schnurrbart hing ihm in feuchten Fransen auf die Oberlippe. Er war Assistent an einem Berliner Krankenhaus gewesen – wie dem undeutlich-sonoren Bericht zu entnehmen war, den die Proskauer der Schwalbe ins Ohr summte. »Unerhört tüchtiger Mensch …« soviel ließ sich aus ihren Worten erraten, »habe ihn erst während der letzten Wochen so richtig schätzengelernt … Hat sich nur unter dem Zwang der Umstände zur Emigration entschlossen … Sehr ernst … wirklich sehr zuverlässig …« – Was den Theo Hummler betraf, so war er in sozialdemokratischen Arbeiter-Bildungs-Organisationen tätig gewesen. »Ein marxistisch geschulter Kopf«, raunte die Proskauer, wozu Frau Schwalbe nickte.

Auf dem Wege vom »Dôme« zum »Select« ließen die drei aus Berlin neu Eingetroffenen schon die ersten Schreckensnachrichten hören. »Sie haben Betty verhaftet«, murmelte die Proskauer, und der Mann vom Volksbildungswesen ergänzte: »Vorgestern abend, ich hatte sie ein paar Stunden vorher noch gesehen – der reine Zufall, daß sie mich nicht auch wieder erwischt haben!« – »Sind Sie denn auch emprisonniert gewesen?« erkundigte sich Marcel. Theo Hummler nickte: »Gleich in den ersten Tagen. Aber sie haben mich bald wieder rausgelassen, ich hatte Glück.« – »Hat man Sie …?« Marcel fragte es mit Angst in der Stimme. Da er das deutsche Wort nicht gleich finden konnte, deutete er pantomimisch das Prügeln an. »Ob man mich geprügelt hat?« Hummler lachte kurz und grimmig durch die Nase. »Das vergessen die niemals. – Aber es ist mir weniger schlimm gegangen als vielen von den Genossen.«

Dr. Mathes sagte, wobei er sich mit einer gewissen Schärfe an Dora wandte: »Übrigens ist es notorisch, daß man uns Sozialdemokraten mit noch mehr Grausamkeit behandelt als die Kommunisten. Die Nazis wissen genau, wer ihre gefährlichsten Feinde sind.« – Die Proskauer schüttelte ernst den Kopf. »Ich habe in Straßburg junge Kommunisten gesehen – die waren zugerichtet: grauenvoll. Schlimmer kann kein Sozialdemokrat aussehen, der aus den Kellern der Gestapo kommt.«

Theo Hummler, dem der Gegenstand peinlich zu sein schien, wußte noch zu erzählen: »Und den Willi haben sie auch gekriegt – du weißt doch: den kleinen Dicken, der auf unserer letzten Versammlung das Hauptreferat hatte …«

Sie waren vor der Terrasse des »Select« angekommen. Der junge Arzt mit dem rötlichen, feuchten Schnurrbart zog Dora zur Seite. »Mit wem treffen wir uns da eigentlich?« fragte er mißtrauisch. »Wenn es feine Leute sind, gehe ich lieber nicht mit. Ich sehe unerlaubt schäbig aus …« Auch der Volksbildungsmann hatte Bedenken: »In diesen Montparnasse-Cafés sollen besonders viel Spitzel sein. Man sagt, sie geben einem zu trinken und versuchen dann rauszukriegen, was für Beziehungen man nach Deutschland hat.« Die Proskauer bekam etwas unruhige Augen, die ängstlich an der Nase vorbeiblickten. »Ich weiß wirklich nicht …« murmelte sie. »Es sind Freunde der Kameradin Schwalbe …« Nun mischte diese sich ins Gespräch, während David Deutsch und Marcel schon langsam die Terrasse betraten, auf der alle Tische dicht besetzt waren. – »Seid doch nicht übertrieben vorsichtig!« riet die Alte. »Ich kenne fast die ganze Bande da drinnen – und den Freunden meiner Freunde mißtraue ich nie!« – »Na ja«, entschied Hummler, nachdem er sich mit dem Doktor durch Blicke, Achselzucken und Kopfschütteln nicht sehr taktvoll verständigt hatte. »Machen wir also mit! Man will kein Spielverderber sein!« – Die Schwalbe erklärte noch: »Es ist wohl so ein alter Berliner Bankier dabei, ein Freund vom Maler Samuel. Das scheint so einer, der gerne für einen ganzen Haufen von Leuten die Rechnung bezahlt.« – »Ist ja ganz angenehm!« rief Hummler, durch diese Mitteilung besserer Laune gemacht. Er und Dr. Mathes ließen herzliches Gelächter hören, die Schwalben-Wirtin stimmte dröhnend ein, auch die Proskauer hatte ein dunkel plätscherndes kleines Lachen. Theo Hummler wunderte sich selbst: »Daß man bei den Zeiten noch vergnügt sein kann!« Dabei hatten sie den Tisch erreicht, an dem Bankier Siegfried Bernheim präsidierte.

Professor Samuel schien die Unterhaltung zu beherrschen; als die Schwalbe mit ihren Freunden zur Gesellschaft stieß, ließ er eben seinen prachtvollen Baß hören: »Gewiß, jeder von uns hat viel aufgeben müssen. Ich hatte gerade Schluß gemacht mit dem Vagabundenleben – reichlich spät, wie manche meiner Freunde fanden – und war wohlbestallter Professor in Berlin geworden, mit festem Einkommen, einem hübschen Atelier in Dahlem und nur noch ganz geringfügigen Schulden. Ein ruhiger Lebensabend war mir aber wohl nicht beschieden. Da sitze ich wieder, wie vor vierzig Jahren – unbeschwert. Mein Besitz ist ein Handkoffer, enthaltend zehn französische und fünf deutsche Bücher, einen Flanellanzug, einen ungebügelten Smoking, eine Zahnbürste, einen Skizzenblock, zwölf Bleistifte und ein paar Tuben Farbe. So zog ich schon vor vierzig Jahren durch die Welt. Und inzwischen« – er senkte sein großes, erfahrenes, altes Haupt; seine Stimme dämpfte sich düster – »und inzwischen hat man sein Lebenswerk geschaffen.« Dann sprang er auf, um die Schwalbe und ihre Begleitung mit Herrn Bernheim bekannt zu machen.

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