Kitabı oku: «Der letzte Ball»
Für die Familien Weiss und Josuttis, die nach dem Krieg aus Ostpreußen nach Deutschland geflohen sind und hier ein neues Zuhause gefunden haben, in dem ich das Privileg hatte, in Frieden und Freiheit aufzuwachsen.
Konstantin Josuttis
Der letzte Ball
Was 1930 auf der Conte Verde wirklich geschah
Ein Kriminalroman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
1. Auflage
© 2021 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim
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Umschlaggestaltung: Composizione Katrin Rampp, Kempten
Titelfoto: akg-images/De Agostini/Foto Studio Leoni
ISBN Buch: 978-3-96423-074-4
ISBN E-Book: 978-3-96423-075-1
Inhalt
Dramatis Personae
Prolog
18. Juni 1930 – Genua
1. Tag, 19. Juni 1930 – Fischer
2. Tag, 20. Juni 1930 – Smeralda
3. Tag, 21. Juni 1930 – Fischer
4. Tag, 22. Juni 1930 – Billy
5. Tag, 23. Juni 1930 – Moritz
6. Tag, 24. Juni 1930 – Smeralda
7. Tag, 25. Juni 1930 – Jean
8. Tag, 26. Juni 1930 – Moritz
9. Tag, 27. Juni 1930 – Jean
10. Tag, 28. Juni – Smeralda
11. Tag, 29. Juni – Moritz
12. Tag, 30. Juni – Jean
13. Tag, 1. Juli – Smeralda
14. Tag, 2. Juli – Moritz
15. Tag, 3. Juli – Jean
16. Tag, 4. Juli – Finale
Nachwort
Literatur
Danksagung
Dramatis Personae
FIFA
Jules Rimet, FIFA-Präsident
Annette, seine Tochter
Moritz Fischer, Vizepräsident
Jean Langenus, Referee
Henri Christophe, Referee
Thomas Balway, Referee
Henry Delauney, Committee Member
Konferenz der Organisation für interplanetarischen Frieden und Handel
Jean Doyle
Bojan Tarnoff
Madita Jörgensen
Herr Kramer
Herr Fietjestohl
Oberst von Woselitz
Harry Braithwaite (Jeremy Poulston)
Brittany Carlisle
Schiffsbesatzung
Amedeo Pinceti, Kapitän
Piero Calamai, Commandante in secondo, zweiter Kapitän
Abbad, libyscher Steward
Bruto Cavesi, Erster Offizier
Giovanni Giotta, Crewmitglied
Pupo, Maschinist
Trampolini, Maschinist
Dr. Bartoli, Schiffsarzt
Fußballer (eine Auswahl)
Rumänien: Iosif Czako, Alfred Eisenbeisser, Rudolf Steiner, Emerich Vogl, Adalbert Desu, Nicolae Kovacs, Constantin Stanciu, Rudolf Wetzer
Belgien: Bernard Voorhoof, Pierre Braine, Henri de Deken
Frankreich: Lucien Laurent, Marcel Langiller, Raoul Cadron (Übungsleiter)
Brasilien: João Coelho Neto, genannt Preguinho
Sonstige:
Edmund Lowe, Schauspieler
Lilyan Tashman, Schauspielerin, seine Frau
Smeralda Acuña Cortazar, zwielichtige Gestalt
Fjodor Iwanowitsch Schaljapin, Tenor
Marthe Nespoulous, Sopran
Andrea Manza, Faschist
Gunter Velg, deutscher Zahnarzt
Opfer:
Gheorghe Moldoveanu – Rumänien
Trampolini – Maschinist
Hugues Brasson – Frankreich
Tepp van Gertnick – Belgien
Damian Stanciu – Rumänien
Just Azincourt – Schiedsrichter Frankreich
Ignacio Callejo Palmeiro Del Campo – Brasilien
„Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, Ihnen zu erklären, dass dieses Schiff in vielerlei Hinsicht außerordentlich und letztendlich einzigartig ist.“ (Alessandro Baricco, Novecento)
PROLOG
Amsterdam, Olympiastadion
Die Amsterdamer Luft war kalt an diesem Sonntagnachmittag, aber Hans sah das als Vorteil an gegen die Urus, die sich bis zu diesem Viertelfinale immerhin gar nicht so schlecht geschlagen hatten, obwohl sie fußballerisch absolut hinterwäldlerisch agierten. Nerz hatte sie noch einmal auf die deutschen Tugenden eingeschworen, Kraft und Stärke, um diese wuseligen Kuhhirten zu besiegen. Das Problem war nur, dass die Deutschen nach dem Anpfiff kaum etwas vom Ball zu sehen bekamen. Die Urus liefen schneller und wenn Hans den Gegner stellen wollte, das ausholende Schussbein parat, dann war der Ball schon wieder bei einem Mitspieler. Als sie endlich einen vielversprechenden Angriff spielten und Hans den Ball auf halbrechter Position annehmen wollte, bekam er auf einmal einen Stoß von hinten, sodass er vornüber fiel. Er stand auf und schubste den grinsenden Gegenspieler seinerseits zu Boden. Der Schiedsrichter, ein Ägypter, gab ihm Gelb. Hans reklamierte und wies auf das vorherige Foul hin, doch fand er, alleine schon deshalb, weil der Ägypter ihn nicht verstand, kein Gehör.
Dann aber erreichte ihn erneut eine Flanke von Hoffmann, die er locker erlaufen konnte und danach würde er freien Zugang zum Tor haben. Hans zog am Gegenspieler vorbei, merkte aber plötzlich, dass er nicht vom Fleck kam. Der andere hielt ihn an den Hüften, die zugegebenermaßen durch ihre Breite auch ein gutes Ziel waren, fest. Wieder blickte Hans auf den Schiedsrichter, der aber keine Anstalten machte, das Spiel zu unterbrechen. Der gegnerische Verteidiger grinste ihn an. Hans stützte seine Arme auf die Knie und holte Luft. Er bekam nicht mit, wie die Urus das Tor erzielten, aber nun wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass der Einzug ins Halbfinale des olympischen Turniers gefährdet war. Er hetzte zur Mittellinie und flüsterte Hoffmann ins Ohr, dass er den Ball direkt in die Spitze spielen sollte. Er würde sofort loslaufen.
Der Plan schien zu klappen. Die gegnerische Mannschaft war nach dem Torjubel zu verdutzt, um zu bemerken, wie Hans auf das Tor zulief, den Ball am Fuß. Er sah in die zusammengekniffenen Augen des Torhüters und holte aus. Das nächste, an das er sich erinnern konnte, war, dass er auf dem Boden lag. Sein Schienbein schmerzte. Neben ihm lag ein Verteidiger, der sich ebenfalls das Bein hielt und laut stöhnte. Das war, so wusste Hans, unsinnig, denn der Mann hatte ihn ja mit den Stollen gegen das Standbein getreten. Noch während der andere den Kopf hin und herschwenkte, jaulend, blickte er Hans dabei immer wieder grinsend an. Der Schiedsrichter entschied auf Freistoß für die Urus. Hans stand auf und bot dem anderen die Hand, um ihm hochzuhelfen. Dieser spuckte in seine eigene Hand und ergriff dann die ihm angebotene. Hans ließ fassungslos los. Dann ging er auf den Mann zu und trat ihm in den Bauch.
Als die Südamerikaner das Spiel mit 4:1 gewonnen hatten, saß Hans schon in der Umkleidekabine, im Anzug und mit frisch gekämmtem Seitenscheitel. Er wusste, es würde sein letztes Spiel für die Nationalmannschaft sein. Er kannte diesen durchdringenden Blick von Nerz, dem Trainer. Und er wusste auch, dass er mit seinem Platzverweis schuld war, dass sie verloren hatten. Ohne seinen Ausraster hätten die deutschen Tugenden das unqualifizierte Spiel der Urus auseinandergenommen.
18. Juni 1930 – Genua
Der Mann mit dem hohen Stehkragen blickte hinunter auf die noch halb verschlafen im Dunkel liegende Bucht. Er war die ganze Nacht wach gewesen, beim ersten Dämmerlicht aufgestanden und hatte beobachtet, wie sich die Konturen des Stahlmonsters langsam vom Hintergrund des Mittelmeers abhoben. Das Schiff sah aus, als würde es gleich die zu klein wirkende Bucht von Genua auffressen. Es war, als hätte ein kleines Kind ein Bild gemalt, auf dem ein viel zu großes Boot in einem viel zu kleinen Hafen lag. Er zündete sich seine erste Zigarette des Morgens an und wie auf ein Zeichen erwachte auch das Monster zum Leben: Lichter gingen an der dem Festland zugewandten Seite an und dann leuchtete auch die lange Glühbirnenkette, die über die gesamte Länge des Schiffs reichte.
Der Mann ging vom kleinen Balkon in sein kleines Zimmer und holte seine Fahrkarte, die ihn als Gast erster Klasse auszeichnete. Er entfaltete das wertvolle Schriftstück, das ihm die Passage nach Montevideo gewähren sollte, und strich es liebevoll glatt. Dann blickte er wieder hinaus auf die sich langsam rötende Bucht. Das Monster gab einen lauten, dumpfen Ton von sich, der das gesamte Umland erzittern ließ. Der Hafen erwachte. Der Mann setzte sich, rauchte noch drei weitere Zigaretten und beobachtete, wie das Treiben langsam seinen Lauf nahm.
Mit kalten Augen schaute er auf die SS Conte Verde und sah, wie Menschen Ameisen gleich Pakete, Koffer und Kisten mit Vorräten die Gangway hinaufschleppten. Ein Lächeln umspielte das in die Dunkelheit starrende Gesicht, ein gefrorenes, grausames Lächeln.
1. Tag, 19. Juni 1930 – Fischer
1.
Die Hitze war schier unerträglich, bereits jetzt am Morgen, als er keuchend und schwitzend durch die engen Gassen Genuas streifte und den trotz des spärlichen Inhalts doch extrem schweren Koffer hinter sich herzog. Er hatte nur leichte Hemden eingepackt und natürlich die obligatorischen Anzüge für die offiziellen Anlässe bei der ersten Weltmeisterschaft, aber dennoch war ein Koffer nun einmal ein Koffer und sollte eigentlich vom Hotelfachpersonal zum Hafen getragen werden. Doch der Hotelbesitzer hatte Moritz Fischer freundlich mit einem mitleiderregenden Lächeln darauf hingewiesen, dass seine Söhne leider schon unterwegs seien, und er, armer, alter Mann, der er sei, daher höchstselbst diesen Kasten tragen müsse. Das hatte er dann auch bis um die nächste Straßenecke getan, sich dann wehleidig den Rücken gehalten und die andere Hand aufgehalten, um ein Trinkgeld zu erbitten, welches Fischer ihm aus einem völlig unsinnigen Reflex heraus auch noch gegeben hatte.
Es gibt, so dachte sich Moritz Fischer, seines Zeichens Vizepräsident der Weltfußballorganisation, zwei Arten von Müdigkeit: eine wohlig angenehme, die einen nach einem ausgiebigen Mahl befällt wie eine warme, weiche Decke, und eine unangenehm schwitzig schweißtreibende, die von einem zehrt, als wäre man ein alter Lastenesel. Leider war er jetzt schon am Morgen von einer Müdigkeit erfasst, die von der zweiten Kategorie war.
Nun stand er hier, im schattigen Dunkel der engen Gasse, nahm den oberen Henkel des mannshohen Gepäckteils und zog. Da er den Koffer hinter sich her hievte, bemerkte er nur an der Wärme, die sich auf seinem Kopf ausbreitete, dass er an einer breiteren Straße stehen musste und von keiner schattigen Häuserwand geschützt wurde. Als er sich umdrehte, blickte er auf eine Kirche, die in schwarz-weißen Streifen vor ihm thronte, und davor einen Platz, der mit allerlei Menschen gefüllt war. Er sah Marktleute, die ihre Waren ausfuhren, Schulkinder mit kurzen Hosen und hochgezogenen Strümpfen, Justiziare mit pomadierten Haaren, die aussahen, als seien sie zu schwarzen Nudeln verklebt, Reisende, die ziellos, aber staunend durch die Gassen irrten, und eine Gruppe zackig in schwarzen Hemden gekleideter junger Menschen, die den Platz durchschnitten wie ein scharfes Messer. Er blickte ihnen nach. Sie sahen sehr zielstrebig aus, als hätten sie ein Versprechen erhalten oder müssten eins einlösen oder vielleicht beides. Ein älterer Mann, der neben ihm stand und den er vorher noch nicht bemerkt hatte, spuckte neben ihm auf den Boden aus.
„Was sind das für Leute?“, fragte Fischer, der Italienisch beherrschte, sowie acht weitere Sprachen, was der Hauptgrund dafür war, dass Jules Rimet ihn als Vize der FIFA mitgenommen hatte anstelle von Seeldrayers, der der eigentliche Inhaber dieses Postens war. „Camicie nera – Il Milizia Volontaria per la Sucurezza Nationale.“
Fischer begann zu verstehen. „Faschisten“, sagte er und nickte. Er hatte schon von diesen Schwarzhemden gehört. Sie versprachen Besserung für alle. Das klang eigentlich ganz gut, fand er. Der Mann neben ihm, der der Gruppe, die soeben in einer dunklen Gasse verschwunden war, grimmig hinterherschaute, schien das anders zu sehen.
„Tolle Ideen sind nur so lange gut, bis ihre Vollstrecker über ihren Größenwahn stolpern“, sagte dieser und kratze sich dabei sein unrasiertes Kinn. „Na, die haben auf jeden Fall Großes vor“, sagte Fischer zu seinem Nebenmann, der ein weiteres Mal auf den Boden spuckte, seinen Karren mit Kohlköpfen aufnahm und vor sich herschob und „Vero, vero“ vor sich hinbrabbelte.
Fischer blickte sich um. Hier musste es doch irgendwen geben, der ihm mit seinem Koffer helfen konnte, dachte er verzweifelt. Aber niemand fand sich. So zog er das turmhohe Gepäck weiter an der Ehrfurcht gebietenden Steintreppe vorbei, an deren zwei Seiten ihn zwei Steinlöwen durchdringend anzusehen schienen. Nun, da er den Platz halb überquert hatte, sah er auf den Hafen und auf das riesige Schiff, das dort lag. Es war so groß, dass es wie ein schlafendes Krokodil wirkte, das sich in einem Flussausläufer auf die Lauer gelegt hat. Immerhin hatte er nun sein Ziel vor Augen. Er musste es nur erreichen. Zwei in schicken Fracks gekleidete Carabinieri mit überdimensionierten Hüten schritten die Straße ab und hielten an dem ein oder anderen Stand an und diskutierten die Qualität der dargebotenen Ware.
Ein Stück die Straße abwärts sah Fischer eine Gruppe von jungen Männern lachend vor einem Laden stehen. Sie hatten alle dunkelblaue Anzüge an und trugen dazu Baskenmützen, auf die ein Abzeichen gestickt worden war. Im Näherkommen erkannte Fischer das rumänische Wappen: ein Adler, auf dessen Brust die rumänischen Provinzen dargestellt waren – Walachei, Moldau, Siebenbürgen, Banat und Dobrudscha. Die Männer schienen sich über den Anblick des Mannes, der offensichtlich mit seinem Koffer zu kämpfen hatte, zu amüsieren. Dann aber löste sich einer aus der Gruppe und kam mit einem gewinnenden Lächeln auf Fischer zu. Er versuchte, ihm in gebrochenem Italienisch Hilfe anzubieten.
„Sie können gerne in Ihrer eigenen Sprache mit mir reden“, sagte Fischer, sich die Stirn mit einem Taschentuch abwischend. „Rumänisch, nehme ich an. Oder Ungarisch? Oder Deutsch?“ Die Miene des jungen Mannes im Anzug hellte sich auf. Er fuhr sich mit der Hand durch die dunklen, kurzen Haare und reichte sie dann Fischer. „Deutsch ist wunderbar. Ich heiße Alfred Eisenbeisser. Aber Sie können mich auch gerne Fredi nennen.“ „Donauschwabe?“, fragte Fischer. Eisenbeissers Augenbrauen schoben sich in die Höhe. „Woher wissen Sie?“ Fischer deutete auf die hinter ihm gaffende Menge, die nun nicht mehr belustigt, sondern eher interessiert schien. „Nun, Sie sind eine Gruppe von Menschen, die entweder Rumänisch, Deutsch oder Ungarisch spricht. Und Sie alle haben das Wappen Ihres Landes an ihrem Jackett. Daher gehe ich davon aus, dass ich es mit der rumänischen Fußballnationalmannschaft zu tun habe, nicht wahr?“
Eisenbeissers Lächeln wurde noch breiter. „In der Tat. Wir sind gestern hier mit dem Zug angekommen. Das war eine lange Tortur sage ich Ihnen. Vier Tage waren wir unterwegs. Holzklasse. Aber nun haben wir das gesparte Geld in ein paar schicke italienische Anzüge gesteckt. Kennen Sie sich etwa aus mit Fußball?“ Jetzt war es an Fischer, entsprechend zu lächeln. „Entschuldigen Sie. Ich hätte mich ebenfalls vorstellen müssen. Moritz Fischer. FIFA-Delegierter. Wir reisen zusammen.“
Sofort bildete sich eine Traube von Spielern um Fischer und einzeln stellten sich die jungen Männer vor, als allererster ein hochgewachsener junger Mann mit ernstem, kantigem Gesicht, der Kapitän der Mannschaft: „Rudolf Wetzer, angenehm.“ Fischer grüßte artig 23-mal zurück, bis er den immer noch grinsenden Eisenbeisser fragte, warum sie sich denn so dicke Wollanzüge hätten schneidern lassen und ob sie denn schon einmal für den Winter in den Karpaten hatten vorsorgen wollen. Eisenbeisser schaute Fischer einen Moment lang verunsichert an, dann lachte er.
„Sie nehmen mich auf den Arm, Herr Fischer, nicht wahr? Es wird, so habe ich gehört, verdammt kalt werden dort unten.“
Nun war es an Fischer, verunsichert zu lächeln. Er vermutete, dass der Rumäne geografisch nicht so versiert war und beließ es bei einem Nicken.
2.
Der restliche Weg war für Fischer kein Problem mehr. Willig stürzte sich die Traube der jungen Männer auf seinen Koffer, nachdem sich jeder einzeln bei ihm vorgestellt hatte, und schob diesen fröhlich zum Hafen, über die breite Mole und dann sogar die steile Gangway hinauf. Das Schiff hatte nicht nur aus der Entfernung pompös gewirkt. Als Fischer davorstand und auf die schwarz glänzende Hülle sah, hatte er allerdings nicht mehr die Vorstellung eines Monsters, eher war er fasziniert, dass diese riesige Maschine, von Menschenhand gebaut, tausende von Passagieren über den Ozean transportieren konnte. Die weißen Lettern „Conte Verde“ strahlten am Bug, als seien sie gerade noch frisch gewaschen worden. Der untere Teil des gewaltigen Schiffskörpers glänzte ölig in Schwarz, ab dem Deck war das Schiff in Weiß gehalten. Fischer blickte auf die riesigen Reihen von Stahl, die sich aufeinanderstapelten und endlich wurde ihm klar, woran das Schiff ihn erinnerte: an eine Stadt.
Er erinnerte sich dunkel an einen Film, den er vor drei Jahren gesehen hatte, damals noch auf Zwischenstation in Deutschland, der Film hieß „Metropolis“ – eine düstere Zukunftsvision von Maschinenwesen, die in einer überdimensionierten Großstadt lebten. Das absonderliche Werk hatte Fischer damals verstört und ihn diese bedrohliche Vision schon am Abend über ein bis vier Gläsern Cognac vergessen lassen, aber nun war die Erinnerung wieder wachgeküsst worden. Die Darstellung der unheimlichen Maschinenwelt ähnelte dem schwimmenden Monument, das vor ihm im Wasser lag. Auch die akkurat gekleideten Schiffsoffiziere, die hinter einem behelfsmäßig aufgebauten Tisch standen und die Tickets kontrollierten, kündeten eine neue Zeit an, eine Zeit der Ordnung, der Technik und er hatte das Gefühl, dass er sich nun wie Laich in einem Fischteich würde entspannen können – orientierungslos aber behütet.
Er hatte sich bei der rumänischen Mannschaft freundlich bedankt und den jungen Männern viel Glück gewünscht, mit dem Hinweis darauf, dass er sich noch ein wenig den Hafen anschauen wollte. Das war gelogen, aber er wollte nicht wie ein alter Mann wirken, neben den jungen, in ihrem Saft stehenden Sportlern, die die Rampe hinauf hüpften wie Hasen. Ein Steward nahm sich seines Koffers an, nachdem Fischer die Kontrolle passiert hatte und so trottete er gemütlich den Holzsteg hinauf, hielt sich immer wieder am gespannten Hanfseil fest und blickte zurück auf die Stadt, die zum Leben erwachte.
Erst jetzt sah er, dass es noch eine zweite Schlange gab, die den Menschenstrom in das Schiff formte. Am Bug des Schiffes gab es eine Planke, die über eine schwarze, geöffnete Tür in den unteren Teil des Schiffes führte. Die Planke war nicht weiß und glänzend, sondern schien eher einer riesigen Holztafel zu ähneln, auf der ein Strom von ärmlicher gekleideten Menschen den Gang in den Bauch des Monsters antrat. Diese Menschen hatten Mäntel an, trugen Taschen und Koffer. Es waren zumeist jüngere Menschen, manchmal ganze Familien, doch auch aus der Entfernung konnte Fischer sehen, dass ihre Augen nicht den Glanz des Abenteuerlichen ausstrahlten, der die Reisenden der ersten Klasse vereinte. Fischer bekam seltsamerweise ein schlechtes Gewissen, als er diese Menschen sah, die unter anderen Umständen als er die Überfahrt antraten. Er wusste, dass er es hier mit den Opfern der durch die Weltwirtschaftskrise ausgelösten Armut zu tun hatte. Diese Menschen gingen nicht nach Übersee, um sich den Freuden eines Spiels hinzugeben, sondern um ein neues, besseres Leben zu beginnen. Er drehte sich wieder dem Aufgang auf das Schiff zu.
Moritz Fischer war gespannt auf diese Reise, die ihn zur allerersten Weltmeisterschaft im Fußball führen würde, fürchtete aber gleichzeitig die Weiten des Meeres, die ihn erwarteten. Zwei Wochen würden sie sich auf diesem unheimlichen Wesen aufhalten, bevor sie in Uruguay erwartet wurden, und Fischer hoffte, dass er genügend Zeit haben würde, um auf Deck zu liegen und seiner Lieblingslektüre zu frönen: Sherlock-Holmes-Geschichten. Seitdem er in London für British Railways gearbeitet hatte, hatte er sich in den Detektiv aus der Baker Street verliebt, der so einen starken Kontrast zu ihm darzustellen schien: Er selbst war kein Meister glasklarer logischer Rückschlüsse, sondern eher ein Liebhaber guten Essens und netter Gesellschaft. Diese Eigenschaften waren es auch, die ihn im Weltverband so weit hatten aufsteigen lassen. Nicht nur war er wortgewandt in der eigenen und versiert in acht fremden Sprachen, er besaß die Fähigkeit, mit Menschen jeden Schlages ins Gespräch zu kommen, sie für sich zu gewinnen, zu umgarnen und ihnen sogar schon nach kurzer Zeit das Gefühl zu geben, dass sie freundschaftlich mit ihm verbunden seien. Er war ein Genießer, und im Gegensatz zu den meisten seiner Art schätzte er die Gesellschaft anderer ebenso wie einen guten Wein oder ein gutes Essen. Es hatte also von Seiten Rimets nicht viel Überzeugungsarbeit gebraucht, um ihn zum Mitkommen nach Südamerika zu überreden. Fischer wusste, dass er das Bindeglied zwischen den Funktionären aus Uruguay und der Spitze der FIFA sein würde und er freute sich ebenso auf die Gespräche auf Spanisch mit den Männern des ansässigen Fußballverbandes wie auf das von Rimet als ausgezeichnet beschriebene kulinarische Erlebnis auf dem Schiff. Fischer sah schon Pfifferlingssteaks und in Rotwein gebratene Wachtelschenkel vor sich, bis ihm klar wurde, dass er sich nun direkt vorm Schlund des Schiffes befand. Zwei schwarze Türen waren aus dem Inneren herausgeklappt worden und Fischer hatte das Gefühl der Unausweichlichkeit, als er einen Schritt über den letzten Teil der Gangway tat, wobei er bemerkte, dass sich in einem kleinen Schlitz zwischen Planke und Schiff das glitzernde Wasser erblicken ließ, das beängstigend weit entfernt schien. Schluckend trat er über die Schwelle und fühlte sich von einem biblischen Tier verspeist, wobei er sich selbst nicht ganz klar darüber war, ob dies nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Schnell dachte er an weitere Köstlichkeiten, die die Kombüse des Dampfers hervorbringen würde: Einen in Armagnac flambierten Ochsenrücken mit Kohl, eine Tarte mit frühen Kartoffeln und feinem italienischem Käse – der erste Anflug von Angst war auf gutem Wege, bekämpft zu werden.
„Signor Fischer?“ Eine hohe, sympathische Stimme riss ihn aus seinen Vorstellungen. Er drehte sich um und sah einem hoch gewachsenen, dürren Maat in die großen Augen. Der Mann stellte sich mit einer tiefen Verbeugung vor und bot sich an, Fischer zu seiner Kabine zu führen. Fischer nahm dankend an und trippelte sofort den militärisch akkuraten Schritten seines Führers hinterher. Der Raum, in den sie getreten waren, wirkte auf den ersten Blick imposant. Der Fußboden und die Wände waren mit glänzendem Holz getäfelt, wobei die Wände immer wieder mit Stuckmustern und putzigen Putten verziert waren. Während sich Fischer das Innere des Wals, in den er eingestiegen war, dunkel vorgestellt hatte, stellte er nun fest, dass auf den oberen Decks größere Fenster in die Außenwände eingebracht waren, sodass die italienische Sonne sich ihren Weg mühelos zu den luxuriösen Reizen des Dampfers bahnen konnte. Fischer und der Maat passierten einen Empfangsschalter in dem großen Vorraum, den sie betreten hatten, und bogen nach links in einen etwas kleineren Gang ein, der nun seinerseits von in die Wände eingelassenen Lüsterlampen erleuchtet wurde. Dann bogen sie wieder nach rechts ab, bis sie an einer Mahagoniholztür ankamen, die der Maat behände aufschloss und mit einer Verbeugung Fischer den Weg hinein wies, wo zu dessen Überraschung bereits sein Koffer und daneben ein breit grinsender Matrose standen. Fischer bestaunte die Größe des Raumes, der über einen massiven Holzschrank, einen Tisch und zwei mit hohen, sich nach außen stülpenden Lehnen und mit Leder bezogene Stühle verfügte. Direkt gegenüber fand sich eine Chaiselongue, die zu einem Nickerchen einlud, doch Fischer wurde vom grinsenden Matrosen noch in das Nebenzimmer zur Linken geführt, in dem sich sein Bett und ein weiterer Schrank befanden. Erst jetzt fiel Fischer auf, dass er keine Schritte mehr vernommen hatte, weder die eigenen, noch die des anderen Mannes. Der Grund war ein dick gewebter Wollteppich mit orientalischem Muster, der jegliches Klappern oder Knarren von Schuhabsätzen oder Kofferrädern verschluckte. Fischer ging wieder in sein Wohnzimmer. Als er sich umdrehte, um aus dem Fenster hinaus auf die Stadt zu schauen, bemerkte er, dass der Matrose immer noch lächelnd in seiner Kabine stand. „Scusi“, sagte er daraufhin eilig, kramte in seiner Jackentasche nach ein paar Lira und schüttete diese dem erfreuten Mann in die ausgestreckte Hand. Erst als der Kerl wieder leise, aber doch mit einer triumphierenden Note, die Tür hinter sich verschlossen hatte, wurde Fischer klar, dass er unsinnig viel Geld in die Hand des Kofferträgers gedrückt hatte. Er huschte zur Tür, blickte hinaus auf den Gang und rief dem Mann hinterher, der sich, immer noch grinsend, umdrehte. „Ich, ähh …“ Ein Mann in einem Mantel mit Hermelinkragen stolzierte mit seiner mit Juwelen behängten Frau das blitzblanke Deck herab. Auf einmal war Fischer sein Protest peinlich und so bestellte er schlicht einen Cognac.