Kitabı oku: «FreiSinnig», sayfa 2
„Ethisch gibt es insbesondere in der auf Immanuel Kant zurückgehenden Tradition Gründe, grundlegende Freiheitsrechte und die Würde des Menschen auch in der gegenwärtigen Situation für unantastbar zu halten. Zur Würde des Menschen gehört dabei insbesondere die Freiheit, selbst entscheiden zu dürfen, was die jeweilige Person als ein für sie würdiges Leben erachtet und welche Risiken sie für diesen Lebensinhalt einzugehen bereit ist …“
„Ethisch gibt es (…) Gründe“, schreibt Michael Esfeld. Mit anderen Worten: Man kann das so sehen, muss es aber nicht. Was zählt, ist die Kraft des Arguments und die wertgeleitete Abwägung derer, die vom Souverän zu solchen Entscheidungen legitimiert worden sind. Sie sind es, die sich dafür auch vor den Bürgern verantworten müssen. Eine Wissenschaft, die versucht, bestimmte Ergebnisse dieser Abwägung als „aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig“ durchzudrücken, schadet diesem für unseren Staat fundamentalen Prozess politischer Legitimation genauso wie eine Politik, die sich dankbar solcher angeblicher pandemischer Imperative bedient, um den originär politischen Anteil möglichst blass erscheinen zu lassen.
Ich fürchte, dass dies auf Dauer Folgen für unsere Gesellschaft haben wird. Uns droht ein Long-Covid politischer und gesellschaftlicher Art. Dass Bundesbildungsministerin Karliczek kurz vor den Sommerferien 2021 behauptete, dass angeblich niemand garantieren könne, dass die Schulen im nächsten Schuljahr offen blieben, „weil wir nicht wissen, was diese Mutationen, die auf der Welt unterwegs sind, uns da noch zumuten“, lässt nichts Gutes erahnen.
Aber auch abseits der Pandemie fürchte ich, dass viele von uns sich daran gewöhnt haben, bestimmte Themen besonderer Tragweite als der üblichen wertgeleiteten politischen Abwägung entzogen zu betrachten und uns deshalb künftig leichter mit einem schlichten „Hört auf die Wissenschaft“ zu begnügen. Aber „die Wissenschaft“ wird es auch in Zukunft nicht geben, meistens bereits nicht auf der Ebene der Tatsachenaussagen, niemals aber auf der der Werturteile. Künftig werden diejenigen in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft daher einen immensen Machtzuwachs erringen, denen es gelingt, ihre Deutung dessen, was „die Wissenschaft“ angeblich fordert, politisch durchzusetzen. Sind sie damit erfolgreich, sind unsere Gesellschaft und offenbar auch unsere Justiz bereit, sehr weit zu gehen oder zumindest mitzulaufen. Der Werkzeugkasten hierfür, dessen Gebrauch sich vor zwei Jahren fast niemand in unserem Land hätte vorstellen können, steht jetzt geöffnet auf dem Tisch. Bei der Bundestagswahl geht es daher auch um unsere Freiheit, weiter abwägen zu dürfen – und uns keine Imperative welcher Art auch immer aufzwingen zu lassen.
How dare you?
Eine „bildungspolitische Katastrophe“ sei es, wenn Kinder nicht Krippe oder Kita besuchten. Darüber schien sich das fortschrittliche Deutschland einig. Das war 2012, der Kulturkampf um das Betreuungsgeld tobte. Es ging um Ein-und Zweijährige – und um ihre Eltern, die sich gerne die Zeit nehmen wollten, die Betreuung ihrer Kleinkinder in den ersten drei Lebensjahren selbst zu organisieren. Den Kindern, die gerade laufen und ihre ersten Worte lernen, enthielte man so wichtige frühkindliche Bildung vor, hieß es damals. Und die Mütter dränge man in „verkrustete Rollenklischees“, so die einhellige veröffentlichte Meinung zu der als „Herdprämie“, „Bildungsfernhalteprämie“ und „Verdummungsprämie“ geschmähten staatlichen Wahl-Leistung.
2020 und 2021 waren Kitas, Kindergärten, Schulen und Universitäten über Monate hinweg geschlossen. Kinder lernten deshalb teilweise nur notdürftig lesen und schreiben, vergaßen oft ihre wackeligen Deutschkenntnisse wieder oder brachen im schlimmsten Fall ohne Abschluss die Schule ab. Eltern, insbesondere Mütter, kamen immer wieder an ihre psychischen und physischen Belastungsgrenzen, viele reduzierten daher ihre Berufstätigkeit oder gaben sie ganz auf. Und das fortschrittliche Deutschland forderte – allen voran die Grünen, aber leider auch mit Unterstützung von Teilen meiner Partei – unter dem Banner „No Covid“ eine Verschärfung dieser Maßnahmen.
Ich gehörte während der Pandemie zu denen, die das Glück hatten, prinzipiell im Homeoffice arbeiten zu können. Aber die Frage einer adäquaten Kinderbetreuung hatte ich so natürlich nicht gelöst – nicht einmal unter meinen eindeutig privilegierten Bedingungen mit Haus, Garten und Haushaltshilfe. Unsere jüngste Tochter war im Frühling 2020 gerade zwei geworden. Sie ließ mich keine fünf Minuten ungestört am Schreibtisch sitzen, maximal ein Telefonat, bei dem ich sie gleichzeitig auf der Schaukel anstieß oder zusah, wie sie den Schuhschrank ausräumte, war drin. Unsere damals Fünfjährige konnte ich mit schlechtem Gewissen hin und wieder 45 Minuten Peppa Wutz auf dem iPad gucken lassen, aber dann wollte sie garantiert wahlweise eine Süßigkeit / suchte ihren Badeanzug / stritt sich mit der großen Schwester. Lediglich mit der Achtjährigen kam ich langsam in Sphären, in denen eine 90-minütige Videokonferenz überhaupt denkbar war. Aber auch nur, weil wir das Glück hatten, dass sie wenig Hilfe beim Homeschooling brauchte und gerne liest.
Substanzielle Arbeitszeit hatte ich nur dann, wenn ein Babysitter kam oder die Kleine mittags schlief und ich den beiden Großen gleichzeitig einen Film erlaubte. Zu meiner Bestürzung hat unsere Jüngste sich allerdings recht schnell nach Beginn der Pandemie ihren Mittagsschlaf abgewöhnt. Und so haben wir während des zweiten und dritten Lockdowns dankbar die Möglichkeiten ergriffen, die die stets um einen moderateren Kurs bemühte Hessische Landesregierung unter Volker Bouffier anbot, die Kinder dennoch in Kindergarten und Schule schicken zu können. In den Monaten Anfang 2021 beispielsweise, als in Hessen bis Klasse sechs lediglich die Präsenzpflicht ausgesetzt war, gingen an der staatlichen Grundschule unserer Töchter rund 70 Prozent der Kinder dennoch zur Schule – und erhielten dort dank eines wunderbar couragierten Kollegiums auch Unterricht. Aus anderen Wiesbadener Grundschulen weiß ich, dass dort teilweise über Wochen keinerlei Unterricht, lediglich reine Aufsicht stattfand. In einem Fall durften die Kinder noch nicht einmal Fragen stellen – sie sollten keinen Vorteil vor den Kindern zu Hause haben. Wochen später erfuhr ich, dass diese Regelung nun aufgeweicht worden sei: Die Kinder durften jetzt eine Frage pro Schulstunde stellen.
Und so versuchten auch in meinem Umfeld viele Familien Monat für Monat in einem verzweifelten Kampf, Homeoffice und Homeschooling zusammenzubringen. Dabei ist dies, zumindest bei kleineren Kindern, fast unmöglich. Einige Eltern in meinem Bekanntenkreis stellten ihre Arbeitszeiten auf einen selbst gewählten Schichtbetrieb um: Sie arbeitete von 5 bis 13 Uhr, er von 13 bis 21 Uhr. Dass man das Familien über Monate hinweg und immer wieder zumutete und in Teilen der Politik offenbar die Vorstellung herrschte, die Kombination von Homeoffice und Kinderbetreuung bedeute, Kinder tagsüber in ihre Kinderzimmer zu schicken und mittags eine Packung Fischstäbchen reinzuwerfen, werden Eltern sicher so schnell nicht verzeihen.
Am schlimmsten habe ich dabei dennoch nicht meine eigene Belastung empfunden, sondern die Tatsache, dass ich den Bedürfnissen unserer Kinder immer weniger gerecht werden konnte und durfte. Vor allem nicht denen unserer beiden größeren Kinder, die Kleine war noch in dem Alter, in dem ihr die Geborgenheit bei ihren Eltern und Schwestern, mit einem gelegentlichen Supermarktbesuch als Highlight, völlig reicht. Aber je älter Kinder werden, umso mehr Lern- und Entwicklungsimpulse von außerhalb benötigen sie. Ich bin keine Lehrerin, ich kann Unterricht nicht wirklich gut ersetzen, erst recht nicht bei unserer mittleren Tochter, die im Sommer 2020 eingeschult wurde. Ich konnte auch die wachsende Frustration über das tägliche stupide Ausfüllen von Arbeitsblättern immer weniger abfangen, zumal ich ja dann auch oft in die Videokonferenz eilen und die Kinder im gelangweilten Streit um den schönsten Radiergummi alleine lassen musste.
Und erst recht konnte ich Schule als Lebensort nicht ersetzen, wo man Freundschaften schließt, sich streitet und verträgt, das Pausenbrot tauscht, unterschiedliche Persönlichkeiten bei Kindern und Erwachsenen kennenlernt und eine streng geheime Abkürzung auf dem Schulweg entdeckt. Nachmittags fielen Ballett und Reiten über viele Monate hinweg aus und auf meinen Versuch, in den wenigen Wochen, in denen die Schwimmbäder geöffnet waren, einen Schwimmkurs zu ergattern, wurde mir beschieden, dass auf der Warteliste 250 Kinder vor uns stünden. Hätten unsere beiden großen Töchter nicht die in diesem Alter ungewöhnliche Vorliebe, mit mir zusammen joggen zu gehen, hätten sie während der Pandemie fast keinen Sport gemacht.
Dabei hatten unsere Kinder noch Glück, denn sie sind noch keine Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Mein Eindruck ist, dass – neben den besonders betroffenen Branchen – sie es waren, die am härtesten unter den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu leiden hatten. Denn was ihnen über bisher 16 Monate genommen wurde, ist eigentlich alles, was diese Lebensphase für die meisten Menschen zur prägendsten ihres Lebens macht: Das Theaterstück, das eine Klasse über Monate einstudiert und im Rahmen des Schulfestes vorführt. Das Betriebspraktikum in der nächsten größeren Stadt. Das gemeinsame Training, auf dem Bolzplatz oder in der Schwimmhalle. Die Oberstufenfahrt nach Berlin oder Rom. Die Feier des Schulabschlusses. Das Jahr im Ausland, das viele seit Jahren geplant und herbeigesehnt hatten. Die Erstsemesterpartys, auf denen nicht selten Freundschaften fürs Leben entstehen. Die erste Vorlesung, bei der ein wortgewaltiger Prof mit Begeisterung und Hingabe die grundlegenden Fragen seines Fachs skizziert. Die Lerngruppe, die sich in der Seminarbibliothek findet, die sich gegenseitig durch Strafrecht I, Produktion und Absatz II und Statistik III bringt und selbst die eine oder andere tragische Liebesgeschichte in ihren Reihen übersteht.
Überhaupt, die Liebe in Zeiten von Corona. Wer sie noch nicht gefunden hat, wie die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, für den dürften die zäh, aber unnachgiebig verstreichenden Monate der Pandemie besonders bitter gewesen sein. Im Klassenchat oder mit Tinder auf ihrem Bett liegend verbrachten viele Jahrgänge Abend für Abend einer Lebensphase, von der ihnen Ältere oft mit glänzenden Augen erzählen, dass es die schönste im ganzen Leben sei.
Natürlich, was ist das alles schon gegenüber dem Verlust von Gesundheit, gar von Leben? Weniger, eindeutig. Aber wiegt es so gering, dass es von Politik und Gesellschaft dermaßen weitgehend ignoriert werden darf? Wenn Jüngere all diese meist unwiederbringlich verlorenen Erfahrungen auch nur thematisierten, wurde ihnen oft beschieden, sie sollten sich nicht so anstellen. Damals im Krieg habe man auch auf vieles verzichten müssen. Gleichzeitig wurde im Frühling 2021 lange vor den Öffnungen der Schulen beschlossen, dass Friseure ihre Salons wieder aufschließen dürfen – natürlich wie bei fast jeder Öffnung unter Inkaufnahme eines gewissen Infektionsrisikos. Dies sei auch „eine Frage der Würde älterer Menschen“, so hieß es einfühlsam in der Pressekonferenz nach der Sitzung der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten. Nur ein bisschen von dieser Empathie gegenüber den Bedürfnissen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserem Land wäre schon schön gewesen. Und angebracht.
Zumal auch die Pubertät eine Lebensphase hoher Vulnerabilität ist, nämlich psychischer Art. Große systematische Studien fehlen noch, aber aus Berlin und Tübingen hören wir, dass sich die Einweisungen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie in der zweiten und dritten Welle fast verdoppelt haben. Depressionen, Schlafstörungen, Phobien, suizidale Gedanken und besonders Essstörungen nehmen in Deutschland nach übereinstimmenden Berichten aus der Praxis bei Jugendlichen deutlich zu.
Und dann sind da noch die Kinder und Jugendlichen, die gar kein sicheres Zuhause haben. Die Gewaltschutzambulanz der Berliner Charité verzeichnet im ersten Halbjahr 2020 rund 23 Prozent mehr Fälle als im Jahr zuvor, festgestellt wurden insbesondere schwere Verletzungen wie Knochenbrüche oder Würgemale. Laut polizeilicher Kriminalstatistik stieg 2020 die Zahl der vorsätzlich oder fahrlässig getöteten Kinder in Deutschland um rund ein Drittel auf 152 Fälle an.
Bei aller Vorsicht vor monokausalen Erklärungsmustern: Es spricht viel dafür, dass einige dieser Kinder ohne die Lockdowns noch leben könnten, viele hätten vermutlich weniger brutale Gewalt erfahren. Und auch die zusätzlichen schweren psychischen Erkrankungen wie Depression und Essstörungen werden viele Betroffene ihr Leben lang nicht mehr loswerden oder sogar daran sterben: Magersucht etwa endet in zehn bis 15 Prozent der Fälle mit dem Tod. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass es bei der Diskussion über die Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen eben nicht um Kosten lediglich ökonomischer Art geht, die dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit gegenüberstehen, wie es oft bewusst simplifizierend dargestellt wird. Sondern die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie führten teilweise ihrerseits zu anderen Gefahren für Leib und Leben. Ein Leben, das Jugendliche eigentlich erst noch vor sich haben.
Um solch gravierende Schäden zu rechtfertigen, bedarf es eines hohen Nutzens. Dass dieser durch Schulschließungen erreicht würde, war zu Beginn der Pandemie eine durchaus plausible Annahme. Es gab im Frühjahr 2020 gute Gründe, erst einmal davon auszugehen, dass Kinder ähnlich wie bei der Influenza Treiber des Infektionsgeschehens sind. Schulschließungen könnten so einen entscheidenden dämpfenden Effekt haben, so die begründete Erwartung.
Klar war dabei aber auch, dass der erhoffte Nutzen nicht primär bei den Kindern selbst entsteht, sondern es in erster Linie um den Schutz der stärker gefährdeten Personengruppen ging. Und dieser Faktor hängt bei diesem Virus in besonderem Maß vom Alter ab, das Risiko eines 80-Jährigen, an Covid-19 zu sterben, ist 600-mal so hoch wie das eines 30-Jährigen. Den Kindern und Jugendlichen wurden die Schulschließungen also überwiegend fremdnützig auferlegt, so lautete das nur selten offen ausgesprochene, aber dennoch insbesondere zu Beginn der Pandemie breit akzeptierte Kalkül.
In den Monaten danach wuchsen aber die Zweifel am tatsächlichen Nutzen dieses Vorgehens, insbesondere nachdem ab Mai 2020 viele europäische Länder die Schulen wieder öffneten und sich dort kein nennenswerter Einfluss auf das Infektionsgeschehen feststellen ließ – was ja die Frage aufwirft, ob und inwiefern die Schulschließungen überhaupt notwendig waren.
Es begann ein zäher Kampf um die Bedeutung von Kindern und Jugendlichen für das Infektionsgeschehen, der vor allem deswegen besonders hart und emotional ausgefochten wurde, weil viele der beteiligten Akteure – so wie ich auch! – als Eltern persönlich stark betroffen waren. Beide Seiten präsentierten Studien für ihre Sicht der Dinge und ignorierten weitgehend die Erkenntnisse der Gegenseite.
Mir scheint sich nach über einem Jahr Ringen um Deutungshoheit bei diesem Thema abzuzeichnen: Kinder und Jugendliche können sich infizieren und andere anstecken, sie nehmen am Infektionsgeschehen teil. Jugendliche entgegen mancher Hoffnungen aufseiten der Kritiker von Schulschließungen wohl im selben oder ähnlichen Umfang wie Erwachsene, Kinder vor der Pubertät entgegen der Befürchtungen aufseiten der Anhänger von Schulschließungen wohl in einem geringeren Maß als Jugendliche und Erwachsene.
Während demnach bei Schulschließungen ab Klasse 7 zwar immer noch die Frage zu stellen und zu bewerten ist, ob der Nutzen tatsächlich den angerichteten Schaden überwiegt (ich tendiere zu der Auffassung: nein), muss aber dennoch konzediert werden, dass es in dieser Alterskategorie einen Nutzen in Form einer Dämpfung des Infektionsgeschehens wohl tatsächlich gab.
Bei Grundschulen hingegen scheint mir die Frage nach wie vor offen zu sein, ob ihre Schließung wirklich Substanzielles zur Eindämmung des pandemischen Geschehens beigetragen hat. Denn das setzte voraus, dass es bei weiter offenen Grundschulen zu einer nennenswerten Weitergabe des Virus innerhalb (!) der Schulen gekommen wäre. Definitiv kann dies niemand beantworten, aber zumindest das RKI schätzt den Anteil von Kitas und Grundschulen am gesamten Transmissionsgeschehen als „niedrig bis moderat“, den Einfluss offener Kitas und Grundschulen auf schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle als „niedrig“ ein.
Das erschwert natürlich die Argumentation, warum Schulschließungen überhaupt erforderlich sind – praktisch wie rechtlich. Und so wandelte sich die Begründung schleichend. Stand insbesondere im ersten Lockdown noch die Eindämmung des Infektionsgeschehens insgesamt im Vordergrund, dominierte spätestens mit dem Aufkommen der britischen Variante eine andere Begründung: Jetzt ging es angeblich um den Schutz der Kinder selbst. Begünstigt wurde diese neue Argumentation dadurch, dass sich in Großbritannien die Alpha-Mutante zunächst besonders an Schulen ausbreitete und es so aussah, als befiele sie tatsächlich stärker Kinder als der Wildtyp. Dies stellte sich allerdings bald als Artefakt heraus, selbst Christian Drosten gab in diesem Punkt früh Entwarnung. Dennoch setzte sich das Bild fest. Auf Twitter behaupteten insbesondere Aktivisten der Initiative „Bildung aber sicher“ im Winter 2020/2021, in Großbritannien hingen immer mehr Kinder auf den Intensivstationen „an Beatmungsschläuchen“, die Münsteraner Virologin Jana Schroeder ließ sich im März 2021 gar zu der düsteren Warnung hinreißen: „Passt gut auf euch und eure Kinder auf – die Regierung macht das nicht …“, und wurde dafür, oft unter dem Hashtag #SchulenundKitaszu, von Tausenden gefeiert. Und längst gab es eine ernsthafte Debatte darüber, ob es überhaupt verantwortbar sei, Schulen wieder zu öffnen, bevor nicht auch alle Kinder geimpft sind – also nach heutigem Stand frühestens 2022.
Untermauert wurden diese Warnungen mit Verweis auf das Pädiatrische Inflammatorische Multiorgan-Syndrom (PIMS), das im Zusammenhang mit dem SARS-2-Virus steht, und auf Long-Covid bei Kindern. Wie bei der Frage der Bedeutung von Schulschließungen für das Infektionsgeschehen ist es für den medizinischen Laien schwierig, sich ein eigenständiges Bild zu machen. Aber auch hier scheinen mir die zu Beginn der zweiten Welle sehr schrillen Warnungen zunehmend leiser zu werden. Bei den Studien zu Long-Covid zeigt sich ein auffälliger Einfluss der Methode: Befragungen der Eltern ergeben meist eine recht hohe Betroffenheit genesener Kinder von Long-Covid, Studien mit Vergleichsgruppen hingegen meist keinen Unterschied zwischen den Kindern, die Corona hatten, und denen, die es nicht hatten. Handelt es sich bei Long-Covid bei Kindern also doch eher um Long-Lockdown?
Die Tatsache, dass die Ständige Impfkommission (Stiko) im Juni 2021 bei gesunden Kindern das Risiko einer Schädigung durch die Impfung als höher betrachtete als das Risiko einer Schädigung durch die Erkrankung, lässt auf jeden Fall den Schluss zu, dass zumindest dieses 18-köpfige interdisziplinäre Expertengremium, das beim Robert-Koch-Institut angesiedelt ist, keine besonders hohe Gefahr durch Covid 19 für Kinder erkennen kann. Der Chef der Stiko, der Virologe Thomas Mertens, wagte als Gast im NDR-Corona-Podcast im Juni 2021 sogar den verpönten Vergleich mit der Grippe: „Man kann generell sagen, dass es keinen Aspekt gibt, dass Covid-19 in dieser Altersgruppe über das Risiko einer Influenza-Erkrankung bei diesen Kindern hinausging. (…) Diese Ergebnisse sind auch sehr klar.“
Diese Einschätzung änderte allerdings wenig daran, dass, im Gegensatz zur Influenza, die Jahr für Jahr für den Schulbetrieb überhaupt keine Rolle spielt, die Maßnahmen zum Schutz vor Corona kaum drastisch genug sein konnten. Ständig kamen neue Vorschriften durch Bund, Land oder Kommune hinzu, und fast nichts davon fiel weg, sodass das Infektionsschutzniveau irgendwann obsessive Züge trug. An der Grundschule unserer beiden großen Töchter etwa sitzen die Kinder an Einzeltischen und desinfizieren sich regelmäßig die Hände, der Austausch von Radiergummis oder Stiften ist untersagt, ihr Frühstücksbrot essen sie versetzt in zwei nach dem Schachbrettmuster aufgeteilten Gruppen. Ihren Tag verbringen sie in festen Kohorten, deren Durchmischung auf dem Pausenhof durch Absperrbänder verhindert wird. Eltern und Lehrer haben Geld für CO2-Ampeln und professionelle Luftreinigungsgeräte gesammelt, sie stehen in jedem Raum, dennoch werden die Vorgaben zum Lüften pedantisch eingehalten. Über viele Monate fand Distanz- oder Wechselunterricht statt, die Klassen waren also nicht voll besetzt. Seit Frühjahr 2021 testen sich die Schüler zweimal pro Woche vor Beginn des Unterrichts, zwischen Oktober 2020 und Juni 2021 mussten die Sechs- bis Zehnjährigen aber dennoch im Unterricht und in der Nachmittagsbetreuung Maske tragen, sieben bis neun Stunden am Stück mit nur wenigen Unterbrechungen.
Seit Beginn der Pandemie gab es nur eine Handvoll Fälle und trotz umfangreichen Testens keine einzige nachgewiesene Ansteckung innerhalb der Schule. Aber das Damoklesschwert Quarantäne war und ist immer präsent. Zu einem Zeitpunkt, als die sog. britische Mutante bereits 90 Prozent der Fälle in Deutschland ausmachte, teilte das Wiesbadener Gesundheitsamt Schulen und Eltern mit, dass im Fall des Nachweises dieser Alpha-Variante ab sofort verschärfte Quarantäne-Regeln gälten: Sollte die Schule nicht garantieren können, dass die Grundschulkinder auch auf dem Pausenhof und beim nachmittäglichen Spielen permanent den erforderlichen Abstand eingehalten haben, müssten alle Kontaktpersonen des Indexfalles für 14 Tage in Quarantäne – und deren kompletten Haushalte gleich dazu. Ein einziger Fall in einer Klasse konnte also schnell für rund 100 Personen zwei Wochen Freiheitsentzug bedeuten, ohne Möglichkeit einer Freitestung.
Ist das vernünftig? Während sich einerseits auch während der gesamten Pandemie Pendler und Schüler in Bussen und Bahnen zu Stoßzeiten drängten, 200 Menschen in einem Flugzeug auch immer möglich waren und es eine wirklich konsequente Test- oder Maskenpflicht in Büros nie gab, haben wir andererseits bei manchen erkennbar geringen Risiken eine bittere Konsequenz entwickelt, koste es, was es wolle. Und so mussten Menschen alleine sterben, wurden demente Menschen wochenlang ohne Kontakt mit ihren Angehörigen alleingelassen und mussten Frauen unter Wehen Maske tragen – all dies auch noch zu einem Zeitpunkt, als wir mit Tests ein deutlich milderes Mittel zur Hand hatten, das Risiko hier entscheidend zu senken. Wir haben Kinder von Schlittenhängen, Familien von ihren Picknickdecken und Jugendliche aus Skateparks vertrieben, teilweise mit Hubschraubern und berittener Polizei, obwohl immer sehr klar war, dass das Risiko einer Infektion im Freien verschwindend gering ist. Alles im Namen eines Gesundheitsschutzes, der, selektiv zwar, aber dann ungeheuer konsequent, auch noch das kleinste Risiko vermeiden wollte.
Müssen wir nicht auch das kleinste Risiko vermeiden? Ich sage: Nein. Denn in diesem zunächst so human klingenden Gebot der absoluten Risikovermeidung liegt eine furchtbare Unbarmherzigkeit. Beim Versuch, auch noch dem minimalen Restrisiko aus dem Weg zu gehen, steigt der damit verbundene anderweitig angerichtete Schaden fast immer extrem an. Wirklich verantwortungsvoll ist daher eine Haltung, die die Eintrittswahrscheinlichkeit beachtet, abwägt und bereit ist, auch ein Risiko zu tragen. Ein Risiko, das verhältnismäßig sein muss, aber auch verhältnismäßig sein darf.
Und bestimmte Maßnahmen sollten wieder prinzipiell tabu sein, wie sie es vor dem Frühling 2020 aus guten Gründen waren. Sie mögen der Pandemiebekämpfung kurzfristig und situativ dienen, aber sie widersprechen grundsätzlich unseren Werten, zerreißen unsere Gesellschaft oder verletzen unsere Humanität. Menschen in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen wochenlang zu isolieren oder sie sogar alleine sterben zu lassen, gehört zu diesen Maßnahmen, die ich meine. Grundrechte mit dem Ziel einer totalen Bekämpfung der Pandemie derart drastisch einzuschränken, dass es „womöglich zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismäßig gegenüber den Bürgern“ ist, wie es der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Juni 2021 forderte und es dem Grundgedanken der bei den Grünen stark verankerten No-Covid-Bewegung entspricht, ebenfalls. Und das monatelange Schließen von Schulen nach meiner festen Überzeugung eben auch. Zumindest dann, wenn es in erster Linie gar nicht dem Schutz der Schüler dient, sondern die Kinder und Jugendlichen im Sinne Immanuel Kants zu einem Mittel für die Zwecke anderer Menschen gemacht werden. Wäre die westliche Welt im Frühling 2020 zu der Auffassung gelangt, dass der Einsatz eines solch drastischen und folgenschweren Instruments für uns aus prinzipiellen Erwägungen ausgeschlossen ist, wäre dies in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft breit akzeptiert worden, davon bin ich überzeugt. „How dare you?“ hätten wir uns alle gegenseitig fragen müssen. Das ist nicht geschehen, mit allen bekannten und manchen noch unbekannten Folgen. Aber eine Gesellschaft kann sich auch ein Tabu zurückerobern.
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