Kitabı oku: «Der Engel von Harlem», sayfa 3

Yazı tipi:

Hier wohnte ich, hier fühlte es sich an, als ob ich schon immer hier gewohnt hätte.

Ich fragte mich, ob der kleine Michael schon eingeschlafen war und ob Emmy daran gedacht hatte, eine warme Kompresse auf ihren Busen zu legen, so wie ich es ihr gesagt hatte. Ich musste wieder einen Besuch machen und nach ihr sehen, vielleicht gleich morgen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Ich würde hingehen, bevor ich abends die Spätschicht antrat. Die anderen Frauen waren sicher noch munter und stießen auf das neue Leben an. Mama war noch nicht wach, würde aber bald aufstehen, in ein paar Minuten. Dann wären wir beide auf und könnten aneinander denken; damit fühlte ich mich gleich viel besser.

Beim Gedanken an Mama fiel mir ein, dass ich mich für die Nacht abmelden musste. Es gab noch etwas zu besprechen.

Ein Teil von mir sträubte sich gegen den Gedanken an ein Gespräch, gegen diesen plötzlichen Drang, der in mir entstand. Es konnte doch nicht richtig sein, dass ich auf die Meinung anderer Leute angewiesen war, um mich wohl in meiner Haut zu fühlen. Andererseits war ich es leid, allein zu sein; es kam mir vor, als hätte ich so viele Dinge, so viele Menschen in meinem Herzen aufgenommen, als Teil von mir, auch wenn sie sich offenbar nicht genötigt fühlten, den Gefallen zu erwidern.

Und was ist, wenn er wirklich stirbt?

Der Gedanke kam von ganz allein und flüsterte in mein rechtes Ohr, dasjenige, das mehr dem Straßenpflaster zugewandt war. Was, wenn er stirbt und nichts zwischen uns beiden geklärt ist? Um wie viel schlimmer wäre dann alles?

Ich drehte mich um Richtung Harlem. Beinahe so wütend darüber, dass ich plötzlich losrennen wollte. Nein, ich rannte nicht. Aber ziemlich schnell ging ich die leere, ruhige Straße hinunter.

Ich konnte es noch schaffen.

Ich öffnete die Tür, als Mama sich gerade im Wohnzimmer an den Küchentisch setzte. Sie pustete Wellen in ihren Kaffee und ließ den Dampf aufsteigen bis an ihr Haar, wo er einen Moment lang hängenblieb, wie ein schickes Hütchen, und sich dann auflöste. Ihr gegenüber stand eine zweite Tasse Kaffee und wartete.

Ich huschte leise hinein, vergaß jedoch, die Tür zu schließen – wieder einmal. Mit gesenkten Augen erinnerte mich Mama daran. Sie hatte natürlich recht. Schon zweimal war mir jemand nach Hause gefolgt, um mich auszurauben, mir das Kodeinpulver und die Morphiumpillen aus der Tasche zu nehmen; einmal mit vorgehaltener Waffe. Aber irgendwie schien ich das nicht wahrhaben zu wollen. Als ich die Tür geschlossen hatte, ging ich zum Tisch und rückte meinen Stuhl so nah wie möglich an ihren.

»Morgen, mein Liebling.« Sie lächelte, als ob sie mich gar nicht erwartet hätte. »Du bist früh dran.«

»Morgen.«

»Wie geht’s deinem Vater?«

»Unverändert. Sein Zustand ist der gleiche wie am Abend.«

»Wie war’s bei der Arbeit?«

»Gut«, sagte ich. »Das Miller-Baby kam zu früh.«

»Aber das wusstest du doch. Geht’s ihm gut?«

»Ja, Ma’am. Er und die Mutter sind wohlauf.« Ich pustete auf das Zimtpulver auf meinem Kaffee und nahm einen Schluck.

»Gott sei Dank.«

»Er hatte sogar ein Glückshäubchen über dem Gesicht.«

»Was du nicht sagst.« Mama seufzte und schloss die Augen. Ganz leicht, wie abwesend, mit geschlossenen Augen, strich sie mit ihren Fingerspitzen über meine Wange. »Möchtest du wirklich wissen, wer Fanny ist?«

»Ja, Ma’am.«

»Warum? Warum willst du das wissen?«

Ich zuckte mit den Achseln, obwohl sie mich gar nicht ansah. »Ich kann es nicht wirklich erklären. Aber ich spüre, dass es wichtig ist.«

Das war nur zur Hälfte wahr, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um das auszudiskutieren. Ich legte meine Finger um die schwere, metallene Kaffeetasse, damit sie nicht sehen konnte, wie sehr meine Hände zitterten.

»Also gut«, sagte sie.

Es dauerte eine ganze Weile, bis meine Mutter weitersprechen konnte. Als sie dann schließlich ihre schwarzen Augen öffnete und zu erzählen begann, war sie schon längst ganz woanders.

Kapitel 3

Manassas, Virginia – 1862

Susan behielt den Namen Chinn bei, weil ihre Mama Patty und ihr Papa John den Namen Chinn beibehielten. Sie alle waren Eigentum eines Mannes namens Gibson, hielten jedoch unerbittlich an dem Namen Chinn fest, auch wenn die vielen Jahre, in denen Männer gekauft und weiterverkauft wurden, diese Verbindung ziemlich gelockert hatten.

Papa John bestand hartnäckig darauf, dass sie dasselbe Recht auf diesen Namen hatten wie ein weißer Mann. Und so wurden Klein-William und seine Zwillingsschwester Fanny ebenso wie alle anderen acht Kinder von Susan, ihre Tanten, Onkels, Vettern und Kusinen mit dem Namen Chinn versehen und losgeschickt, um sich in den Hügeln und Maisfeldern der Fleetwood-Plantage zu tummeln.

Fleetwood hatte mit die beste, dunkelste Erde des ganzen Prince William County. Mama Patty, Papa John, ihre Kinder und Enkel bearbeiteten John Gibsons Land, als sei es ihr eigenes. Sie pflügten und säten burgunderfarbene Felder, wo die Erde so regen-und-honig-süß war, dass die Kinder darin verlorengingen, sich in der Krume wälzten, die so weich und köstlich wie Lehm war und wie gemacht dafür, darin zu träumen.

William und Fanny waren stets die Ersten, die verlorengingen. Irgendwann entdeckte man sie dann, wenn die Maisstängel wackelten, zu deren Füßen sie Pfirsichkerne einbuddelten. Das sorgte dafür, dass im Frühjahr der Mais aufplatzte und weiße Kolben mit herrlich süßem Fruchtfleisch enthüllte. Einmal fand man sie, wie sie sich in der Scheune versteckten, die Backen verschmiert mit Butter und vollgestopft mit geklauten Keksen. William lag am Boden der Box der dicken Sally, den Mund weit geöffnet, während Fanny versuchte, aus einem der Kuheuter in seine Richtung zu zielen. Manchmal verschwanden sie aber auch einfach.

Niemand bestrafte die Zwillinge je allzu streng. Miss Frances, nach der Fanny benannt war, hob nie die Hand gegen sie; auch ihre Mutter Susan nicht. Und sogar die schwarzen Aufseher ließen im Fall der Zwillinge fünfe gerade sein. Für ihre Disziplin war immer Mama Patty zuständig gewesen, doch als die Zwillinge ihren zehnten Sommer erlebten, war Mama Patty tot, und Papa John tat selten mehr, als ungefähr in ihre Richtung zu schlagen.

Im großen und ganzen war man sich einig, die Zwillinge in Ruhe zu lassen, denn die Erwachsenen hatten Mitleid mit Fanny, die mit einem Klumpfuß zur Welt gekommen war. Sie hinkte so stark, dass niemand ihr je eine harte Arbeit abverlangte, nur hie und da ein bisschen Bügeln vielleicht, oder Kuchenbacken. Weil William nie von ihrer Seite wich – es sei denn, er wurde dazu gezwungen –, lernte auch er, zu backen und zu nähen und einen abstehenden Hemdkragen glattzubügeln. Die anderen Kinder hänselten ihn, nannten ihn Wilhelmina und stolzierten mit schwingenden Hüften durch die Küche. William zuckte dann nur mit den Achseln und schob sich einen weiteren Keks in den Mund.

Die Nicht-Chinn-Kinder verspotteten ihn, riefen »He, weißer Junge!«, oder »Schaut nur – der junge Massa Will«, weil er genau wie seine Geschwister glatte Haare, haselbraun-und-blaue Augen hatte und so als Weißer durchgehen konnte. William trug den Spott mit schüchternem Lächeln und Schweigen. Manchmal aber gingen die anderen Jungs zu weit, und wenn das passierte, war es Fanny, die aus der Haut fuhr.

»Ihr eingebildeten Blödiane, legt euch nicht mit ihm an, sonst setzt es was, kapiert?«

Da rannten die Kinder weg, denn auch wenn William in eigener Sache nie einen Finger rühren würde, wussten sie: Sollte irgendjemand Fanny auch nur schräg ansehen, würde er auf sie losgehen, um sich schlagen, beißen und schreien, bis zwei oder drei Erwachsene es endlich schafften, ihn festzuhalten. Er war ihr Beschützer und sie war sein Herzblatt – die zwei verstanden, worauf es ankam in der Welt, und das ohne große Worte. War er hungrig, hatte sie Brot. War sie durstig, brachte er Wasser von unten am Fluss anstatt vom Brunnen direkt am Haus, denn Fanny trank gern an einem Tag das eine, am nächsten Tag das andere Wasser.

Im März sprossen die grünen Walnüsse an den Bäumen, hart wie kleine Murmeln und genau richtig zum Werfen – die perfekte Munition, um einer Kuh Angst einzujagen, oder natürlich den bösen Jungs. Die Luft, warm und flirrend, gab die ersten Anzeichen des Sommers.

Es war das Jahr 1862, und um sie herum tobte der Krieg. Doch daran dachten die Kinder kaum. Ihr alltägliches Leben verlief wie zuvor. Aber eines Abends kam Master Benjamin Chinn von den Chinns aus Lancaster zu uns nach Fleetwood, um mit John Gibson zu reden. William und Fanny kannten Benjamin Chinn gut, den jüngeren der beiden Chinn-Söhne. Er kannte ihre Mutter Susan von Geburt an, denn Mama Patty und Papa John hatten einst seinem Vater gehört, dem Master John Chinn. Immer wenn Benjamin Chinn Fleetwood besuchte, gab es viel Gerede und Getuschel. Stets kam er so unbeschwert und locker in die Sklaven-Quartiere geschlendert, als hätte er gar nichts Besonderes im Sinn, außer vielleicht einem Spaziergang. Aber jetzt war er wieder in Fleetwood, und diesmal sprach er von nichts anderem als dem Krieg.

Die Unionstruppen waren auf der Halbinsel gelandet, etwa hundert Meilen südöstlich von Richmond. Alle Männer im waffenfähigen Alter packten ihre Gewehre ein und machten sich auf den Weg nach Richmond, um die Hauptstadt zu verteidigen. Manassas war jetzt ganz ohne Männer und die Nigger rannten weg, nutzten jede Gelegenheit, um quer durch Wälder und Sümpfe die Linien der Union zu erreichen. Es herrschte totales Chaos. Der Unions-Schlachtruf »Booty and Beauty!« − Beute und Schönheit − war erklungen und schien endlos anzuhalten, während die Flammen eine kostbare Stadt des Südens nach der anderen verschlangen.

Er selbst war Anfang letzter Woche gezwungen gewesen, zwei seiner besten Nigger zu erschießen – und das auch noch am Tag des Herrn. Was sind das für Kreaturen, die am Tag des Herrn erschossen werden wollen? Dummes Pack. Samstagabend waren sie irgendwann abgehauen. Es war nicht schwer gewesen, ihnen zu folgen, und eigentlich wollte er glimpflich mit ihnen umgehen, sie fesseln und wieder heimbringen. Aber als seine Leute sie dann in die Enge getrieben hatten, zog einer eine Pistole und drückte ab. Da blieb ihm dann nichts anderes übrig. Immerhin beerdigte er sie noch anständig, fast wie normale Männer, bevor er heimritt, um seine Verluste zu zählen. Danach schickte er fast all seine Sklaven runter nach Lancaster, von wo sie nicht so leicht fliehen konnten. Er war allerdings überrascht, wie schwer ihm die Arbeit dann doch fiel. Ob John vielleicht ein oder zwei Sklaven entbehren könnte, bis die Lage sich ein wenig beruhigt hatte? Einen, der auf der Farm hilft, könnte er gut gebrauchen. Sie entschieden sich für William, weil jeder wusste, dass er niemals ohne Fanny wegrennen würde, und Fanny konnte nicht rennen. William war eine sichere Sache.

Master Benjamin lebte mit seiner Familie im Chinn-Haus draußen auf der Hazel Plain. Das ganze Frühjahr hindurch putzten William und Fanny bei seiner Frau, Miss Edmonia, ernteten dann Mais, Pfirsiche und Walnüsse und trainierten Master Benjamins Pferde. So gut wie nie wurde eine Arbeit nur einem von beiden aufgetragen; stets hieß es: »William und Fanny, lagert mir diese Kartoffeln unter dem Haus«, oder: »William und Fanny, jetzt müssen die Kühe hinter dem Haus gemolken werden«. Und manchmal hieß es auch: »William und Fanny, wie oft muss ich euch noch zeigen, wie man ein Hemd bügelt, ohne dass Falten bleiben? Zum Kuckuck!« Wo es für alle Beteiligten das Einfachste war, die elfjährigen Zwillinge als eine einzige Person zu behandeln, vergaß Master Benjamin es manchmal – oder machte absichtlich eine Ausnahme –, was dann dazu führte, dass William eine Tracht Prügel erhielt. Wenn William angewiesen wurde, etwas zu tun, das Fanny nicht tun konnte, wie etwa am Warrenton Turnpike vorbei zur Farm der Cushings zu laufen, eine Nachricht zu hinterlassen und vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein, machte William das einfach nicht.

»Geh nur, Willie«, sagte Fanny dann. »Ich bleib hier bei Miss Edmonia.«

»Glaubst du, dass ich dich hier lasse und erlaube, dass dieser weiße Mann dich anstarrt, grad wie es ihm gefällt? Du spinnst ja wohl.«

»Wie kommst du dazu, mich Spinner zu nennen, wenn immer du es bist, der Dresche kriegt?«

»Denk, was du willst. Trotzdem rühr ich mich nicht vom Fleck.«

»Weißt du was? Dann lass ich zu, dass Raw Head und Bloody Bones dich kriegen, wenn du heut Abend ins Bett gehst. Ich sing sie einfach nicht weg wie sonst.«

»Ich bitte dich. Das sind doch Märchen. Edmonia sagt das, damit wir abends drin bleiben und nicht die Pfirsiche von ihren geliebten Bäumen mopsen. Ich glaub nicht an das alte Zeugs. Ich hab so getan als ob, damit du dir nicht in die Hosen machst. Du liebe Zeit. Ich schnapp mir Raw Head und Bloody Bones am Kragen und mach Eintopf aus ihnen. Was sagst du jetzt?«

Dann drehte William sich weg und tat so, als hörte er nicht, was seine Schwester noch sagte, egal was es war.

Mitte August packte Master Benjamin dann seine Familie und seine Sklaven zusammen und brachte sie in ein Lager der Konföderierten. Die Kämpfe hatten sich Manassas unaufhaltsam genähert, bis die Unionstruppen die Stadt schließlich einnahmen. Dass sie von ihrem Land verdrängt wurden, vergalten die konföderierten Soldaten, indem sie Geschäfte, Geräteschuppen, Kaufhäuser, Lagerhallen und alles, was sonst irgendwie wertvoll war, umstellten und bis auf die Grundmauern niederbrannten, bevor sie südwärts abzogen. Die Unionstruppen sollten nichts, aber auch gar nichts gegen die Konföderierten verwenden können, sollte es zum Kampf kommen.

Und dieser Zeitpunkt rückte näher. Mutige Männer sahen, wie ihre Stadt, ihre Häuser, überrannt wurden von Geistern in blauen Filzmänteln und mit Colt-Revolvern und Säbeln, die an ihrer Seite baumelten. Sie stampften mit den Füßen, ballten die Fäuste und leisteten feierliche Schwüre, diese gottverdammten Schweine aus dem Land zu jagen, damit alles so wie früher wird. Aber William hörte zufällig, wie Master Benjamin und ein paar andere weiße Männer leise darüber sprachen, dass nach dem Ende des Indian Summer der Regen dafür gesorgt hatte, dass am Fuß von Matthew’s Hill Bäche von Blut hervorquollen. Tausend Männer waren dort unter der weichen, staubigen Erde begraben; allesamt Opfer der letzten Schlacht im vorigen Jahr. Konnte die Erde noch mehr Tote aufnehmen?

William und Fanny hörten auch andere Gerüchte, unterdrücktes, vereinzeltes Gemurmel, demzufolge sich Negerfrauen und Männer in den Wäldern und Feldern außerhalb von Manassas sammelten und auf den richtigen Moment warteten, der ihnen die Freiheit bringen würde. Wenn sie es bis zum Hauptquartier der Unionstruppen in der Stadt schaffen würden, wären sie frei. Frei. Nicht nur für eine Stunde oder einen Tag, sondern frei für immer.

William hörte das Wort »frei« im Mund der schwarzen Männer rasseln, und zum ersten Mal machte ihn das Wort durstig. Wie sehr wünschte er sich an einen Ort, wo man Kinder nicht von ihren Eltern, Brüder und Schwestern trennen konnte, grad so, wie es irgendeinem Fremden einfiel. Die Sehnsucht machte ihn fahrig und unbeherrscht. Er schlug Pferde und zerbrach Besenstiele. Er schlief auf den Feldern und betete um Regen. Fanny sagte ihm, sein Wunsch nach Freiheit würde ihn noch um den Verstand bringen.

»Jetzt lauf schon weg, Willie«, drängte ihn Fanny. »Geh besser jetzt, solange du noch kannst. Wer weiß schon, was morgen ist? Vielleicht vertreiben sie die Yankees, dann hast du Pech gehabt. Dann kommst du nie frei.«

»Fanny, dein Fuß ist nicht Ordnung. Du kannst es nicht schaffen.«

»Ich rede nicht von mir, Dummkopf, sondern von dir. Geh ohne mich!«

»Halt jetzt die Klappe, oder ich vergesse mich. Wenn du nicht gehen kannst, kann ich es auch nicht. Also, wenn du etwas Gutes tun willst, dann denk drüber nach, wie wir beide die Linie erreichen. Wenn nicht, halt die Klappe.«

»Ich halt das nicht aus! Du bist der dämlichste, hässlichste Muli-Nigger, den ich je gesehen habe!«

»Ich weiß, Fanny. Ich weiß. Glaubst du, das macht mir was aus?«

Jeden Tag die gleiche Klage, und immer die gleiche Antwort. Gehen oder bleiben – das war abgesehen von Maiskuchen und Williams Arbeitsbereitschaft das Einzige, worüber die Zwillinge stritten.

Eines späten Nachmittags, als der Himmel sich schon in samtige Holzkohle verwandelt hatte, rief Master Benjamin die beiden zu sich. »William, lass uns schnell aufbrechen. Du kommst mit mir nach Camp Pickens. Dort hilfst du mir Vorräte aufladen.«

William hob Fanny auf den Wagen und kletterte dann selbst hinauf. Als sie Camp Pickens erreichten, war es fast ganz dunkel. Master Benjamin sprang vom lederbezogenen Bock des Wagens und ging weg Richtung Vorratszelt, wo es Korn und Futter zu kaufen gab. William hüpfte herunter und drehte sich, um Fanny bei der Hüfte zu halten, während sie an den Rand des Wagens rutschte.

»Lass mal, mein Junge, ich helfe dir mit der jungen Dame.«

Ein weißer Mann mit breiten Hüften und üppig-blondem Bart schob William beiseite und packte Fannys Taille. William erbleichte angesichts der schwieligen, rosafarbenen Hände, die seine Schwester umfassten, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er senkte den Kopf, um dem Mann in den Rücken zu springen, doch bevor William sich noch bewegen konnte, rief Master Benajmin herüber: »Lass gut sein, Kumpel. Sind keine weißen Kinder. Bloß Nigger.«

Der kräftige Mann sprang von Fanny weg, als ob er sich an ihr verbrannt hätte. Er schaute die Zwillinge an, als ob sie ihn absichtlich hinters Licht geführt hätten, aus reiner Bosheit, spuckte dann auf den Boden und ging. William sah den Fremden in der Menge verschwinden und wusste nicht, wofür er ihn mehr hassen sollte – dafür, dass er seiner Schwester geholfen, oder dafür, dass er ihr nicht geholfen hatte.

Sie blieben die Nacht in Camp Pickens; die Kinder schliefen hinten auf dem offenen Wagen, Master Benjamin in einem Zelt. Bei Tagesanbruch wurden William und Fanny von Siegesgeschrei und jubelnden Männern geweckt, die durch die schmalen, staubigen Straßen tanzten, laut »Hurra!« brüllten und dem Sonnenaufgang zuprosteten. Stonewall Jackson hatte Popes Vorratslager in Manassas erobert und die Yankees verjagt. Manassas war frei! Benjamin sank auf die Knie, streckte die Arme in die Luft und rief: »Gelobt sei Jesus Christus!«

Fanny sah William mit Tränen in den Augen an, und William merkte, dass er sie nicht trösten konnte, egal wie keck oder tiefsinnig er es auch anstellen mochte. Er fühlte sich schwach und wertlos. Also tat der kleine Junge, was kleine Jungs eben tun: Er presste die Fäuste auf die Ohren, kickte Dreck an ihr Schienbein und schrie: »Ich kann dich nicht hören! Es ist mir egal!« Und er rannte weg und versteckte sich hinter einem der Munitionszelte. Als Fanny dann schließlich ihm nach und hinter das Zelt ging, war es Williams sehnlichster Wunsch, sich zu versöhnen. Sie ließ sich neben ihm nieder. Er holte seinen geliebten, rot angemalten Kiefernzapfen und eine Pfefferminzkugel voller Fussel aus der Tasche und drückte ihr beides in die Hand. Sie ergriff seine Hand, legte ihren Kopf auf seine Schultern, und damit hatte es sich dann.

Sie ließen den Rauch, die Flucherei und das Gelächter von Camp Pickens erst am nächsten Vormittag hinter sich. Master Benjamin hatte einen Kater und rieb sich unablässig über die struppigen Stoppeln, die seinen Wangen entsprossen, gerade so, als schmerze ihm der Kiefer, nachdem er ihn die ganze Nacht auf- und zugemacht hatte zum Trinken. Seine Beschwerden schienen ihn mit Feuer zu erfüllen. William konnte es ihm einfach nicht recht machen. Saß er ruhig hinten auf dem Wagen neben Fanny und legte seinen Kopf in ihren Schoß, war er nicht behilflich genug. Kletterte er auf den Bock des Wagens zu Master Benjamin, war er viel zu nahe. Und wenn er nicht schnell wieder abhaute, musste er damit rechnen, seine verdammte Nigger-Fresse poliert zu kriegen.

William saß still hinten und überlegte, wie er sich verhalten sollte, als Master Benjamin »Brrrr!« rief und den verschwitzten Braunen an den Straßenrand lenkte. Die Kinder linsten über den Rand des Wagens und sahen den Lehrer Brice, der winkend aus einem Kiefernwäldchen auf sie zuhumpelte. Der Lehrer zog ein Bein nach, genau wie Fanny, nur war es bei ihm kein Klumpfuß, sondern die kaputte Hüfte eines alten Mannes.

»Fahr nicht da lang!«, rief er. »Dreh um!«

»Was ist los, Jerrod?«, fragte Master Benjamin. Alle Trägheit war plötzlich aus seiner Stimme verschwunden, und seine müden, geröteten Augen verengten sich.

Der alte Mann hielt sich am Wagen fest, atmete schwer und stöhnte. Schweißtropfen standen auf seiner Glatze und tropften ihm über Gesicht und Nacken. Der Lehrer schlug auf seine kaputte Hüfte, verzweifelt und vom Schmerz gezeichnet.

»Du kannst nicht den Berg rauf oder ins Lager«, keuchte er. »Es hat angefangen.«

»Sag, was los ist, Alterchen. Was hat angefangen? Raus mit der Sprache.«

»Stonewalls Leute greifen die Unionstruppen bei Warrenton an. Überall wird gekämpft.«

»Wo sind unsere Leute? Die Gaskins, die Monroes, die Dogons?«

»Alle – die Frauen, die Kinder, einfach alle – sind weg nach Catlett. Schon gestern. Was an Männern übrig ist, sammelt sich bei Groveton.«

Master Benjamin zog seine Peitsche und trieb sie mit einem lauten Knall in die Flanke des Pferdes. Der Fuchs bäumte sich auf und schlug aus, sodass die Kinder nach hinten in die aufgestapelten Mehl- und Kornsäcke purzelten. William blickte zurück zu Lehrer Brice, doch alles, was er sehen konnte, war eine schwankende Person, gefangen in einer Staubwolke. Den alten Mann so ganz allein mitten auf der Straße stehen, ja, vielleicht ihn dort sogar sterben zu lassen, kam ihm grausam vor. Aber Master Benjamin hielt nicht an. Er peitschte das Pferd und trieb es immer schneller die Old Alexandria Road entlang, ohne Rücksicht auf Schlaglöcher oder Verwerfungen.

William warf sich über Fanny, damit sie nicht hinten vom Wagen hinunter flog. Als sie schließlich die Abzweigung zur Lewis Lane erreichten, hielt Master Benjamin am Straßenrand an. Er drehte sich um und starrte William an, der sofort die Augen senkte, die Schultern hängen ließ und so seine Konturen weicher erscheinen ließ, ganz so, wie seine Mutter es ihm beigebracht hatte.

»Hör zu, Junge«, sagte Master Benjamin. »Du musst etwas für mich tun. Ein großes Ding. Weißt du, ich kenne dich, seit du auf der Welt bist. Verstehst du? Deine Familie ist für mich fast so etwas wie … Verwandtschaft. Ich zähle jetzt auf dich, Junge. Ich möchte mich auf dich verlassen können, William. Kann ich mich darauf verlassen, dass du tust, was ich sage?«

»Ja, Sir«, nuschelte William.

Mittlerweile war entfernter Kanonendonner zu hören, und durch die Weidenbäume im Norden sah man Rauch aufsteigen wie Nebel.

»Ich möchte, dass du diese Vorräte nach Catlett bringst. Übergib sie dort dem ersten Menschen, den du triffst, und sag, du kommst von mir. Lass dann Fanny und den Wagen in Catlett. Hörst du, Junge? Es ist wichtig. Es ist für Fanny zu gefährlich, dir zu folgen. Sie wird sterben, und du wirst schuld sein. Verstehst du das? Lass Fanny zurück, spann den Fuchs aus und nimm ihn für dich. Dann schau, ob du mein Pferd findest. Wenn nicht, nimm irgendein anderes gutes Pferd, das sie haben, und triff mich dann in Groveton. Traust du dir das zu, William?«

»Ja, Sir.«

»Guter Junge. Also los.«

Master Benjamin sprang vom Führerstand und lief auf eine Gruppe moos- und efeubedeckter Zedern zu. Er winkte kurz zurück und war nicht mehr zu sehen, verschwand einfach im Wald neben der Straße.

»Was wirst du machen, Willie? Nach Catlett gehen?«

»Ja, spinnst du, Mädchen? Was glaubst du? Ich und nach Catlett gehen?«

»Aber was dann?«

»Wir gehen nach Pennsylvania. Dann komm’ ich wieder und kämpfe auf der Seite der Yankees.«

»Du hast ja ’n Knall, Nigger! Nach Pennsylvania schaffen wir’s nie. Außerdem nehmen die Yankees sowieso keine Nigger-Soldaten. Und selbst wenn sie’s täten, wie willst du’s anstellen, dass sie dich für sechzehn halten? Du bist ja gerade erst eine Minute alt. Denk nach, Junge. Das ist kein Spiel.«

»Was schlägst du vor, Frau Großmaul?«

»Lauf weg, Willie. Mach das Pferd los und flieh. Auf einem Pferd kann dich niemand einholen. Ich komm schon allein zurück nach Catlett. Und verraten tu ich nichts. Ich sag, die Yankees haben dich geschnappt.«

»Das ist kompletter Blödsinn.«

»Willie …«

»Nein! Ich lass’ niemanden hängen.«

»Willie, kannst du mir nur ein einziges Mal zuhören? Bitte. Wenn du hier mit mir die Zeit verplemperst, erwischen sie dich, und dann bringt Master Benjamin dich um.«

»Mir egal«, knurrte William.

»Ach so?«

»Mh-hm. Ist so.«

»Na prima! Wenn’s dir egal ist, ist es mir auch egal! Der gute alte Ben dreht dir den Kragen um und das geschieht dir recht.«

»Wir müssen von dieser Straße runter. Jeden Moment können hier Soldaten auftauchen.«

Fanny fing an zu schniefen und zu heulen, aber William ignorierte sie und tat so, als sähe er es nicht. Er lenkte den Wagen von der Fahrbahn und versteckte ihn hinter einer Gruppe stämmiger Sumpf-Eichen an einem steilen Hang. Dann spannte er das Pferd aus, nahm Fanny an der Hand und ging ostwärts in den Wald, Richtung Chinn-Haus.

Der Wald war gesteckt voll mit riesigen, dürren Bäumen, deren Äste sich weit streckten, um das Sonnenlicht abzufangen, das die Luft in ein kühles Grün tauchte. Die Füße der Kinder glitten über die warmen Moosbetten und durch tote Blätter, die wie ein Teppich auslagen, während um sie herum, an verborgenen Stellen, die Erde brüllte und Rauch ausstieß. William versuchte, Fannys Gang zu beschleunigen, indem er die langen Schößlinge zurückbog, damit sie vorwärts konnte, ohne sie ins Gesicht zu kriegen und gepiekst zu werden. Kein Hirsch glitt leise hinter den üppigen Farnen vorüber, kein Vogel brachte beim Auffliegen die Zweige zum Rascheln. Die Tiere waren schon längst geflohen.

Je weiter die Kinder im Wald vorwärtsdrangen, desto lauter und schrecklicher wurden die Geräusche vor ihnen. Das Bellen grober, panischer Schreie brach durch die Bäume und kam unaufhaltsam näher. Fanny kauerte sich an Williams Brust, als in der Ferne das Tat-tat-tat-tat-tat-tat von Artilleriefeuer und das Grollen abgefeuerter Kanonen zu hören war. Sie quetschte seine Hand, bis sie taub war, und William erwiderte den Druck, streifte dabei weiter und gab sich Mühe, so dreinzublicken, als wüsste er, wohin er sie führte. Aber es war die Gewohnheit, die ihn nach Osten führte, nicht etwa ein Plan, sie in Sicherheit zu bringen. In seinem Herzen hatte er sich verlaufen und fragte sich, ob sie sterben würden, genau wie ja mit Sicherheit auch der Lehrer Brice tot war.

Sie eilten am Chinn Branch entlang, einem Bach, der geradewegs östlich am Chinn-Haus vorbeiging. William schaute nach rechts und sah irgendetwas, das sich träge im Wasser bewegte. Der Knoten zwischen seinen Rippen begann zu pochen, und plötzlich spürte er ein Brennen im Bauch, so grässlich, dass er dachte, er würde sich in die Hosen machen. Doch er ließ Fannys Hand los, gab ihr die Zügel des Pferdes und ging ans Bachufer, um zu sehen, was das dort war.

Ein Unionist hing in der Strömung, verfangen im Ufergestrüpp. William sah das Blau der Uniform und kletterte hinunter, um dem Mann aus dem Wasser zu helfen. Aber er hielt an, als er erkannte, dass die Brust des Mannes weit aufklaffte und sein Herz an einem glänzenden Metallknopf baumelte. Der Soldat war aufgeweicht und schon dabei, sich aufzublähen, mit weit aufgerissenem Mund, in dem blutiges Wasser schwappte.

William schreckte zurück und drehte sich um, um Fanny zu sagen, sie solle weglaufen. Doch bevor er etwas sagen konnte, hörte er das Pfeifen und Zerbrechen von Ästen, und er wusste, dass es zu spät war.

Die Kanonenkugel schlug direkt neben ihnen ein, und die Wucht des Stoßes schleuderte ihn zurück in den Fluss, geradewegs in die Arme des Unionisten. William zappelte wild im Wasser, schlug und kratzte den toten Soldaten, riss ihm dabei Körperteile, Herz und Knöpfe ab, als er panisch freizukommen versuchte. Seine nackten Füße spürten Boden unter sich, und er hechtete vorwärts und warf sich ans schlammige Ufer. Dann fiel er auf die Knie und erbrach den metallenen Geschmack des Wassers aus seiner Kehle.

»Fanny!«

William eilte zurück zu der Stelle, an der sie gestanden hatte. Fünf Meter seitwärts sah er das blondmähnige Pferd auf der Seite liegen. Ein Schrapnell hatte den Bauch aufgerissen, und die dampfenden Innereien drangen heraus auf den kühlen Waldboden.

William spürte, wie ihm das Leben aus den Fußsohlen wich. Sein Körper wankte, so wie er den Lehrer Brice durch eine Hülle von orangefarbenem Staub hatte wanken sehen, und er dachte, Ich bin auch nur aus Staub, mehr nicht, nur Staub. Dann drehte er sich zum Wasser und dachte darüber nach, ob er sich nass und damit schwerer machen sollte, ob er zurück in die Strömung gleiten sollte, um sich so ein Bett zu machen und hinzulegen.

Dann hörte er ein Geräusch, das Röcheln seiner Schwester, und er wusste, sie war am Leben und versuchte, seinen Namen zu rufen. Panik durchzuckte seinen Körper und er drehte sich weg vom Wasser und rief Fannys Namen, ohne Rücksicht darauf, dass jemand anderes ihn hören könnte. Er rannte um den Körper des Pferdes herum und fand sie an den Stamm einer zerborstenen Kiefer gelehnt.

»Fanny«, rief er. »Bist du okay? Bitte sag, es geht dir gut.«

Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und beugte sich zu ihr, so dicht, dass ihre Nasen sich berührten.

»William?«

»Ja, ich bin hier. Ich geh nirgendwo hin. Ich bin hier bei dir.«

Er versuchte, sie dazu zu bringen, ihn anzusehen, aber ihr Blick ging weiter einfach ins Leere. Kaum verstand er ihre Worte, als sie murmelte: »Willie, ich glaub, mein Bein ist im Arsch.«

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