Kitabı oku: «Lash (Gefallener Engel 1)», sayfa 3
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Naomi warf den letzten Müllsack in die Tonne und setzte sich ihrem Vater gegenüber auf die Vordertreppe. Er spielte mit einer roten Marke, seinem Einen-Monat-nüchtern-Abzeichen und ließ es zwischen seinen Fingern kreisen. Sie lehnte sich gegen das Geländer und sah hinauf zu den Sternen am wolkenlosen Himmel. Sie saßen in einvernehmlichem Schweigen, keiner von ihnen wollte die außergewöhnlich friedliche Stille der Nacht stören. Normal waren das ferne Krachen von Schüssen und das Heulen von Sirenen. Obwohl Naomi nur wenige Meilen entfernt wohnte, machte sie sich Sorgen, weil ihre Großmutter und Chuy in einer so gefährlichen Gegend lebten.
»Hat es dir gefallen, Mijita?«, fragte Javier.
»Es war großartig, Dad.« Naomi warf einen Seitenblick auf die braune Flasche, die er hielt.
»Das ist Limo«, sagte er als Antwort auf ihren Gesichtsausdruck. »Ich weiß, dass du Angst hast, ich könnte wieder zu trinken anfangen. Du hast mein Wort darauf, dass ich das nicht tun werde.«
»Bist noch in Kontakt mit deinem Sponsor?«
»Jeden Tag.«
»Gut.«
Ihr Vater blieb einen Moment lang still. Er verlagerte das Gewicht, bevor er sprach. »Es gibt etwas, das ich dir geben möchte.«
»Dad– «
»Bevor du nein sagst, lass es mich erklären.« Er klopfte auf die freie Stelle neben ihm. »Komm her.«
»Aber– «
»Bitte, das hier ist wichtig.«
Sie rutschte über die Stufe heran und Unbehagen überkam sie, als sie darauf wartete, dass ihr Vater zu sprechen anfing. Das letzte Mal, als er so ein Gesicht gemacht hatte wie jetzt, war, als er ihr hatte sagen müssen, dass ihre Mutter gestorben war.
Er griff in seine Tasche und zog ein filigranes Silberkettchen hervor. Als er es im Verandalicht baumeln ließ, strahlten blaue und weiße Lichtblitze von den winzigen Diamanten ab, die das Kreuz säumten. Die Halskette ihrer Mutter. Tränen verschleierten ihren Blick, als sie sich erinnerte, wie sie auf dem Krankenhausbett gesessen hatte, ihre Mutter blass vor Schmerzen, mit dunklen Ringen unter den Augen und hohlen Wangen. Immer, wenn sie das Kettchen mit dem Finger nachgezogen hatte, hatte Frieden in ihren Augen geleuchtet. Ihr Glaube war so stark gewesen; es war etwas, von dem Naomi wünschte, sie hätte es auch.
Sie ließ ihre Finger über den Anhänger gleiten und fühlte die kalte Berührung des Silbers. Seitdem ihre Mutter gestorben war, hatte ihr Vater das Kettchen in einem kleinen Samtbeutelchen aufbewahrt, das er immer bei sich trug. »Das kann ich nicht annehmen.«
»Es ist deins«, sagte er. Seine Stimme klang laut in der stillen Nacht, obwohl er flüsterte.
Naomi ließ ihre Hand herabfallen. »Sie gehört dir.«
Er hob ihre Hand auf und drehte sie um. Er ließ die Kette in ihre Handfläche fallen und starrte einen Moment lang darauf. »Nein, sie gehört dir.«
»Dad, ich –«
»Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?«
»Schon, aber –«
»Ich fühle mich besser, wenn ich weiß, dass du sie hast. Du bist erwachsen und hast ein ganzes Leben vor dir. Jetzt musst du losziehen. Jemand Besonderen treffen. Wann bist du das letzte Mal auf einem Date gewesen?«
Naomi schnitt eine Grimasse. Es war etwas daran gewesen, ihren Vater die Liebe seines Lebens verlieren zu sehen, das das Daten in neues Licht gerückt hatte. Sie dachte an all die Jungen, mit denen sie ausgegangen war. Sie konnte sich an niemanden erinnern, für den sie so tief empfunden hätte wie ihre Eltern für einander.
»Ich bin nicht am Daten interessiert, zumindest jetzt nicht.«
Javier schüttelte den Kopf. »Schotte dich nicht vor der Liebe ab, Mijita. Wenn die Zeit reif ist, wird der Richtige dich finden. Alles, was du brauchst, ist Vertrauen.« Er nahm ihr das Kettchen aus der Hand und befestigte es um ihren Hals.
Naomi sah ihm aufmerksam ins Gesicht und fragte sich, weshalb er sich so merkwürdig verhielt. Er schien ihr noch mehr sagen zu wollen und sie wartete stumm ab in der Hoffnung, dass er fortfahren würde. Stattdessen seufzte er und stand auf.
»Wohin gehst du?«, fragte sie, überrascht, dass er jetzt los wollte.
»Zur Arbeit.« Er nahm den Autoschlüssel aus der Tasche. »Ich putze heute Nacht Büros.«
»Du hast zwei Teilzeitjobs?«
»Ich muss viele Rechnungen nachzahlen. Sieh mich nicht so an.« Er tippte ihr auf die gerunzelte Stirn. »Du kriegst noch Falten, bevor du dreißig bist.«
»Jetzt, wo es dir besser geht, könntest du vielleicht an einen IT-Job kommen.« Sie wandte den Blick ab, wohlwissend, dass selbst sein Abschluss in Computer Science die mehrfachen Verwarnungen seiner früheren Arbeitgeber nicht auslöschen konnte. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass in einer Großstadt wie Houston jemand ihm eine neue Chance geben würde und dass er einen Job fand, bevor die Welt der Technologie sich bereits viel weiter entwickelt hatte.
»Vielleicht.« Javier drehte den Schlüssel im Motor und die Lichter, die einen Kreis um den Mustang herum formten, erwachten blinkend zum Leben.
»Du und Chuy, ihr habt das wirklich gut hingekriegt.« Naomi trat zurück, um eine bessere Sicht zu haben. »Er ist wirklich cool. Ihr zwei solltet zusammen eine Firma aufmachen.«
»Das ist keine schlechte Idee. Obwohl, wie ich Chuy kenne, würde er die ganzen Gewinne verfressen.« Er legte den Rückwärtsgang ein. »Bis morgen. Vergiss nicht, deinen Helm aufzusetzen.«
»Mach ich doch immer.« Sie winkte.
Er war schon halb die Straße hinuntergefahren, als sie aus heiterem Himmel heraus das Bedürfnis hatte, ihm nachzulaufen. Sie schüttelte den Kopf schalt sich selbst für diesen Unsinn.
Ich sehe ihn morgen. Sie startete das Motorrad und fuhr in die entgegengesetzte Richtung davon.
Jane Sutherland lehnte sich an das Waschbecken und streifte ihre Jimmy Choos ab. Nach fünf Stunden voller Gespräche und Kontakteknüpfen mit den Reichen Houstons und den führenden Größen von Texas Oil schrien ihre Füße vor Schmerz. Sie wackelte mit den Zehen, während der Boden ihre gequälten Füße kühlte. Viel besser, dachte sie. Wenn sie doch bloß barfuß zu formellen Veranstaltungen gehen könnte, das würde sie um einiges erfreulicher machen.
Sie sah in den Spiegel und trug eine neue Schicht rubinroten Lippenstift auf. Ihr platinumblondes Haar, das zu einem Dutt aufgesteckt war, betonte ihre großen saphirfarbenen Augen. Siebenundvierzig Jahre, in denen sie die Sonne vermieden hatte – sie bekam leicht einen Sonnenbrand – hatten ihr Gesicht blass und faltenlos gelassen.
Es kopfte an der Tür. »Senatorin Sutherland? Mr. Prescott hat einen Gast, den er Ihnen gern vorstellen würde.«
»Ich bin gleich da.« Jane seufzte und legte den Lippenstift in ihr Gucci-Etui.
Noch ein Gast. Noch ein Drink.
Als sie ihre politische Karriere begonnen hatte, hatte sie keine Ahnung gehabt, dass sie die meiste Zeit mit der Beschaffung von Geldern verbringen würde. Sie hatte naiverweise geglaubt, sie sei anders als die anderen. Sie würde etwas bewegen. Mittlerweile war das Einzige, worüber sie entschied, ob ihre Geldgeber von ihren großzügigen Spenden für ihre Kampagne profitieren würden oder nicht.
Sie öffnete die Tür und fand im Flur einen wohlsituierten Mann vor.
»Senatorin.« Er lächelte strahlend. »Ich wollte gerade nachsehen kommen, ob ich dir behilflich sein kann.«
»Ich meine mich zu erinnern, dass ich dir das letzte Mal, als du mir behilflich sein wolltest und mir in die Damentoilette gefolgt bist, Wasser über deine Seidenkrawatte gekippt habe.« Jane lächelte Luke Prescott an.
Er bot ihr seinen Arm an und sie hängte sich bei ihm ein. »Ich habe dir einen Gefallen getan und dich hochgehoben, damit du dir die Hände waschen konntest. Ich hatte keine Ahnung, dass du meine Lieblingskrawatte zerstören würdest.«
»Das ist das Risiko, dass die Gesellschaft einer Fünfjährigen mit sich bringt.« Jane drückte zärtlich seinen Arm.
Ihr Vater hatte für Luke Prescott gearbeitet und er war ein enger Freund der Familie. In ihrer Kindheit und Jugend war Luke bei den wichtigen Ereignissen in ihrem Leben immer dabei gewesen – als sie die Hauptrolle in der Theateraufführung der Schule innehatte, beim Abschlussball, bei der Abschlusszeremonie – selbst, als ihr Vater es nicht gewesen war. Als dann ihre Mutter gestorben war, hatte er darauf geachtet, wenigstens einmal am Tag vorbeizuschauen. Er war ihr engster Vertrauter geworden. Es war seine Idee gewesen, dass sie die rechtswissenschaftliche Fakultät besuchen sollte und danach hatte er sie darin bestärkt und unterstützt, sich zur Senatorenwahl aufstellen zu lassen.
»Zum Glück hatte ich ein ganzes Dutzend mehr davon.« Seine grauen Augen funkelten.
»Und wieso auch nicht? I würde davon ausgehen, dass ein Milliardär zumindest einige hat.«
»Aber, aber, Jane. Sei nett zu den Superreichen. Wir haben auch Gefühle.«
Jane hielt vor dem Eingang zum Festsaal an. Im Raum wimmelte es von Unterstützern der American Federation Party und alle erwarteten sie Großes von ihr. Alles, was sie je gewollt hatte, war, daran mitzuwirken, dass Menschen ein besseres Leben hatten. Wann hatte sich das in das Tragen eines Designerkleids verwandelt und in Gespräche mit Leuten, die den Preis für einen Kleinwagen zahlten, nur um mit ihr im selben Raum zu sein? Wenn Luke sie nicht ständig zu dem, was er für eine notwendige Uniformierung hielt, gedrängt und ihre Garderobe gekauft hätte, hätte sie etwas weniger Pompöses getragen.
»Ich bin ein bisschen müde, Luke. Lass uns Schluss machen.«
»Noch eine letzte Person«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Die Conoleys wollen dich unbedingt persönlich kennenlernen. Sie sind extra von Oklahoma hergeflogen.«
»Zweifellos in ihrem Privatjet.«
»Es ist ein kleiner!«
»Oh, Verzeihung.« Jane täuschte Anteilnahme vor. »Ich wusste ja nicht, welche Strapazen sie auf sich genommen haben. Lernen wir sie also kennen.« Sie konnte es ebenso gut hinter sich bringen. So sehr sie die Spendenaktionen auch hasste, die American Federation Party war ihre Leidenschaft, denn sie glaubte daran, dass ihre Grundwerte in Hinblick auf steuerliche und gemeinschaftliche Verantwortung gut für das Land waren.
Nachdem Jane mit den Conoleys einen Drink eingenommen hatte, führte Luke sie zu einer anderen Gruppe von Leuten, die sie treffen sollte. Jedes Mal, wenn sie verschwinden wollte, fand Luke für sie einen Vorwand zum Bleiben. Es war merkwürdig, dass sie mit zunehmendem Abend das Gefühl hatte, betrunken zu sein, obwohl sie nur ein klein wenig an einem Glas Wein genippt hatte. Sie warf einen Blick auf ihr Glas und fragte sich, wie es immer noch halbvoll sein konnte. Es war, als hätte sie überhaupt nichts getrunken.
»Mir reicht’s, Luke«, sagte sie.
»Geh und gönn dir deinen Schönheitsschlaf.« Er winkte einem hochgewachsenen Mann zu, der am Rand des Raums stand. »Ich werde Sal sagen, dass er dir nach Hause folgen soll.«
»Das ist nicht nötig«, sagte sie. Sal war Lukes persönlicher Assistent und Bodyguard. Wo auch immer Luke hinging, Sal war immer dicht hinter ihm und lauerte im Schatten. Er versuchte, sich unauffällig unter die anderen zu mischen, was schwierig war für einen schwerfälligen, fast zwei Meter großen Muskelberg. Die Krokodillederstiefel, die er immer trug, halfen dabei auch nicht.
Sal stand mit ausdruckslosem Gesicht neben Luke. Seine schwarzen Augen glitten über Jane und für einen Moment spannte sich sein Blick an und er musterte sie, als sei sie unter seiner Würde. Ein eiskaltes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. So hatte er sie noch nie angesehen; und Jane fragte sich, was sie getan hatte, um einen solchen Blick zu verdienen.
Luke nickte ihm kaum merklich zu und Sal warf einen letzten Blick auf Jane, bevor er sich seinen Weg durch die Menge bahnte und den Festsaal verließ. »Ich werde dich für heute gehen lassen, aber du wirst dich daran gewöhnen müssen, ständig Leute an deiner Seite zu haben, wenn du Präsidentin bist.« Luke ergriff ihren Ellbogen und führte sie zur Lobby.
Jane lachte. »Du bist voreilig. Lass uns erstmal abwarten und sehen, ob ich meine Amtszeit überstehe. Ich habe ja kaum meinen Platz im Senat gewonnen.« Als Luke und seine Freunde vorgeschlagen hatten, sie solle sich als Senatorin der American Federation Party aufstellen lassen, hätte sie nie geglaubt, dass sie die Wahl tatsächlich gewinnen könnte, weil die Partei neu war und wenige Unterstützer hatte. Luke hingegen hatte nie daran gezweifelt.
»Ich habe mich noch nie in Situationen wie dieser geirrt. Merk dir meine Worte, Jane. Du wirst noch Präsidentin der Vereinigten Staaten.«
Bei diesen Worten überlief Jane ein Frösteln. Sie hätte sich beschwingt fühlen sollen. Wieso fühlte sich das Frösteln an, als rührte es eher von Angst her als von Aufregung?
Ein safter Regen fiel, als sie in ihrem silbernen Jaguar XF – einem Geschenk von Luke, als sie vor langer Zeit ihr Studium der Rechtswissenschaften abgeschlossen hatte – durch die Außenbezirke Houstons in die Vororte nachhause fuhr. Weil ihr ein wenig schwindelig war, drehte sie die Klimaanlage auf und richtete die kühle Luft auf ihr Gesicht. Sie ergriff ihr Smartphone, presste einen Knopf und wartete auf den vertrauten Piepton.
»Spiel Mozart«, wies sie an.
»Eine kleine Nachtmusik« ertönte aus den Lautsprechern, während sie eine kurvenreiche Straße entlangfuhr. Das Scheinwerferlicht des Autos wurde von der Glasfassade eines Bürogebäudes reflektiert, an dem sie vorbeifuhr. Als sie, darum kämpfend, wachzubleiben, auf den Highway vor sich starrte, sah sie, wie in einiger Entfernung eine Straßenlaterne flackerte. Als sie daran vorbeifuhr, wurde das Licht stärker und normalisierte sich dann. Dann beobachtete sie dasselbe an einer anderen Laterne, als sie daran vorbeifuhr– sie flackerte, wurde heller und leuchtete dann normal.
Ich muss mehr getrunken haben, als ich dachte. Sie schlug sich leicht auf die Wangen.
Das Handy klingelte und sie fuhr erschrocken zusammen. Als sie einen Blick nach unten warf, erkannte sie den Namen »Luke Prescott« auf dem Bildschirm.
Es schien alles gleichzeitig zu geschehen. Ein gewaltiger Druck lag schwer auf ihrer Brust und eine Sekunde lan glaubte sie, sie hätte einen Herzinfarkt. Der Druck breitete sich aus, als ob er ihren ganzen Körper mit einem Kokon umgäbe, der sie schützte. Es war das gleiche Gefühl, dass sie vor fünfunddreißig Jahren gehabt hatte, kurz bevor das Flugzeug abgestürzt war. Da war das Quietschen von Reifen und ein Adrenalinrausch durchfuhr sie. Das Letzte, was sie sah, bevor sie ohnmächtig wurde, war ein galloppierendes Pferd, das auf sie zuraste.
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Lash beobachtete die hochgewachsene Rothaarige, während sie den verräucherten Raum absuchte. Die einzige Beleuchtung kam von einer Reihe Lichter, die die Bühne säumten, wo zwei ihrer Kolleginnen an der Stange tanzten. Es war später Nachmittag und das Geschäft ging schleppend, abgesehen von der Gruppe Männer im Ruhestand, die Stammgäste der Bar waren. Als die Augen der Frau zur hinteren Ecke des Raums wanderten und seinem Blick begegneten, lächelte er spöttisch über das Begehren, das ihr ins Gesicht geschrieben stand, als sie das schwarze T-Shirt musterte, das wie angegossen um seinen gutgebauten Oberkörper lag, die ausgeblichenen, zerrissenen Jeans, die ihm auf den Hüften saßen und das wilde dunkle Haar.
Lash lächelte ihr entgegen, als sie auf ihn zu schlenderte. Seine Augen wanderten über ihren Körper und verschlangen die langen Kurven ihrer Beine, die mit Leoparden-Nippelpflastern überklebten Brüste und den dollargesäumten Tanga, der ihre Taille umrahmte und wenig der Phantasie überließ. Er stand auf, um sie zu begrüßen, als ihm eine Hand auf die Schulter schlug und ihn auf seinen Platz zurückstieß.
»Gabrielle«, knurrte er. »Wie hast du mich gefunden?«
»Hau ab, Schwester.«, sagte die Rothaarige und beäugte Gabrielle misstrauisch. »Der hier gehört mir.«
Gabrielle sah die Rothaarige an und runzelte die Stirn. Sie schüttelte den Kopf, zog ihre Lederjacke aus und warf sie dem Mädchen zu. »Verlass diesen Ort und komm nicht wieder.«
Die Rothaarige blinzelte verwirrt.
Gabrielle lehnte sich zu ihr vor und flüsterte: »Du wirst morgen einen besseren Job finden. Das verspreche ich.«
Verblüfft nickte die Rothaarige nur, zog Gabrielles Jacke an und ging zur Tür hinaus.
»Michael mag es nicht, wenn du deine Jedi-Tricks bei Menschen einsetzt.« Lash drohte mit dem Finger.
Gabrielle zerrte einen Stuhl hervor und wischte ihn mit einer Serviette ab, bevor sie sich setzte. »Fünfunddreißig Jahre auf der Erde und alles, was du dir angeeignet hast, ist umfasssendes Wissen über George-Lucas-Filme. Hervorragend.«
»Lass es uns als anthropologische Studien der menschlichen Natur bezeichnen.« Lash grinste und hob sein Glas.
Gabrielle runzelte die Stirn. »Du besudelst deinen Körper genauso wie deinen Verstand.«
»Ich hätte gedacht, du fändest das amüsant.«
»Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als zuzusehen, wie du in deinem selbstgeschaffenen Elend schwelgst.«
»Was? Es ist dir egal, ob ich der dunklen Seite verfalle?« Lash täuschte großäugige Unschuld vor. »Das tut weh.«
»Ich weiß nicht, was Raphael in dir sieht. Ich verschwende hier meine Zeit.«
»Wenn du nicht vorhast, diese Klamotten da auszuziehen und um diese Stange da drüben herumzutanzen, dann würde ich sagen, ja, das tust du allerdings.«
Ihr Blick wurde kalt. »Primitivling.«
»Manchen Frauen gefällt das.« Er grinste unverschämt.
»Puh, lass uns das hinter uns bringen. Ich habe eine Aufgabe für dich.«
»Ich bin raus aus dem Familiengeschäft, weißt du noch?« Lash lehnte sich auf seinem Sitz zurück. »Soweit ich mich erinnere, warst du dabei, als ich ohne viel Aufhebens zur Tür rausgeworfen wurde.«
»Das war das Highlight meines Jahrhunderts.«
»Da bin ich sicher.« Lash blickte in ihre katzenartigen Augen und wünschte, er könnte ihr die Selbstgefälligkeit aus dem Gesicht wischen. »Egal, was du für mich hast, ich bin nicht interessiert.«
Gabrielle zog eine Augenbraue hoch. »Bist du sicher?« Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Hintertasche ihrer Jeans und wedelte damit vor seinem Gesicht herum. »Bist du nicht ein kleines bisschen neugierig, weshalb Michael dir nach all diesen Jahren eine Aufgabe geben würde?«
Er war neugierig, aber er wollte auf gar keinen Fall, dass Gabrielle das mitbekam. Er kippte auf dem Sitz nach hinten, balancierte auf dessen Hinterbeinen und legte die Füße auf den Tisch. »Es ist mir völlig egal.«
»Ich habe Raphael gesagt, er soll seine Zeit nicht verschwenden.«
Sein Stuhl schwankte und er drohte die Balance zu verlieren. Schnell korrigierte er seine Haltung. Ohne die Augen von ihr abzuwenden, sagte er: »Da sind wir tatsächlich mal einer Meinung.«
Gabrielle warf das Papier in die Mitte des Tischs. »Ob es dir egal ist oder nicht, geht mich nichts an. Was du damit machst, ist deine Entscheidung.«
Lash warf aus dem Augenwinkel einen Blick auf das Papier. Er wusste, dass sie ihn weiterhin beobachten würde, nachdem sie gegangen wäre, um zu sehen, ob er doch einen Blick darauf warf. »Du gehst schon?« Er ließ die Vorderbeine des Stuhls auf dem Boden aufsetzen, als sie aufstand.
»Ich habe Wichtigeres zu tun, als dir beim Verschwenden deiner Gaben zuzusehen. Michael hätte sie dir alle wegnehmen sollen, als er dich rausgeworfen hat.«
»Gaben? Ich bitte dich. Mach keine Witze. Was ich in meiner menschlichen Form tun kann, ist begrenzt, das weißt du.« Seine Fähigkeit zu sehen und zu hören war immer noch besser als die der Menschen und er war um einiges stärker als sie, aber die Entfernung, die er fliegen konnte, war stark eingeschränkt. Er hasste das.
»Ach, du Ärmster«, sagte sie, bevor sie sich abwandte und zur Tür ging. »Ich bin hier fertig.«
»Warte!«, rief Lash hinter ihr her. »Warum hat Michael dich geschickt, um den Auftrag zu überbringen?«
Gabrielle drehte sich um, ihre durchdringenden Augen begegneten seinen und ihre Lippen verzogen sich zu einem durchtriebenen Lächeln. »Ich habe mich freiwillig gemeldet.«
Ihre Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Sie wusste, dass er die Nachricht ablehnen würde, wenn sie sie selbst überbrachte. Es musste etwas wirklich Wichtiges sein, wenn sie verzweifelt genug war, sicherzustellen, dass er sie nicht entgegen nehmen würde.
Lash griff nach dem Zettel und Gabrielles Lächeln gefrohr. Er lachte leise. »Du willst wirklich nicht, dass ich das sehe, oder?«
Gabrielle Gesichtszüge glätteten sich und sie zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, mir ist es ziemlich egal.« Sie öffnete die Tür und ließ das Licht des Nachmittags in den dunklen Club strömen. Als sie zur Tür hinaustrat, murmelte sie leise: »Schwächling«, und knallte die Tür hinter sich zu.
»Schlampe!«, rief Lash hinter ihr her, wohlwissend, dass sie ihn auch dann hätte hören können, wenn er geflüstert hätte. Ohne nachzudenken griff er nach dem Zettel, zerriss ihn in Stücke und warf sie in die Luft. Während die weißen Stücke zu Boden segelten, stürzte er den Rest seines Whiskeys hinunter und knallte das Glas auf den Tisch, dass es zerbrach.
Verdammter menschlicher Körper und dessen Schmerzempfinden. Er zuckte zusammen, als er seine Faust öffnete, um Glassplitter aus seiner Handfläche zu pflücken. Blut quoll hervor und tropfte auf den Tisch.
»Süßer, bist du – ach herrjeh, du blutest ja!«, sagte eine Frau mit gedehnter Stimme. Sie lief hinüber zur Bar und kam mit einem Geschirrtuch zurück. »Wickel dir das hier um die Hand.«
Lash entriss ihr das Tuch. Er war wütend, weil Gabrielle ihn überlistet hatte.
»Hey!«, rief die Frau. »Du musst nicht so gemein sein.«
Lash sah auf und blickte in ein Paar grüner Augen, die denen Gabrielles nicht unähnlich waren, nur viel freundlicher. Sie schnappte nach Luft.
»Du bist wunderschön«, murmelte sie fasziniert. »Kann ich dir irgendwas bringen?«
Lash grinste. In ihrer menschlichen Gestalt wurden alle Engel von den Menschen als umwerfend wahrgenommen, selbst die gefallenen. Zu seinem Glück bemühte sich jede Frau, der er seit seinem Rauswurf begegnet war, um seine Aufmerksamkeit und tat alles, worum er sie bat. Zuerst hatte er das nicht ausnutzen wollen, aber als ihm klar geworden war, dass er auf sich allein gestellt war, musste er von irgendetwas leben. Wunderschöner Körper hin oder her, er musste bekleidet, ernährt und untergebracht werden. Menschen waren so pflegebedürftig.
»Nein, mir geht’s gut«, antwortete Lash, wischte sich die Hand ab und steckte sie in seine Jackentasche. »Es ist nur ein Kratzer.« Er wusste, dass die Wunde in einigen Minuten verheilt sein würde. Das war eine der Fähigkeiten, die er hatte behalten dürfen und die sich über die Jahre als praktisch erwiesen hatten.
»Bist du sicher? Es sah ziemlich übel aus.«
»Ja, ich bin sicher.« Er musterte sie, während sie vorsichtig die Glassplitter aufsammelte und sie in einen Mülleimer in der Nähe warf. In der schummrigen Bar sah sie aus wie eine jüngere Version von Gabrielle. Als sie sich umdrehte, folgten seine Augen den Einstichspuren ihre Arme hinauf. Seine Hand stieß auf ein Plastiktütchen in seiner Tasche und er lächelte. Ihm kam ein Gedanke, wie er es Gebrielle heimzahlen und gleichzeitig ein wenig Spaß haben konnte.
Er schenkte der Frau seinen glühensten Blick. »Wie heißt du?«
Ihre Augen verdunkelten sich. »Megan«, sagte sie atemlos.
Er lehnte sich vor und schob ihr eine Strähne blonden Haars hinters Ohr. »Hast du Lust auf ein bisschen Spaß?«
Lash konzentrierte sich auf auf den Druck, der sich in seinem Magen anstaute. Sein Körper bewegte sich vor und zurück. Er genoss das Glühen auf der Haut – es war die einzige Art von Wärme, die ihm eine Ruhepause von der Taubheit der letzten fünfunddreißig Jahre verschaffen konnte.
Anfangs hatte er das Leben unter den Menschen für ein Abenteuer gehalten. Er war wirklich neugierig gewesen, wie es sich anfühlte, sich auf der anderen Seite zu befinden. Er hatte gedacht, man würde ihm vergeben und ihn wieder in die Gemeinschaft aufnehmen. Es war ja nicht so, als ob er eine Todsünde begangen hätte oder so was. Aber Monate waren zu Jahren geworden und Jahre zu Jahrzehnten. Als ihm klar geworden war, dass er nie nach Hause zurückkehren würde, war ihm alles egal geworden.
Er schloss fest die Augen und versuchte, den zufriedenen Ausdruck auf Gabrielles Gesicht in dem Moment, als er verstoßen worden war, auszulöschen, aber er schwelte weiter in seinen Gedanken.
Es störte ihn, dass er so einfach rausgeworfen worden war. Hatten sie nicht anerkannt, wie schwer es für ihn gewesen war, Menschen zu helfen, die so undankbar waren? Es war so weit gekommen, dass viele sich zu dem berechtigt fühlten, was er zu geben hatte. Die Leute glaubten, dass alles was sie tun musssten, war, darum zu bitten und sie würden es erhalten. Ja, es gab Zeiten, in denen er gegen Anordnungen verstoßen hatte, aber letztendlich hatte es sich immer ausgezahlt und seinen Schützlingen war es dadurch besser gegangen. Als es um das kleine Mädchen gegangen war, das es wirklich verdient hatte, zu leben, hatte er aus reinem Instinkt heraus gehandelt. Er war sich sicher gewesen, dass Michael in dieser Sache auf seiner Seite stehen würde. Na, scheiß drauf – und scheiß auf den Job.
Ein Stöhnen lenkte ihn von seinen Gedanken ab und er blickte hinab auf dessen Ursprung. Strähnen künstlich blonden Haars schwangen synchron mit seinen Hüften und streiften seine Oberschenkel. Das Gefühl von feuchter Hitze verschlang ihn, als er schneller in die glitschigen Tiefen ihres Mundes stieß. Er lechzte verzweifelt nach Wärme und nach dem Loslassen der Dunkelheit, die ihn überwältigt hatte.
»Fuck!«, rief er, als der Druck in seinem Innern explodierte. Für diesen kurzen Moment entkam er den unsichtbaren Ketten, die ihn an die Kälte fesselten, und Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Er war wieder zuhause, wandelte unter dem leuchtend blauen Himmel und die Sonne schien ihm aufs Gesicht.
So schnell, wie es gekommen war, verschwand das Gefühl. Ein Frösteln kroch seinen Rücken hinauf und ließ ihn schaudern. Plötzlich überfiel ihn der Gestank von verfaulten Eiern und Urin und er riss die Augen auf. Er befand sich wieder in dem Drecksloch, das jetzt sein Leben war. Gestern war es das »Triple Leaf Motel« gewesen; heute war es das »The Lucky Seven Inn«. Sie waren alle gleich. So wie die Frauen, die ihm halfen, alldem zu entkommen, selbst wenn es nur für einen Augenblick war.
Grüne Augen sahen zu ihm auf. Er stellte sich vor, dass es ihr Gesicht war, dasjenige, dass ihn zu dem Schicksal verdammt hatte, weitab von Familie und Freunden auf Erden zu wandeln. »Schluck’s runter.«
Megan schluckte, stand dann langsam auf und rieb ihren dünnen, nackten Körper an seinem. »Komm schon, Baby, gib mir ’nen Schuss.«, schnurrte sie.
Er griff nach seiner Jeans, zog ein Tütchen voller klarer Kristalle heraus und warf es ihr zu.
Sie kreischte auf und lief zur anderen Seite des Zimmers, wo ihre Handtasche lag. Sie schüttete den Inhalt auf den Boden, was ein Gewimmel an Schaben dazu brachte, Deckung zu suchen.
Lash ging zur Küche, wenn man das in einer Einzimmerwohnung so nennen konnte. Er goss sich ein Glas Whiskey ein, während er Megan beobachtete. Mit der Präzision einer Chirurgin bewegten sich ihre Hände. Sie hielt mit der einen Hand ein Feuerzeug unter einen rostigen Löffel und in der anderen eine Kanüle.
Für einen kurzen Moment regten sich Schuldgefühle in seinem Gewissen.
»Oh, Baby, das hier ist verdammt gutes Zeug!« Sie löste die Bandage von ihrem Arm, kroch ins Bett und sah ihn verführerisch an. »Warum leistest du mir nicht Gesellschaft?«
Im gedämpften Licht sah er einen Abglanz der Schönheit, die sie einst gewesen war. Es war offensichtlich, dass ihre Drogenabhängigkeit ihren Tribut gefordert hatte – ihr Haar hing kraftlos und fettig herunter und ihre Haut war bleich. Nadelzerstochene Arme streckten sich ihm entgegen. »Komm her. Ich helf dir.«
»Ich würde viel mehr als das brauchen, um auch nur den kleinsten Kick zu fühlen.« Er sammelte ihre Kleider vom Boden auf und warf sie ihr zu. »Zieh die an.«
Sie zog sich ein ausgeleiertes, dunkelrotes T-Shirt über den Kopf. »Wieso das denn? Bist du so ’ne Art Supermensch oder so?«
Er schnaubte. »Wenn ich dir was zeige, versprichst du, es für dich zu behalten?«
Sie kroch an die Bettkannte. »Ich schwöre es bei meinem Leben.« Sie machte das Zeichen eines Kreutzes über der linken Seite ihres Oberkörpers.
Lash grinste und trat einen Schritt zurück. Er ließ die Arme an seine Seite fallen, die Handflächen nach oben gerichtet, und entspannte seine Schultern. Dann presste er.
Das Mädchen keuchte auf, als das Geräusch zerreißender Haut erklang.
»Was machst du da?«, rief sie, als Blutstropfen zu Boden fielen.
Er lächelte. »Warte. Da kommt noch mehr.«
Ihre Augen weiteten sich, als sich zwei weiße Objekte hervorschoben, die sich über die Länge seines Rückens erstreckten. Er presste ein letztes Mal und sie entfalteten sich.
»Was zum…« Sie rieb sich die Augen. »Scheiße! Du bist ein Engel.«
Sie fuhr hoch, als es jemand an der Tür klopfte.
»Lahash, ich bin es, Raphael. Öffne die Tür. Ich weiß, dass du da drinnen bist.«
»Geh weg!«, knurrte Lash.
Die Tür schwang auf und Raphael trat ein. Kalte blaue Augen starrten Lash zornig an. »Ich habe genug von deinem Unsinn, Lahash.«
»Oh Gott«, sagte Megan und ihre Augen weiteten sich. »Bist du Er? Bist du –« – sie schluckte – »Gott?«
Raphael blickte herab auf das halbnackte Mädchen. Seine Augen wurden sanft. »Wie ist dein Name, mein Kind?«
»Megan.« Glasige Augen sahen ihn ehrfürchtig an.
Lash machte einen Schritt nach vorn. »Raphael, du hast kein –«
»Ich weiß, was du sagen willst. Und du irrst dich. I habe sehr wohl das Recht, hier zu sein.« Raphaels Lippen pressten sich zu einer dünnen Linie zusammen, als er zwischen Lashs Flügeln und Megans schockiertem Gesicht hin- und hersah. »Du hättest dich vor ihr nicht so zeigen sollen. Es wird nur eine Belastung für das arme Mädchen sein.«
»Oh, ich habe Teile von mir gezeigt, von den du nicht einmal träumen könntest.« Lash zog den Reißverschluss seiner Jeans hoch und grinste.
»Was ist mit dir passiert?« Raphael trat einen Schritt nach vorn und sein Gesichtsausdruck wechselte von wütend zu besorgt. »Du hast noch nie mit solcher Verachtung zu mir gesprochen.«
»Fünfunddreißig Jahre sind passiert! Was hast du denn erwartet?« Lash faltete seine Schwingen in seinen Körper und griff nach seinem Hemd. »Sie wird wahrscheinlich denken, es ist ein Teil ihres Trips.« Um ihretwillen hoffte er, dass sie sich an nichts erinnern würde. Raphael hatte Recht – er hätte sie nie hierher bringen sollen. Er hatte allerdings nicht vor, das ihm gegenüber zuzugeben. Gabrielle mochte diejenige gewesen sein, die seinen Rauswurf veranlasst hatte, aber bis jetzt hatte er nichts von seinem sogenannten Freund gehört.
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