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Kitabı oku: «Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen», sayfa 47

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Die Sage von Westgötland

Sonntag, 9. Oktober

Die Wildgänse hatten Bohuslän verlassen und verbrachten die Nacht auf einem Sumpf in Westgötland. Um im Trocknen zu sein, war der kleine Nils Holgersson auf einen Grabenrain hinaufgekrochen, der quer über die sumpfige Wiese hinlief. Er suchte noch nach einem trockenen Platz, wo er sich zum Schlafen niederlegen könnte, als er eine kleine Schar Menschen des Weges daherkommen sah. Es war eine junge Lehrerin mit etwa einem Dutzend Kinder um sich her. Die Lehrerin in der Mitte, schritten sie in einem dichten Trüpplein unter fröhlichem und vertraulichem Geplauder frisch drauf los, und der Junge konnte der Lust nicht widerstehen, eine Strecke weit hinter ihnen herzulaufen, um zu hören, wovon sie miteinander sprachen.

Und diese Absicht konnte er leicht ausführen; wenn er sich im Schatten am Wegrand hielt, konnte ihn unmöglich jemand sehen. Und wo fünfzehn Menschen gingen, machte das Geräusch ihrer Fußtritte einen ordentlichen Lärm; da konnte sicher niemand den Kies unter seinen kleinen Holzschuhen knirschen hören!

Um die Kinder auf dem Wege in guter Laune zu erhalten, erzählte ihnen die Lehrerin alte Sagen. Als der Junge sich der Schar anschloß, war sie eben mit einer fertig geworden, aber die Kinder bettelten sogleich um eine neue.

„Habt ihr denn die Geschichte von dem alten Riesen in Westgötland schon gehört, der auf eine Insel weit droben im nördlichen Eismeer gezogen war?“ fragte die Lehrerin. Nein, die hätten sie noch nie gehört, riefen die Kinder; und die Lehrerin begann:

„In einer dunkeln, stürmischen Nacht scheiterte einstmals ein Schiff an einer kleinen Schäre weit droben im nördlichen Eismeer. Das Schiff zerschellte an den Klippen, und von der ganzen Besatzung konnten sich nur zwei Mann ans Land retten. Tropfnaß und von Kälte erstarrt, standen sie auf der kleinen Felseninsel und waren natürlich überaus froh, als sie am Ufer ein großes Feuer lodern sahen. Ohne an eine Gefahr zu denken, eilten sie darauf zu; und erst als sie ganz nahe herangekommen waren, sahen sie, daß vor dem Feuer ein fürchterlich großer Hüne saß, ja, es war ein so großer und starker Mann, daß sie keinen Augenblick im Zweifel sein konnten, mit wem sie da zusammengetroffen waren, nämlich mit einem Mann aus dem Riesengeschlecht.

Zögernd blieben sie stehen; aber der Nordwind fuhr mit furchtbarer Eiseskälte über die Schäre hin, und sie fühlten wohl, daß sie erfrieren müßten, wenn sie sich nicht an dem Feuer des Riesen wärmen dürften. Deshalb beschlossen sie, sich zu dem Riesen hinzuwagen.

‚Guten Abend, Vater,‘ sagte der ältere von den beiden. ‚Wollt Ihr zwei schiffbrüchigen Seeleuten erlauben, sich an Eurem Feuer zu wärmen?‘

Der Riese fuhr jäh aus seinen Gedanken auf; er reckte sich und zog sein Schwert aus der Scheide.

‚Was seid denn ihr für Gesellen?‘ fragte er, denn er war alt und konnte nicht mehr gut sehen, was das für Geschöpfe waren, die ihn angeredet hatten.

‚Wir sind beide aus Westgötland, wenn Ihr es wissen wollt,‘ antwortete der ältere von den beiden Seeleuten. ‚Unser Schiff ist hier in der Nähe gescheitert, und wir haben uns nun halbnackt und halberfroren ans Land gerettet.‘

‚Ich lasse mich sonst auf meiner Schäre mit den Menschen nicht in ein Gespräch ein; wenn ihr aber aus Westgötland seid, ist es etwas andres,‘ sagte der Riese und steckte sein Schwert wieder in die Scheide. ‚Dann dürft ihr euch hier niedersetzen und euch wärmen, denn ich stamme selbst aus Westgötland und habe dort viele Jahre lang in dem großen Hügel bei Skalunda gewohnt.‘

Die Seeleute setzten sich auf einen Felsblock. Sie wagten den Riesen nicht anzureden und sahen ihn deshalb nur schweigend an. Aber je länger sie ihn betrachteten, desto größer erschien er ihnen, und desto kleiner und schwächer fühlten sie sich selbst.

‚Meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher,‘ sagte der Riese, ‚und ich kann euch kaum unterscheiden; ich hätte mich sonst gefreut, zu sehen, wie ein Westgöte heutigentags aussieht. Einer von euch reiche mir indes wenigstens die Hand, damit ich fühle, ob es noch warmes Blut in Schweden gibt.‘

Die Männer betrachteten zuerst die Hände des Riesen und dann ihre eignen. Keiner der beiden hatte Lust, den Händedruck des Riesen kennen zu lernen. Aber dann fiel ihr Blick auf einen eisernen Spieß, den der Riese zum Anfachen seines Feuers benützte. Er war im Feuer liegen geblieben und an dem einen Ende glühend rot. Mit vereinten Kräften hoben die beiden Männer die Stange auf und streckten sie dem Riesen hin. Er ergriff den Spieß und preßte die Hand so fest darum, daß ihm das Eisen zwischen den Fingern herausquoll.

‚O ja, ich merke wohl, es gibt noch heißes Blut in Schweden,‘ sagte er ganz vergnügt zu den verblüfften Seeleuten.

Dann wurde es wieder still um das Feuer her; aber diese Begegnung mit Landsleuten führte die Gedanken des Riesen zurück nach Westgötland, und eine Erinnerung nach der andern tauchte vor seiner Seele auf.

‚Ich möchte wohl wissen, wie es jetzt am Skalundaer Hügel aussieht?‘ fragte er die beiden Männer.

Keiner von ihnen wußte etwas von dem Hügel, nach dem der Riese fragte.

‚Er wird wohl seither tüchtig zusammengesunken sein‘, antwortete der eine zögernd. Er hatte das Gefühl, einem solchen Fragesteller dürfe man keine Antwort schuldig bleiben.

‚Freilich, freilich, ich habe es mir wohl gedacht,‘ erwiderte der Riese mit einem zustimmenden Kopfnicken. ‚Man kann auch nichts andres erwarten, denn diesen Hügel haben meine Frau und meine Tochter einmal am frühen Morgen in einer Stunde in ihren Schürzen zusammengetragen.‘

Wieder grübelte er nach und suchte in seinen Erinnerungen. Er hatte ja Westgötland nicht erst vor kurzem verlassen, und es dauerte eine Weile, bis er zu diesen Erinnerungen hindurchgedrungen war.

‚Aber der Kinnekulle und Billinge und die andern kleinern über die große Ebene verstreuten Berge stehen doch wohl noch?‘ fragte er wieder.

‚Jawohl, die stehen noch,‘ antwortete der Seemann; und um dem Riesen zu zeigen, daß er ihn für einen tüchtigen Mann halte, fuhr er fort: ‚Ihr habt wohl beim Errichten von diesen Bergen mitgeholfen?‘

‚Nein, das gerade nicht,‘ sagte der Riese. ‚Aber soviel kann ich dir sagen, meinem Vater habt ihr es zu verdanken, daß diese Berge noch dastehen. Als ich noch ein kleiner Bursche war, gab es in Westgötland keine große Ebene, sondern da, wo jetzt die Ebene sich ausbreitet, lag eine Felsengegend, die sich vom Wettersee bis zum Götaälf erstreckte. Aber dann nahmen sich ein paar Flüsse vor, sich ihr Bett durch das Gebirge hindurchzugraben und bis zum Wenersee hinunterzufließen. Das Gebirge bestand nicht aus richtigem Granit, sondern aus Kalkstein und Schiefer, deshalb konnten es die Flüsse leicht auswaschen. Ich erinnere mich noch, daß sie das Flußbett und die Täler breiter und immer breiter machten und schließlich zu wahren Ebenen ausweiteten. Mein Vater nahm mich manchmal mit, wenn er hinging und sich die Arbeit der Flüsse ansah, und der Vater war nicht so recht damit einverstanden, daß die Flüsse das ganze Gebirge zerstörten.

‚Ein paar Ruheplätze könnten sie uns wenigstens noch übrig lassen,‘ sagte er, und zugleich zog er seine steinernen Schuhe aus und stellte den einen ganz im Westen und den andern ganz im Osten des Gebirges auf. Seinen steinernen Hut legte er auf eine Felskuppe am Wenersee, meine steinerne Mütze schleuderte er etwas weiter gen Süden, und seine steinerne Keule schickte er in derselben Richtung hinterdrein.

Was wir sonst noch von guten, harten Steinen bei uns hatten, legte er an verschiedenen Orten nieder. Die Flüsse spülten dann allmählich das ganze Gebirge weg, aber an den Stellen, die mein Vater mit seinen steinernen Sachen bedeckt hatte, wagten sie nicht zu rühren, und so blieben sie stehen. Da, wo mein Vater seinen einen Schuh hingestellt hat, ist unter dem Absatz der Halleberg und unter der Sohle der Hunneberg stehen geblieben. Unter dem andern Schuh ist Billinge erhalten, Vaters Hut hat den Kinnekulle bewahrt, unter meiner Mütze liegt der Mösseberg, und unter der Keule birgt sich Ålleberg. Alle andern kleinen Berge der westgötischen Ebene sind auch meinem Vater zuliebe verschont worden, und ich möchte wissen, ob es in Westgötland noch viele Männer gibt, vor denen die Leute soviel Respekt haben wie einst vor meinem Vater?‘

‚Das ist nicht leicht zu beantworten,‘ sagte der Seemann. ‚Wenn aber in Eurer Zeit die Flüsse und Riesen so allmächtig gewesen sind, dann bekomme ich ordentlich vermehrte Achtung vor den Menschen; denn jetzt sind sie ganz allein die Herren über die Ebene und das Gebirge.‘

Der Riese rümpfte die Nase ein wenig, und er schien mit der Antwort nicht so recht zufrieden zu sein; aber schon nach einer kleinen Weile knüpfte er das Gespräch wieder an. ‚Wie steht es denn gegenwärtig mit dem Trollhätta?‘ fragte er.

‚Er rauscht und donnert wie von jeher,‘ antwortete der Seemann. ‚Habt Ihr vielleicht gerade wie bei der Erhaltung der Westgötaberge auch mitgeholfen, den großen Wasserfall herzustellen?‘

‚O nein, das nicht gerade,‘ erwiderte der Riese. ‚Aber als ich noch ein kleiner Knirps war, benutzten mein Bruder und ich die Fälle noch als Rutschbahn. Wir stellten uns auf einen Balken, und hui! dann ging es den Gullöfall und Toppöfall und die drei andern Fälle hinunter! Wir kamen so rasch dahergesaust, daß wir beinahe bis zum Meer hingerutscht wären. Ob es wohl heutzutage in Westgötland auch noch jemand gibt, der sich auf solche Weise ergötzt?‘

‚Das kann ich nicht sagen,‘ antwortete der Seemann. ‚Aber ich glaube fast, es ist eine ebenso wunderbare Leistung, daß wir Menschen dem Trollhätta entlang einen Kanal gebaut haben, auf dem wir nicht allein wie Ihr in Euren jungen Jahren den Trollhätta hinunter, sondern ihn auch mit Booten und Dampfschiffen hinauffahren können.‘

‚Das ist allerdings sehr merkwürdig,‘ versetzte der Riese; und es war fast, als habe ihn die Antwort ein wenig verdrossen. ‚Kannst du mir nun auch noch sagen, wie es in der Gegend am Mjörnsee aussieht, die früher das Hungerland genannt wurde?‘

‚O ja, die Gegend hat uns allen viel Kummer und Kopfzerbrechen gemacht,‘ antwortete der Westgöte. ‚Habt Ihr vielleicht mitgeholfen, sie so mager und trostlos anzulegen?‘

‚O nein, das nicht gerade,‘ sagte der Riese wieder. ‚Zu meiner Zeit hat ein prächtiger Wald dort gestanden. Aber als eine meiner Töchter Hochzeit machte, brauchten wir sehr viel Holz, um den Backofen zu schüren; da nahm ich ein langes Seil, schlang es um den ganzen Hungerländer Wald herum, riß ihn mit einem einzigen Ruck heraus und trug ihn nach Hause. Ich möchte wissen, ob es heutigentags noch jemand gäbe, der einen ganzen Wald auf einmal herausreißen könnte?‘

‚Das wage ich nicht zu behaupten,‘ sagte der Westgöte. ‚Aber das weiß ich, daß in meiner Jugend das Hungerland kahl und unfruchtbar dalag, während es jetzt ganz mit Wald bedeckt ist. Das halte ich nun für eine richtige männliche Tat.‘

‚Nun ja, aber drunten in dem südlichen Westgötland, da können sich doch wohl keine Menschen fortbringen?‘ sagte der Riese.

‚Habt Ihr auch dort bei der Einrichtung des Landes geholfen?‘ rief der Westgöte.

‚O nein, das nicht gerade,‘ versetzte der Riese. ‚Aber ich erinnere mich, wenn wir Riesenkinder dort die Herden hüteten, bauten wir viele steinerne Häuser; und durch alle die Steine, die wir umherwarfen, ist der Boden ganz unbestellbar geworden, deshalb müßte es sehr schwer sein, dort Ackerfelder zu gewinnen.‘

‚Ja, das ist gewißlich wahr; es lohnt sich kaum der Mühe, dort Ackerbau zu treiben,‘ sagte der Westgöte. ‚Aber die Bevölkerung hat sich auf die Herstellung von Holzwaren gelegt; und meiner Ansicht nach beweist es mehr Tüchtigkeit, wenn sich jemand in einer so armen Gegend durchbringt, als wenn er beim Ruinieren des Bodens behilflich ist.‘

‚Jetzt bleibt mir nur noch eine Frage übrig,‘ sagte der Riese. ‚Wie habt ihr euch drunten an der Küste eingerichtet, wo der Götaälf ins Meer fließt?‘

‚Habt Ihr da auch die Hand mit im Spiele gehabt?‘ fragte der Seemann.

‚Das nicht gerade,‘ entgegnete der Riese. ‚Aber, wir gingen vorzeiten oft an den Strand hinunter, lockten uns einen Walfisch heran, setzten uns auf dessen Rücken und ritten durch die Fjorde und Schären. Ich möchte wissen, ob du jemand kennst, der das heute noch tut?‘

‚Das will ich unbeantwortet lassen,‘ erwiderte der Seemann. ‚Aber ich halte es für eine ebenso große Leistung, daß die Menschen an der Mündung des Götaälf eine Stadt gebaut haben, von der Schiffe nach allen Meeren der Erde ausziehen.‘

Hierauf gab der Riese keine Antwort; und der Seemann, der selbst in Göteborg daheim war, beschrieb nun die reiche Handelsstadt mit ihrem großen Hafen, mit ihren Brücken und Kanälen und den prächtigen Straßen; er erzählte auch, es wohnten da sehr viele tüchtige Kaufleute und Schiffer, und es sei durchaus nicht ausgeschlossen, daß sie Göteborg noch zu der ersten Stadt des Nordens machten.

Bei jeder neuen Antwort waren die Runzeln auf der Stirne des Riesen tiefer geworden; daß die Menschen sich so zum Herren über die Natur gemacht hatten, war ihm offenbar unangenehm.

‚Ja ja, es muß sich sehr viel verändert haben in Westgötland,‘ sagte er schließlich, ‚und ich würde am liebsten selbst wieder hinkommen und dies und jenes herstellen.‘

Als der Seemann diese Worte hörte, erschrak er ein wenig; wenn der Riese nach Westgötland käme, geschähe es sicher nicht in guter Absicht. Er ließ sich jedoch nichts anmerken, sondern sagte:

‚Ihr dürft überzeugt sein, daß Ihr festlich empfangen würdet. Euch zu Ehren soll mit allen Kirchenglocken geläutet werden.‘

‚So, es gibt also noch Kirchenglocken in Westgötland?‘ fragte der Riese, als sei er etwas bedenklich geworden. ‚Sind denn die großen Glocken in Husaby, Skara und Varnhem noch nicht zu Tode geläutet?‘

‚O nein, sie sind alle noch da, und seit Eurer Zeit sind viele neue dazugekommen. Jetzt gibt es in ganz Westgötland nicht eine Ortschaft, wo man kein Glockengeläute hörte.‘

‚Nun, dann ist es wohl am besten, ich bleibe, wo ich bin,‘ sagte der Riese. ‚Denn dieser Glocken wegen bin ich ja einst dort weggezogen.‘

Hierauf versank er in Gedanken, wendete sich aber doch bald wieder an die Seeleute. ‚Ihr könnt euch jetzt ganz ruhig am Feuer niederlegen und schlafen,‘ sagte er. ‚Morgen früh will ich dafür sorgen, daß ein Schiff hier vorüberfährt, das euch mitnimmt und in eure Heimat zurückbringt. Aber für die Gastfreundschaft, die ich euch erwiesen habe, verlange ich eine Gefälligkeit von euch. Wenn ihr heimgekehrt seid, sollt ihr zu dem besten Mann in ganz Westgötland gehen und ihm diesen Ring übergeben. Ihr sollt ihn von mir grüßen und ihm ausrichten, wenn er den Ring an seinen Finger stecke, werde er noch viel mehr werden, als er jetzt sei.‘

Sobald die Seeleute zu Hause angekommen waren, gingen sie zu dem besten Mann in Westgötland und übergaben ihm den Ring. Aber der Mann war zu klug, ihn sofort an seinen Finger zu stecken. Statt dessen hängte er ihn an eine kleine Eiche auf seinem Hofe. In demselben Augenblick schoß die Eiche so gewaltig in die Höhe, daß man sie förmlich wachsen sah. Sie trieb Schößlinge und lange Zweige; der Stamm wurde dicker, die Rinde verhärtete sich, der Baum bekam neue Blätter und verlor sie wieder, setzte Blüten und Früchte an und wurde in kurzer Zeit eine so mächtige Eiche, wie man noch nie eine gesehen hatte. Aber kaum war sie ausgewachsen, als sie ebenso schnell zu verwelken begann: die Zweige fielen ab, der Stamm wurde hohl, der Baum siechte hin, bald war nichts mehr von ihm übrig als ein Stumpf.

Da nahm der Mann den Ring und schleuderte ihn weit von sich. ‚Dieses Geschenk des Riesen hat die Macht, einem Manne große Kraft zu verleihen und ihn für kurze Zeit leistungsfähiger als alle andern zu machen,‘ sagte er. ‚Aber der Besitzer würde sich auch in ganz kurzer Zeit überanstrengen, und dann wäre es bald aus mit seiner Tüchtigkeit und seinem Glück. Ich will nichts damit zu tun haben, und ich hoffe nur, niemand wird den Ring finden, denn er ist uns nicht in guter Absicht geschickt worden.‘

Aber es ist eben doch möglich, daß der Ring gefunden worden ist. So oft sich ein Mensch, in dem Bestreben, andern Gutes zu tun, über seine Kräfte anstrengt, möchte man unwillkürlich fragen, ob er am Ende den Ring gefunden habe, und ob dieser es sei, der ihn zwingt, so zu schaffen und zu wirken, daß er sich vor der Zeit abnützt und sein Werk unvollendet verlassen muß.“

Der Gesang

Die Lehrerin war, während sie erzählte, mit raschen Schritten vorwärts gegangen, und als sie ihre Geschichte beendigt hatte, war sie mit den Kindern beinahe an ihrem Ziel angelangt. Dort tauchten schon die Wirtschaftsgebäude auf, die, wie alles andre auf dem Gute, von prächtigen Bäumen beschattet dalagen, und noch ehe sie daran vorübergekommen war, sah sie das Schloß droben auf der Terrasse hervorschimmern.

Bis zu diesem Augenblick war sie über ihren Einfall sehr glücklich gewesen, und kein zagender Gedanke war in ihr aufgestiegen; aber jetzt, beim Anblick des Hofes, begann ihr der Mut zu sinken. Wie, wenn das, was sie vorhatte, nun ganz verkehrt wäre? Wer kümmerte sich denn wohl um ihre Dankbarkeit? Vielleicht würde man sie nur auslachen, wenn sie jetzt am späten Abend noch mit ihren Schulkindern daherkäme? Und sie alle miteinander konnten gewiß auch gar nicht so schön singen, daß sich jemand etwas aus dem Gesang machen würde!

Sie ging langsamer, und als sie die Stufen erreichte, die zur Schloßterrasse führten, bog sie vom Wege ab und stieg diese Treppe hinan. Seit dem Tode des alten Herrn stand zwar das große Schloß leer, das wußte sie sehr wohl; sie ging auch nur hinauf, um Zeit zum Überlegen zu gewinnen, ob sie weitergehen oder umkehren solle. Als sie die Treppe erstiegen hatte und das im Mondschein blendend hell schimmernde Schloß vor sich liegen sah, als sie die Hecken und Blumenbeete, die Brustwehr und die Urnen und die majestätische Freitreppe sah, wurde ihr immer ängstlicher zumute. Ach, hier war alles so vornehm und prachtvoll; nein, hier hatte sie gewiß nichts zu tun! „Komm mir nicht zu nahe!“ schien ihr das schöne weiße Schloß zuzurufen. „Du wirst dir doch nicht einbilden, du und deine Schulkinder könnten einem Manne, der an einem solchen Orte zu wohnen gewöhnt ist, irgendeine Freude bereiten?“

Um diese Unschlüssigkeit, die sie allmählich ganz beherrschte, zu verscheuchen, erzählte die Lehrerin ihren Schulkindern die Geschichte von dem alten und dem jungen Herrn, gerade so, wie sie sie selbst einst als Schülerin auf Nääs gehört hatte. Und dies hob ihren Mut wieder ein wenig. Es war ja doch wahr, daß das Schloß und das ganze Gut dem Slöjdseminar geschenkt worden waren. Jawohl geschenkt, damit Lehrer und Lehrerinnen eine glückliche Zeit auf dem schönen Gute verleben und danach ihren Schulkindern Kenntnisse und Freude mit nach Hause bringen könnten! Aber wenn diese beiden Herren der Schule ein solches Geschenk gemacht hatten, so war doch dadurch der Beweis geliefert, wie hoch sie die Lehrer schätzten! Dadurch hatten sie klar und deutlich gezeigt, daß sie die Erziehung der schwedischen Kinder für viel wichtiger hielten als alles andre. Nein nein, gerade hier dürfte sie sich am allerwenigsten niedergeschlagen fühlen, redete sich die Lehrerin selbst zu.

Diese Gedanken trösteten sie auch wirklich ein wenig, und sie wollte ihren Plan jetzt doch ausführen. Um ihren Mut zu stärken, schlug sie den Weg durch den Park ein, der sich vom Schloßhügel zum See hinunter erstreckte. Während sie unter diesen schönen Bäumen dahinschritt, die im Mondschein dunkel und geheimnisvoll hoch aufragten, erwachten viele frohe Erinnerungen in ihrem Herzen. Sie erzählte den Kindern, wie es zu ihrer Zeit auf Nääs gewesen war und wie glücklich sie sich hier als Schülerin gefühlt hatte, wo sie jeden Tag in dem schönen Park hatte spazieren gehen dürfen. Sie erzählte von frohen Festen, von Spiel und Arbeit, aber vor allem von der großen Güte, die die Tore des schönen Herrenhofs für sie und für so viele andere geöffnet hatte.

Auf diese Weise gelang es ihr, wieder Mut zu fassen, und sie ging wirklich durch den Park und über die alte steinerne Brücke und erreichte endlich die Wiesen am See drunten, wo die Villa des Vorstehers mitten zwischen den Schulgebäuden stand.

Dicht bei der Brücke war der grüne Spielplatz, und als sie daran vorübergingen, erzählte die Lehrerin den Kindern, wie schön es hier an den Sommerabenden gewesen sei, wenn der Rasen von hellgekleideten Menschen wimmelte und Singspiele und Ballspiele einander ablösten. Sie zeigte den Kindern das Vereinshaus, in dem der Versammlungssaal war, das Seminar, wo die Vorträge gehalten wurden, die Häuser, wo die Slöjdsäle und der Turnsaal untergebracht waren. Die Lehrerin ging rasch und sprach unaufhörlich, wie um gar keine Zeit zum Ängstlichwerden zu haben. Aber als sie schließlich so weit gekommen war, daß sie die Villa des Vorstehers sehen konnten, hielt sie jäh an.

„Hört, Kinder, ich glaube, wir wollen nicht weitergehen,“ sagte sie. „Es ist mir früher gar nicht eingefallen, daß der Vorsteher vielleicht so schwer krank ist, daß ihm unser Gesang schaden könnte, und es wäre furchtbar, wenn er dadurch noch kränker würde.“

Der kleine Nils Holgersson war die ganze Zeit neben der Schar hergegangen und hatte alles gehört, was die Lehrerin erzählte. Er wußte also, daß sie ausgezogen waren, um jemand, der drüben in der Villa krank lag, einige Lieder zu singen. Und nun sollte aus dem Gesange nichts werden, weil der Kranke möglicherweise dadurch beunruhigt und aufgeregt werden könnte!

„Wie schade, wenn sie wieder umkehrten, ohne gesungen zu haben!“ dachte er. „Sie könnten ja doch leicht erfahren, ob der Kranke drinnen das Zuhören ertragen kann. Warum geht denn die Lehrerin nicht hin zu der Villa und erkundigt sich?“

Aber dieser Gedanke schien der Lehrerin gar nicht zu kommen, sie kehrte vielmehr um und trat langsam den Heimweg an. Die Schulkinder machten ein paar Einwendungen, aber sie beschwichtigte sie. „Nein, nein,“ sagte sie. „Es war ein dummer Einfall von mir, daß ich jetzt so spät am Abend noch hierher wanderte, um zu singen. Wir würden nur stören.“

Da dachte Nils Holgersson, wenn keines von den andern es tun wolle, dann müsse er jetzt hingehen und zu erfahren suchen, ob der Kranke wirklich zu schwach sei, ein Lied anzuhören. Rasch lief er von der Schar weg und aufs Haus zu. Vor der Villa hielt eben ein Wagen, und neben den Pferden stand ein alter Kutscher. Der Junge war kaum bis zum Hauseingang hingelangt, als die Tür aufging und ein Mädchen mit einem Servierbrett heraustrat.

„Sie werden wohl noch eine Weile auf den Herrn Doktor warten müssen, Larsson,“ sagte sie. „Die gnädige Frau schickt Ihnen hier indessen zur Stärkung etwas Warmes.“

„Wie geht es dem Herrn?“ fragte der Kutscher.

„Er hat jetzt keine Schmerzen mehr, aber es ist, als stehe das Herz still. Schon seit einer Stunde liegt er ganz regungslos da. Wir wissen kaum, ob er noch lebt.“

„Gibt der Doktor keine Hoffnung?“

„Es kann gehen, wie es will, Larsson, ja es kann gehen, wie es will. Es ist, als lausche er immerfort auf einen Ruf. Kommt dieser Ruf von oben, so muß er ihm folgen.“

Nils Holgersson lief rasch den Weg hinunter, um die Lehrerin und die Kinder einzuholen; das Sterben seines Großvaters fiel ihm ein. Der Großvater war Seemann gewesen, und ganz zuletzt noch hatte er gebeten, man solle das Fenster aufmachen, damit er den Wind noch einmal rauschen höre. Wenn nun der Kranke dort drüben mit so großer Vorliebe im Kreise der Jugend geweilt hatte und ihren Liedern und Spielen so gerne zuhörte …

Die Lehrerin ging unschlüssig die Allee hinunter. Jetzt, wo sie von Nääs wegging, war es ihr, als müsse sie wieder umkehren; vorhin aber war sie auch wieder umgekehrt. Ach, sie war noch immer gleich ängstlich und unsicher!

Sie sprach nicht mehr mit den Kindern, sondern ging schweigend ihres Weges dahin. In der Allee war so tiefer Schatten, daß sie nicht sehen konnte; aber es war ihr, als höre sie viele, viele Töne um sich her, und von allen Seiten drangen unzählige ängstliche Stimmen auf sie ein. „Wir sind gar so weit weg, alle wir andern,“ sagten die Stimmen. „Du aber bist ganz nahe. Geh und sing ihm vor, was wir alle fühlen!“

Und sie erinnerte sich an einen nach dem andern, denen der Vorsteher geholfen und für die er gesorgt hatte. Übermenschlich hatte er sich angestrengt, um allen Bedürftigen zu helfen. „Geh und sing ihm!“ flüsterte es um die Lehrerin her. „Laß ihn nicht sterben, ohne einen letzten Gruß von seiner Schule! Denke nicht, du seist gering und unbedeutend! Denk an die große Schar, die hinter dir steht! Gib ihm zu verstehen, ehe er von uns geht, wie innig wir ihn lieben!“

Die Lehrerin ging immer langsamer. Da hörte sie plötzlich einen Ton, der mit den Stimmen und mahnenden Rufen in ihrer Seele nichts zu tun hatte, sondern aus der äußern Welt um sie her an ihr Ohr drang. Es war keine gewöhnliche menschliche Stimme, es klang wie das Zwitschern eines Vogels, oder wie das Zirpen einer Heuschrecke. Aber es rief doch ganz deutlich, sie solle wieder umkehren.

Und mehr brauchte es nicht, um der kleinen Lehrerin den Mut zurückzugeben. –

Die Lehrerin und die Kinder hatten vor den Fenstern des Vorstehers ein paar Lieder gesungen, und selbst die Lehrerin meinte, der Gesang habe in dieser Abendstunde wunderbar schön geklungen; es war gewesen, wie wenn unbekannte Stimmen mitgesungen hätten. Der ganze Himmelsraum war wie von Tönen und Lauten erfüllt gewesen. Sie hatten den Gesang nur anzustimmen brauchen, da waren alle diese Töne erwacht und hatten mit eingestimmt.

Jetzt öffnete sich plötzlich die Haustür, und jemand trat rasch heraus. „Nun kommen sie, mir zu sagen, ich solle aufhören,“ dachte die Lehrerin. „Wenn es ihm nur nicht geschadet hat!“

Aber das war nicht der Fall. Sie wurde gebeten, ins Haus hereinzukommen, sich etwas auszuruhen und dann noch ein paar Lieder zu singen.

Auf der Treppe trat ihr der Doktor entgegen. „Für diesmal ist die Gefahr vorüber,“ sagte er. „Er hatte in einer Art Betäubung gelegen, und das Herz schlug immer langsamer. Aber als Sie zu singen anfingen, war es, als wenn er einen Ruf vernommen hätte von allen, die seiner noch bedürfen. Er fühlte, daß die Zeit, wo er von seiner Arbeit ausruhen darf, noch nicht angebrochen sei. Singen Sie ihm noch mehr und freuen Sie sich, denn ich glaube, Ihr Gesang hat ihn ins Leben zurückgerufen. Jetzt dürfen wir ihn vielleicht noch ein paar Jahre behalten.“