Kitabı oku: «VIRUS – Im Fadenkreuz»

Yazı tipi:

Lars Hermanns

VIRUS – Im Fadenkreuz

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

ENDE

Impressum neobooks

Prolog

Es war ein schöner Donnerstag am 26. September 2019. Draußen waren es milde zwanzig Grad Celsius, und niemand konnte ahnen, was sich just in diesem Moment in Berlin für Gewitterwolken zusammenbrauten.

Der Abteilungsleiter, der von allen bloß »Odysseus« genannt wurde, saß in seinem kargen Büro, das ohne jeden Schmuck eingerichtet war und lediglich eine Aussicht auf den Ostberliner Fernsehturm bot. Der Schreibtisch war übersät von Akten, und ein Porträt mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel schien dem Abteilungsleiter stets über die Schulter zu blicken.

Odysseus, dessen wahrer Name bloß der Personalabteilung bekannt war, blickte aus dem Fenster und war in Gedanken weit in der Vergangenheit versunken. Damals, vor dreißig Jahren, als die Welt noch in Ordnung war. Damals, als er mit dreißig Jahren noch jung und sportlich fit war, hatte man seine Feinde noch gekannt. Der KGB war sein ärgster Gegenspieler gewesen. Man kannte sich, man fürchtete sich – und man hatte keinerlei Skrupel, dem Gegenspieler mitunter tödliche Lektionen zu erteilen. Doch dies alles fand im Dezember 1989 ein jähes Ende, als der damalige sowjetische Staatspräsident Michail Sergejewitsch Gorbatschow auf Malta den neuen US-Präsidenten George Herbert Walker Bush traf und das Ende des Kalten Krieges einleitete. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 fand auch der Kalte Krieg ein Ende.

Seit diesen Tagen waren die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwommen.

Ja, man hatte noch immer mit ausländischen Geheimdiensten zu tun, und gelegentlich spionierte man sogar seine Verbündeten aus, doch das klassische Feindbild war verschwunden. Mehr und mehr bekam man es nicht mehr bloß mit anderen Staaten zu tun; vor allem terroristische Vereinigungen rückten verstärkt in den Fokus des Geschehens und ließen liebgewonnene Feinde im Hintergrund verschwinden.

Es war an der Zeit, diese Missverhältnisse wieder ein wenig zurechtzurücken.

Wo bleibt bloß Schmitt, fragte sich Odysseus, als es bereits an der Tür klopfte und ein kahlköpfiger Mann das Büro betrat, der genauso groß wie Odysseus, jedoch zehn Jahre jünger und ein wenig schlanker war.

Der inzwischen weißhaarige Odysseus drehte sich missmutig herum und fragte, ohne seinen Gast zu begrüßen: »Sind Sie fündig geworden?«

»Ja, das bin ich«, antwortete Schmitt, dessen wahrer Name ebenfalls geheim war, und setzte sich auf den freien Stuhl gegenüber von Odysseus‘ Schreibtisch. In seinen Händen trug er eine altmodische Akte.

»Und?«, fragte Odysseus ungeduldig nach. »Mensch, lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen!«

Schmitt antwortete in einem gewohnt ruhigen Ton: »Ich bin die Namen der vielversprechendsten Agenten durchgegangen und auf einen gestoßen, der für unsere kleine Mission geeignet erscheint: Jung, gutaussehend, schwarzer Gürtel in Judo, Jahrgangsmeister im Kickboxen, ausgebildeter Scharfschütze und Sprengstoffexperte. Spricht neben Deutsch noch Englisch und Russisch.«

»Angehörige?«

»Nur die Eltern. Doch die sind wohl kein Hindernis.«

»Keine Beziehung?«

»Keine, die uns bekannt wäre. Und wir sind da bekanntlich sehr gewissenhaft.«

»Sehr gut!« Odysseus nahm nun ebenfalls am Schreibtisch Platz. »Zeigen Sie mir die Akte.«

Schmitt tat, wie ihm geheißen, und beobachtete sein Gegenüber. Er wusste, dass Odysseus früher Agent im Außeneinsatz gewesen war und während des Kalten Krieges nicht wenige Mitarbeiter des KGB hatte verschwinden lassen. Später hatte man den heutigen Abteilungsleiter damit betraut, zusammen mit der CIA und dem MI6 den Austausch von Agenten durchzuführen, und Schmitt wusste, dass sein Vorgesetzter diese Zeiten vermisste.

Odysseus begutachtete die Akte gewissenhaft, und es dauerte einige Minuten, ehe er endlich aufblickte und sagte: »Sehr gute Arbeit, Schmitt!«

Schmitt nickte bloß.

»Das wird der perfekte Köder werden. Jetzt brauchen wir nur noch einen Zivilisten, um alles in Gang zu bringen.«

»An welche Stadt haben Sie gedacht?«

»Frankfurt, Schmitt. Das Wirtschafts- und Finanzzentrum.«

»Gut, ich werde unsere Leute dort informieren.«

»Nein! Das werden Sie nicht tun, Schmitt.« Odysseus schüttelte leicht den Kopf und betrachtete das Foto, das der Agentenakte zuoberst angebracht war. »Das soll unser Agent tun. Es ist wichtig, dass unser Zivilist Vertrauen fasst. Er ist es schließlich, der das Päckchen hier, in Berlin, abliefern soll. Und das wird er wohl nur tun, wenn er entsprechendes Vertrauen hat und nicht ahnt, in was er in Wirklichkeit verwickelt wird.«

Schmitt nickte zustimmend und hörte gespannt weiter zu.

»Lassen Sie alles Weitere vorbereiten – je eher wir beginnen können, desto besser.«

»Was tun wir, wenn es schiefgeht?«

»Schmitt, Sie sind ein Pessimist! Was sollte denn schiefgehen?«

»Unser Agent könnte enttarnt werden.«

»Das ist recht unwahrscheinlich, Schmitt. Schließlich sind wir in unserem eigenen Land. Wie sollte unser Agent da enttarnt werden? Lassen Sie entsprechende Unterlagen und Ausweise vorbereiten, wie wir es besprochen haben.«

»Und der Zivilist?«

»Was soll mit dem sein?«, fragte Odysseus sichtlich genervt.

»Was, wenn er dabei zu Schaden kommt oder gar getötet wird?«

»Wir wissen von nichts, Schmitt! Es darf von ihm keinerlei Verbindung zu uns geben. Sollte er also getötet werden, so waren es unsere Gegenspieler.«

»Ein deutscher Zivilist?«

»Hören Sie doch auf, Schmitt!«, antwortete Odysseus erbost. »Sie waren doch mit dem Plan einverstanden und wussten, dass wir einen Zivilisten benötigen, um die Geschichte glaubwürdig zu gestalten. Kommen Sie mir jetzt also nicht so!«

»Es ist doch nur – könnten wir nicht vielleicht doch ein Zweierteam einsetzen, das den Auftrag übernimmt?«

»Für ein hundertprozentiges Dementi ist es unerlässlich, dass der Bote einwandfrei als Zivilist identifiziert werden kann. Es darf absolut kein Zweifel an seiner Unschuld bestehen, ansonsten ist unser ganzer Plan hinfällig. Selbst wenn man unseren Agenten enttarnen sollte, wäre der Zivilist eben immer noch ein Zivilist. Und allein darauf kommt es an!«

Kapitel 1
Freitag, 4. Oktober 2019
Frankfurt am Main

Der gestrige Feiertag war schön gewesen, doch der heutige Freitag war alles andere als angenehm. Es regnete, und die knapp 12°C kamen Jan deutlich kühler vor, als er seinen Kunden in Frankfurt-Niederrad verließ und sich auf den Weg zur S-Bahn machte.

Eine halbe Stunde später saß er bereits in der S-Bahn-Linie S6, die ihn nach Hause bringen würde. Er war kurz am Hauptbahnhof umgestiegen und saß nun in der 2. Klasse und blickte aus dem Fenster. Der Regen ließ immer wieder Tropfen ans Fenster klopfen, und er war froh darüber, seinen Wagen am Bahnhof von Groß-Karben geparkt zu haben, statt mit diesem bei Regen in die Frankfurter Innenstadt zu fahren. Schon bei schönem Wetter hätte er mindestens eine Dreiviertelstunde benötigt. Doch bei Regen? Nicht auszudenken, wie jetzt wohl die A5 aussah! Vor seinem geistigen Auge sah er, wie er dort – Stoßstange an Stoßstange – mitten im Stau gestanden hätte.

Plötzlich spürte er, wie ihn jemand zu beobachten schien.

Jan blickte sich vorsichtig um.

Es war später Nachmittag an einem Brückentag, die S-Bahn war nicht annähernd so besetzt wie normalerweise um diese Zeit. Die üblichen Pendler saßen auf ihren Plätzen, von denen es heute genügend freie gab. Die meisten waren in Zeitungen oder Bücher vertieft, nicht allzu weit hörte jemand viel zu laut Musik …

Da sah er plötzlich, dass ihn eine hübsche, junge, blonde Frau anlächelte, die schräg vor ihm saß – keine drei Reihen entfernt.

Er erwiderte das Lächeln und blickte daraufhin erneut aus dem Fenster.

Nachdem am Bahnhof Berkersheim erneut zahlreiche Fahrgäste ausgestiegen waren, und sich die S-Bahn nun auf den Weg zum Südbahnhof von Bad Vilbel machte, lehnte sich Jan in seinem Sitz zurück und lenkte seinen Blick vom Fenster weg auf die anderen Fahrgäste. Erneut erkannte er, dass die junge Frau ihn anlächelte.

Er lächelte wieder freundlich zurück und betrachtete sie diesmal etwas eingehender. Das Haar war beinah platinblond – definitiv gefärbt und kaum natürlich – und passte sehr gut zu ihrem leicht gebräunten Teint. Sie sah sehr schlank und sportlich aus, und Jan schätzte sie auf Mitte/Ende zwanzig. Er selbst war inzwischen bereits fünfundvierzig und bei weitem nicht mehr so sportlich wie noch vor zwanzig Jahren. Bei einer Größe von einem Meter achtzig brachte er knapp einhundertfünf Kilo auf die Waage – eindeutig zu viel für seinen Geschmack. Seine bullige Statur war vor allem um die Hüfte herum zu dick, wenn auch glücklicherweise nicht mit einem Bierbauch gesegnet.

Die junge Frau drückte sich ein Buch vor die Brust: FAIRVIEW – Feuerteufel

Okay, dachte Jan. Sie mag demnach Kriminalromane oder Thriller. Ihm selbst sagte der Titel nichts, doch das Cover ließ auf eines der genannten Genres schließen. Er selbst las auch sehr gern, doch er hatte es dann eher mit Romanen von John Grisham oder Ken Follett.

Als die S-Bahn den Bahnhof von Bad Vilbel Süd verließ, kam die junge Frau plötzlich auf ihn zu.

»Darf ich mich setzen?«, fragte sie mit einer Stimme, die jugendlich und doch zugleich etwas tiefer klang, als Jan es erwartet hätte.

»Ähm, ja, klar«, erwiderte er automatisch, woraufhin sie sich ihm direkt gegenübersetzte.

»Das tue ich normalerweise nicht«, sagte sie und lächelte ihn an.

»Was?«, fragte Jan leicht verunsichert.

»Mit wildfremden Männern reden«, antwortete sie und lachte leicht.

»Aha«, entgegnete er und wusste nicht, wie er sonst hätte reagieren sollen.

Inzwischen erreichte die S-Bahn den Bahnhof von Bad Vilbel.

»Sie hatten vorhin so verträumt ausgesehen – so, als wären Sie in Wirklichkeit ganz woanders.«

Jan errötete leicht, während er sagte: »Es ist der Regen.«

»Melancholisch?«

»Nein, eine rein praktische Überlegung. Ich wäre jetzt normalerweise mit meinem Auto gefahren.«

»Ich verstehe.« Sie lächelte ihn weiterhin an.

»Es tut mir leid, doch ich bin nicht sonderlich gut in solchen Dingen.«

»Was meinen Sie?«, fragte sie noch immer lächelnd.

»Konversation mit fremden Frauen«, antwortete Jan und bereute es im gleichen Moment schon wieder. Was redete er da?

Die junge Frau hingegen lachte leise und herzlich, dann sagte sie: »Ich auch nicht.«

Nun lachte auch Jan, angesteckt von ihrer Herzlichkeit und der Doppeldeutigkeit ihrer Antwort.

»Bis wohin fahren Sie?«, fragte sie ihn unvermittelt.

»Groß-Karben«, gab Jan zur Antwort und fragte seinerseits: »Und Sie?«

»Friedberg.«

»Wohnen Sie dort?«

»Nein, ich wohne in Bornheim. Ich muss nur kurz etwas in Friedberg abgeben, dann fahre ich schon wieder zurück. Ich heiße übrigens Natascha – Natascha Papst.«

»Jan – Jan Wagner.«

»Freut mich, Jan. Haben Sie heute noch etwas vor?«

»Bitte?« Jan war mit dieser Frage sichtlich überfordert.

»Ich bin erst vor Kurzem von Norddeutschland hierhergezogen und kenne noch niemanden. Da ich gleich wieder an Groß-Karben vorbeikommen werde, wäre es doch schön, wenn wir vielleicht etwas essen gehen könnten.«

»Essen? Heute?« Jan hatte kaum Übung in solchen Dingen und sich mehr um seine Arbeit denn um sein soziales Umfeld gekümmert.

»Passt es Ihnen nicht?«

»Doch, doch«, entgegnete er rasch. »Es kommt nur so unerwartet.«

»Ich werde in etwa einer Stunde wieder da sein. Schaffen Sie das?«

»Ja, natürlich«, antwortete Jan. »Italienisch, Griechisch, Chinesisch oder Türkisch?«

»Sie entscheiden.«

Berlin

»Na, endlich!« Odysseus blickte triumphierend auf sein Smartphone. Danach drückte er eine Sprechtaste an seinem Büroapparat, sagte: »Schicken Sie Schmitt rein!« und las erneut die Nachricht, die er eben per SMS erhalten hatte.

Schmitt betrat das Büro ohne anzuklopfen und fragte: »Sie wollten mich sprechen?«

»Wir haben eine Nachricht aus Frankfurt: Der Zivilist ist gefunden, Näheres werden wir morgen erfahren.«

»Soll ich mit der Meldung beginnen?«

»Nein, Schmitt – noch nicht. Wir dürfen jetzt nichts überstürzen.«

»Wie geht es jetzt weiter?«

Odysseus legte sein Smartphone beiseite, ehe er sagte: »Wir werden mit unserem Agenten in Kontakt bleiben. Jetzt, am Wochenende, muss zunächst die Verbindung zu unserem Zivilisten intensiviert werden. Davon hängt wirklich alles ab! Ich hoffe, dass wir am Montag, spätestens jedoch am Dienstag mit der Mission ›Hölzernes Pferd‹ beginnen können.« Nach diesen Worten griff er sich eine Zigarette aus einem silbernen Etui, zündete sie an und blies Rauch in die Luft.

Karben

Jan hatte nicht viel Zeit gehabt. Er war vom Bahnhof Groß-Karben aus mit seinem Auto, einem beinah dreißig Jahre alten, weißen Opel Kadett E mit gerade einmal sechzig Pferdestärken, durch den Regen nach Roggau gefahren. Hier besaß er ein kleines Haus, dessen Hypothek er immer noch abzuzahlen hatte, und um das er sich dringend wieder mehr kümmern musste. Den Rasen hatte er schon lange nicht mehr gemäht, und die Fenster waren ebenfalls in einem traurigen Zustand. Eine Haushaltshilfe wäre nicht schlecht gewesen, doch dafür fehle ihm schlicht und ergreifend das Geld.

Eine gute Dreiviertelstunde später stand er mit seinem Wagen bereits wieder am Bahnhof und wartete auf das Eintreffen der S6 aus Friedberg.

Wer war die Frau – Natascha?

Sie war offensichtlich deutlich jünger als er; wieso hatte sie ihn ausgewählt?

Meinte sie es ernst, oder spielte sie nur mit ihm?

Bald, überlegte er, werde ich es wissen.

Dann sah er die S6 aus Friedberg ankommen. Er wusste, dass Natascha die Unterführung würde nehmen müssen und hatte seinen Wagen daher nahe der Bushaltestellen geparkt. Und da sah er auch schon ihre platinblonden Haare aus der Menge der Pendler herausstechen.

Frankfurt

Knapp vier Stunden später fuhren Jan und Natascha in seinem weißen Kadett die Friedberger Landstraße entlang nach Frankfurt.

»Du hättest mich wirklich nicht fahren müssen«, beteuerte Natascha zum wiederholten Male. Während des Essens beim Griechen waren sie zum vertrauten ›Du‹ übergegangen.

»Papperlapapp«, antworte Jan erneut. »Es regnet noch immer, und außerdem sollte eine hübsche Frau wie du abends nicht allein mit der S-Bahn fahren müssen.«

»Ach, du findest mich hübsch?«, kokettierte sie mit einem zuckersüßen Lächeln.

Jan wurde verlegen und konzentrierte sich auf den Verkehr, da er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte.

»Du bist süß. Danke. Du, da vorn musst du nach links …«

Wenige Minuten später standen sie vor einem großen Mehrfamilienhaus in einem Viertel, das mehreren solcher Wohnhäuser Platz bot. Entlang der Straße gab es einige Parkplätze, doch um diese Uhrzeit waren die meisten bereits belegt. Zwischen den Häusern gab es sogar Grünflächen, teilweise mit Sträuchern und Bäumen bepflanzt. Kein schlechter Platz, um in Frankfurt am Main doch noch halbwegs das Gefühl zu haben, im Grünen zu wohnen.

»Möchtest du auf einen Kaffee mitkommen?«

»Hast du auch Tee?«, fragte Jan.

»Ja«, antwortete Natascha lachend, »damit kann ich auch dienen.«

Jan lenkte seinen alten Opel auf einen der wenigen Parkplätze, anschließend gingen er und Natascha, locker miteinander plaudernd, die restlichen rund hundert Meter zu Fuß.

Nataschas Wohnung lag im dritten Stock eines vierstöckigen Mehrfamilienhauses und war, wie Jan bemerkte, doch recht schlicht eingerichtet. Alles war in Weiß gehalten: Fliesen, rau verputzte Wände und Decken, Möbel. Vor allem aber vermisste Jan das, was normalerweise die Wohnung von Frauen kennzeichnete: Das Persönliche! Es gab keinerlei Nippes, keine gerahmten Fotos von Freunden und Familie.

»Setz dich bitte, ich gehe schnell in die Küche«, sagte Natascha und verschwand.

Jan blickte sich um, und irgendwie kam ihm all das sehr surreal vor. Natascha war traumhaft schön und wirkte beinah wie das Bildnis einer Göttin, überlegte er. Wäre er zehn Jahre jünger gewesen, hätte es ihn vielleicht nicht einmal besonders gewundert, von einer hübschen Frau nach oben gebeten worden zu sein. So jedoch wunderte er sich schon sehr. Und wieder fiel ihm auf, dass er nichts Persönliches von Natascha entdecken konnte. Die Bücher in den Regalen waren zwar interessant, doch trotz allem kam ihm die Wohnung kalt und ohne Leben vor.

Natascha kam plötzlich aus der Küche und trug ein Tablett mit zwei Gläsern: Ein Longdrinkglas und ein Martiniglas. »Du sagtest vorhin beim Essen, dass du gern Gin Tonic trinkst«, flötete sie heiter und reichte Jan das Longdrinkglas.

»Danke, das ist lieb«, sagte Jan, während er das Glas entgegennahm. »Doch ich muss gleich noch Auto fahren.«

»Ist doch bloß ein Glas«, erwiderte sie und nahm ihrerseits das Martiniglas, in dem eine Olive in einer klaren Flüssigkeit schwamm.

»Was trinkst du?«, fragte Jan.

»Wodka Martini«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Geschüttelt, nicht gerührt.« Wieder lachte sie herzhaft auf und blickte Jan direkt danach tief in die Augen. »Komm, lass uns anstoßen.«

»Gern«, sagte er. »Aber bitte, nur dieses eine Glas.«

Sie stießen miteinander an und tranken jeder einen kräftigen Schluck ihres Getränks.

»Ist er dir so recht?«, fragte Natascha, und Jan bejahte, während er sich schließlich auf ihrer weißen Ledercouch niederließ.

»Was arbeitest du eigentlich?«, fragte er sie plötzlich, und Natascha versah ihn mit einem merkwürdigen Blick.

»Ich arbeite an der Frankfurter Universität als Labortechnikerin. Und du?«

»Vermögensberater.«

»Vermögensberater?«, fragte sie mit einem zweifelnden Unterton nach. »Wieso fährst du dann nur einen uralten Opel? Ich dachte immer, euch ginge es in eurer Branche so gut.«

»Weißt du«, setzte Jan an, »es gibt zweierlei Typen von Vermögensberatern: Die einen arbeiten für ihre Kunden, die anderen für sich selbst.«

»Das verstehe ich nicht, fürchte ich.«

»Es geht um Provisionen. Wenn du einen Vermögensberater wählst, wird er dir früher oder später allerlei Produkte verkaufen wollen. Diese sind nicht unbedingt schlecht, doch kannst du nur selten sicher sein, dass sie auch zu hundert Prozent zu dir passen oder gar nötig sind. Doch der Vermögensberater macht seinen Schnitt, streicht die Provision für die neuen Verträge ein und freut sich, dass er erfolgreich einen neuen Kunden an Land gezogen hat.«

»Ooooookay … und die anderen?«

»Die anderen sind die armen Schweine, die ehrlichen Vermögensberater, die eben nicht auf Provisionsbasis arbeiten. Sie nehmen stattdessen einen festen Stundensatz für die Beratung, und es liegt beim Kunden allein, ob man eine halbe Stunde oder gleich mehrere Stunden mit ihm verbringt.«

»Und dadurch verdient man weniger Geld, nehme ich an?«

»Ganz genau«, antwortete Jan und nahm einen weiteren Schluck von seinem Gin Tonic. »Ich werde dadurch zwar nicht reich werden, doch behalte ich wenigstens mein reines Gewissen.« Er trank noch ein Schluck Gin Tonic und fühlte sich von Sekunde zu Sekunde lockerer, ungezwungener. »Und wie schaut es da bei dir aus? Was machst du so im Labor?«

Natascha setzte sich dicht neben Jan auf die Couch, und er bemerkte erst jetzt, dass ihre weiße Bluse einen Knopf zu weit geöffnet war als es sich eigentlich geziemt hätte. Und ihr Parfüm roch verführerisch. Schnell trank er wieder einen Schluck und erwiderte Nataschas feurigen Blick, als sie antwortete.

»Ich bin Labortechnikerin und analysiere zumeist verschiedene Stoffe. Je nach Auftrag geht es um Verträglichkeit, um enthaltene Substanzen. Manchmal geht es aber auch um Bakterienkulturen. Nichts Aufregendes.«

»Bakterien? Ist das nicht gefährlich?«

»Nein«, antwortete sie. »Nicht in meinem Bereich. Für die Arbeit mit potenziell gefährlichen Viren bräuchte ich eine besondere Freigabe, und die möchte ich auch gar nicht haben.«

Jan nickte und leerte sein Glas.

»Möchtest du noch eins?«, fragte Natascha, doch Jan winkte ab.

»Wieso ich?«, fragte er sie plötzlich.

»Was meinst du?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage und trank danach ebenfalls ihr Glas leer.

»Wieso hast du mich angesprochen? Wieso wolltest du mit mir essen gehen?«

»Wieso nicht?« Sie lächelte ihn herausfordernd an.

»Ich bin fünfundvierzig Jahre alt, Natascha. Deshalb. Wie alt bist du? Fünfundzwanzig?«

»Ich bin neunundzwanzig. Was hat das bitte mit dem Alter zu tun?«

»Du bist sehr attraktiv, könntest vermutlich jeden Mann haben, den du willst.«

»Danke.«

»Wieso suchst du dir also ausgerechnet mich aus?« Jan spürte, als er die Frage fertiggestellt hatte, dass die Stimmung kippen könnte.

»Es war nicht geplant, es kam spontan über mich. Du hattest so verträumt ausgesehen, so melancholisch. Und außerdem: Für was soll ich dich denn bitte ausgesucht haben?«, fragte sie und schmunzelte ihn an.

»Ich weiß es nicht. Sag du es mir.«

»Wieso machst du es uns so schwer, Jan? Ich bin erwachsen, du bist erwachsen, ich finde dich sympathisch und nett, und ich scheine dir auch nicht unsympathisch zu sein.«

»Das ist es nicht …«, antwortete er verunsichert. Verdammt nochmal, dachte er bei sich, was tue ich hier eigentlich? Zudem spürte er, wie ihm langsam die Glieder schwer wurden, obwohl er doch nur einen einzigen Gin Tonic hatte.

»Sondern?«, bohrte Natascha indes nach.

»Es ist nur ……… Ich bin verwitwet.«

Nun war selbst Natascha sprachlos. Damit hatte sie nicht gerechnet. Eine gefühlte Ewigkeit lang saßen sie bloß stumm nebeneinander, wobei sie immer wieder versuchte, ob sie ihm wieder in die Augen blicken konnte. Doch Jan blickte betrübt nach unten auf den Boden.

»Sie starb vor knapp drei Jahren an einem Aneurysma, ist einfach umgefallen und war tot.«

»Das tut mir ehrlich leid, Jan.«

»Wir kannten uns schon seit unserer Kindheit, waren die besten Freunde, dann wurde es mehr, bis wir schließlich im April 2000 geheiratet hatten. Sie war meine erste und einzige Frau …«

»Ich verstehe«, sagte Natascha leise.

»Sag mal«, wandte sich Jan schließlich an sie. »Könnte ich bitte ein Glas Wasser bekommen?«

»Natürlich. Ich hol dir eins …«

Als Natascha aus der Küche zurück ins Wohnzimmer kam, lag Jan auf der Couch und schlief.

»Jan?«, fragte sie und schüttelte ihn an seinem Arm. »Jan?«

Doch er antwortete nicht, schlief seelenruhig auf der Couch und ließ sich nicht wecken.

»Na, Gott sei Dank«, sagte Natascha leise zu sich selbst, während sie Jans Puls am Hals maß. Ruhig und gleichmäßig … er schlief einfach tief und fest.

Sofort machte sie sich an die Arbeit, was ein wahrer Knochenjob war. Zwar war sie durchtrainiert und hielt sich mit Kampfsport und Jogging fit, doch Jan wog mit Sicherheit an die hundert Kilo, und dieses Gewicht würde sie nun allein bewegen müssen. Sie packte ihn, hob vorsichtig seinen wuchtigen Oberkörper an und lehnte ihn an sich, um ihm sein Poloshirt auszuziehen. Als das geschafft war, lehnte sie den Oberkörper vorsichtig wieder zurück auf die Couch und öffnete den Gürtel, um Jan die Hose und Unterhose auszuziehen. Zuletzt zog sie ihm die Socken aus und war froh, dass er seine Schuhe bereits beim Betreten der Wohnung ausgezogen hatte.

Als Natascha nun auf den völlig nackten Mann hinabblickte, sah sie, dass er in früheren Jahren mal recht sportlich gewesen sein musste. Brust, Schultern und Arme waren noch immer recht gut trainiert, doch sein Bauch war deutlich gepolstert.

Nun kam der schwerste Teil der Arbeit: Sie packte Jan vorsichtig, hob den Oberkörper an, griff seitlich schräg von hinten unter seinen Achseln durch und ergriff vor dem Brustkorb seine Unterarme, um den schweren Körper unbeschadet in ihr Schlafzimmer zu ziehen. In diesem Moment bedauerte sie, dass Jan so ein anständiger Kerl war. Ein Aufreißer und Draufgänger, der jetzt bereits mit ihr im Bett gelegen hätte, wäre ihr in diesem Moment deutlich lieber gewesen.

Nach wenigen Momenten hatte sie es jedoch geschafft. Sie hievte den Körper auf das Bett, drehte ihn entsprechend zurecht und vergaß auch nicht das wichtigste Detail: Sie zog noch einmal ihren Lippenstift nach und beugte sich schließlich über seine Lenden, um eindeutige und unmissverständliche Spuren von Leidenschaft zu hinterlassen. Und sie war heilfroh, dass er sehr gepflegt war und auf regelmäßiges Duschen zu stehen schien. Danach deckte sie ihn vorsichtig mit dem Satinlaken zu und ging zurück ins Wohnzimmer.

Aus der Jeans förderte sie sein Portemonnaie hervor, daraus seinen Führerschein, seine Kreditkarte und seinen Personalausweis, die sie allesamt mit ihrem Smartphone fotografierte und direkt an Odysseus schickte. Sie wusste, dass er sofort mit den Nachforschungen über Jan beginnen würde. Dann würde es hoffentlich nicht mehr lange dauern, bis sie mehr erführe.

Anschließend zog sie sich selbst aus und kroch zu Jan ins Bett. Sie küsste ihn ungestüm, um ihren Lippenstift noch in seinem Gesicht zu verteilen. Mit einem »Es tut mir leid« gab sie ihm noch einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange und legte sich schlafen. Sie hatte Jan Gamma-Hydroxybuttersäure in seinen Gin Tonic gegeben, eine Substanz, die in Deutschland seit 2002 verboten und unter dem Begriff GHB oder Liquid Ecstasy bekannt geworden war. Natascha wusste, dass die Wirkung der k.o.-Tropfen nach etwa einer Viertelstunde einsetzen und mindestens neunzig Minuten anhalten würde. Jetzt hoffte sie, dass Jan durchschlief und nicht in anderthalb Stunden wieder aufwachte. Falls doch, würde sie zu weiteren Mitteln greifen müssen.

₺176,03

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
195 s. 10 illüstrasyon
ISBN:
9783753193014
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre