Kitabı oku: «Wer ist Clara?», sayfa 4

Yazı tipi:

„Und wie seid ihr auf den Namen gekommen?“

Er lacht. „Das haben uns schon viele Leute gefragt. Ist ja auch nicht der typische Hundename… Irgendwie hat Johanna damals vorgeschlagen, dass wir sie ‚Luchs‘ nennen sollten. Keine Ahnung wieso, vielleicht waren das ihre Lieblingstiere. Jedenfalls dachten wir da noch, sie wäre ein Rüde. Kurz darauf haben wir dann aber festgestellt, dass sie doch ein Mädchen ist, und deshalb heißt sie jetzt Luchsi.“

Ich muss lachen. „Das ist echt süß!“

„Findest du?“, erwidert er ebenfalls lachend, „Ist zumindest besser als ‚Hasso‘ oder ‚Laika‘ oder so was…“

Wir sind mittlerweile am Waldrand angekommen und ich zögere für einen Moment.

„Ist das… okay für dich?“, fragt Jakob, der es sofort bemerkt.

Doch ich nicke, fasse mir ein Herz und laufe weiter, während ich versuche, mich an irgendetwas zu erinnern. Doch da ist einfach nichts außer der gewohnten Leere, wenn ich versuche daran zu denken, was passiert ist, bevor Lukas mich hier gefunden hat.

Ich blicke mich um, aber ich sehe keinerlei Hinweise auf irgendwas.

„Vielleicht wenn wir uns ein bisschen vom Weg entfernen?“, meint Jakob.

Ich schaue ihn zögernd an.

„Du musst dir keine Sorgen machen, ich kenne die Gegend wie meine Westentasche.“

„Okay, wenn du das sagst“, erwidere ich.

„Vertrau mir“, meint er lächelnd und läuft mit Luchsi die Böschung hinauf in den Wald.

Ich folge ihm zögernd. Das Gelände ist steiler als ich gedacht hätte und ich halte mich an einem dünnen Baumstamm fest, um nicht abzurutschen und mich vor Jakob zu blamieren. Er streckt mir seine Hand entgegen und ich ergreife sie dankbar.

„Okay, lass uns zuerst auf dieser Seite suchen und dann auf der anderen“, meint er.

Gemeinsam mit Luchsi suchen wir gefühlt jeden Quadratzentimeter ab, zuerst auf der linken, und dann auf der rechten Seite des Wegs, und gehen teilweise so tief in den Wald hinein, dass ich ohne Jakob überhaupt keine Orientierung mehr hätte. Doch außer für Luchsi, die zwischendurch immer wieder ihr Revier markiert, ohne Erfolg.

„Wir müssen leider zurück, wir essen bald“, meint Jakob, als wir am Ende des Wegs, der bis zu einer Straße führt, angekommen sind.

„Wie kann es sein, dass wir hier nichts finden? Das ist doch verrückt!“, stoße ich frustriert hervor.

„Na ja…“ Jakob zögert. „Wenn dich jemand niedergeschlagen hat, wieso sollte dieser Jemand dann nicht auch deine Sachen mitgenommen haben?“

„Du meinst, ich bin überfallen worden?“ Zum zweiten Mal an diesem Tag läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter.

„Möglich wäre es“, meint er, „Hoffentlich wissen wir es bald…“

„Ja, hoffentlich“, erwidere ich.

Wir laufen zurück und schweigen. Der Gedanke scheint uns beide so zu bedrücken, dass wir keinen Ton mehr herausbekommen.

Ganz anders ist es, als er die Tür aufschließt und wir das Haus wieder betreten. Bereits aus dem Flur schallen uns Lachen und Gesprächsfetzen entgegen. Luchsi kommt mit uns in die Küche, wo bereits Lukas, Johanna, Eva, Paul (ich habe Jakob bei unserem Spaziergang noch einmal nach den Namen seiner Eltern gefragt) und eine weitere Frau am Küchentisch sitzen.

Luchsi rennt aufgeregt zu der Frau und springt an ihrem Stuhl hoch.

„Hallo, Luchsi!“, sagt diese lachend und streichelt ihr über den Kopf. Dann steht sie auf, geht zu Jakob und begrüßt ihn mit einer Umarmung und irgendwas auf Pfälzisch.

„Wie geht’s dir, alles gut?“, fragt sie.

„Klar, und bei dir? Ich hab den Bericht in der Zeitung heute gelesen“, entgegnet er lächelnd.

„Ach, der mit diesem schrecklichen Foto…“, winkt sie ab.

„Quatsch, überhaupt nicht!“, erwidert Jakob.

„Wenn du das sagst…“, meint sie lächelnd und wendet sich dann mir zu.

„Und du musst Clara sein“, sagt sie in lupenreinem Hochdeutsch.

„Genau“, erwidere ich und schüttele ihre Hand, die sie mir hinstreckt.

„Ich bin Anna. Schön, dich kennenzulernen.“ Das strahlende Lächeln, mit dem sie mir begegnet, erklärt, warum jeder sie zu mögen scheint: Diese Frau hat eine unglaubliche Ausstrahlung.

„Ebenso“, erwidere ich und setze mich auf den Platz neben ihr, während Jakob auf meiner anderen Seite Platz nimmt.

„Eva hat mir schon alles erzählt, das muss schrecklich für dich sein, keine Erinnerungen mehr zu haben.“

„Ja, es ist nicht besonders angenehm“, erwidere ich, „Aber zum Glück haben mich hier alle so nett aufgenommen…“

„Das stimmt, unsere Familie hält immer zusammen“, entgegnet Anna. „Und falls du mal bei irgendwas Hilfe brauchst, kannst du auch immer gerne zu mir kommen, und das sage ich jetzt nicht nur so dahin!“

„Danke, das ist wirklich nett“, erwidere ich.

Während Eva das Essen auf den Tisch stellt – es gibt Schnitzel mit Bratkartoffeln – betrachte ich Anna verstohlen aus dem Augenwinkel. Sie hat braunes Haar mit blonden Strähnen und trägt schlichte, aber hochwertig wirkende Kleidung. Was sie wohl beruflich macht?

„Anna hat übrigens das Haus hier gebaut“, sagt Jakob, als habe er meine Gedanken gehört.

Überrascht blicke ich sie an. „Echt?“

„M-hm, ich bin Bauunternehmerin“, erwidert sie lächelnd.

„Und auch noch Bürgermeisterin“, sage ich anerkennend.

„Ja, aber das mache ich ehrenamtlich.“ Mit jedem Satz beeindruckt sie mich mehr.

„Und wie bist du auf den Job gekommen?“, frage ich.

„Bauunternehmerin oder Bürgermeisterin?“, erwidert sie lächelnd.

„Beides!“

„Also, ich habe Bauingenieurswesen in München studiert und habe dann eine Zeitlang in den USA gearbeitet, aber dann haben mir meine Familie und meine Heimat so sehr gefehlt, dass ich wieder zurückgekommen bin. Und dann habe ich mich selbstständig gemacht.“

„Das ist echt mutig“, sage ich, „Du warst da bestimmt noch jung.“

„Dreißig“, erwidert sie, „Und ja, am Anfang hatte ich schon ein bisschen zu kämpfen, aber dann kamen nach und nach immer mehr Aufträge, und heute läuft es ziemlich gut.“ Sie strahlt übers ganze Gesicht, und es ist offensichtlich, wie stolz sie auf das Unternehmen ist, das sie selbst aufgebaut hat.

„Und vor zwei Jahren wurde dann der Bürgermeister-Posten frei. Ehrlich gesagt war es Evas Idee, dass ich mich bewerben sollte – und das habe ich dann getan und die Stelle bekommen.“

„Ich frage mich immer noch, wie du das alles unter einen Hut bekommst“, sagt Paul in diesem Moment. Ich bin überrascht: Das war das erste Mal, dass ich ihn überhaupt habe reden hören. Er scheint generell eher der einsilbige Typ zu sein – das komplette Gegenteil seiner Schwester.

„Mit viel Leidenschaft“, erwidert diese in dem Moment und lächelt ihrem Bruder zu. Doch dieser bleibt stumm und widmet sich lieber wieder seinem Schnitzel.

„Das Essen schmeckt übrigens fantastisch“, sagt Anna in diesem Moment.

Mir wird jetzt erst bewusst, dass ich noch keinen Bissen gegessen habe. Schnell schneide ich ein Stück von meinem Schnitzel ab und stecke es mir in den Mund, und danach gleich ein paar Bratkartoffeln.

„Es schmeckt wirklich super“, sage ich dann an Eva gewandt, die sich mit einem Lächeln bei mir bedankt. Ob sie das mit dem Brief heute Nachmittag wohl schon vergessen hat? Oder vielleicht hofft sie auch nur, dass ich es bereits vergessen habe…

Die Gespräche am Tisch verstummen auch während des Essens nicht, was vor allem an Anna liegt. Irgendwie schafft sie es, immer im richtigen Moment genau das Richtige zu sagen. Sicher ist das einer der Gründe, warum sie so weit gekommen ist. Es scheint nur einen zu geben, der gegen ihren Charme immun ist: Paul. Wann immer sie etwas sagt, gibt er ihr kurze oder nichtssagende Antworten, und ich frage mich, ob er wohl zu allen so ist. Jedenfalls ist er ganz anders als seine immer freundliche Ehefrau. Ich mag Eva. Aber dennoch kann ich den Brief nicht vergessen.

Die Zeit vergeht wie im Flug, und nach einer schnellen Dusche, gehe ich zurück ins Gästezimmer, wo ich – wie mir jetzt auffällt – den ganzen Tag noch nicht gewesen bin. Eva hat mir meine Sachen zusammengefaltet aufs Bett gelegt. Ich lege alles beiseite und schlüpfe in den von Johanna geliehenen Schlafanzug. Dann trete ich wieder ans Fenster und blicke nach unten in den Garten. Nichts tut sich. Erleichtert atme ich auf und lasse den Rollladen herunter. Dann laufe ich zu dem Bücherregal am anderen Ende des Zimmers, das mir gestern vor Müdigkeit gar nicht aufgefallen ist. Darin findet sich so ziemlich alles, von romantischem Teenie-Kitsch bis zu blutrünstigen Thrillern. Ich greife nach einem Buch, das mir aufgrund seines schlichten Einbands erst im zweiten Moment auffällt: Les Jeux Sont Faits von Jean-Paul Sartre. Ich weiß ja mittlerweile, dass ich etwas Französisch spreche, bin aber dennoch erleichtert, als ich beim Aufklappen des Buches feststelle, dass es sich hierbei um eine zweisprachige Ausgabe handelt. Ich schaue mir die Inhaltsangabe auf Deutsch an und beschließe, es zu lesen. Ein Mann und eine Frau, die füreinander bestimmt sind, aber frühzeitig den Tod finden, dann aber eine zweite Chance bekommen, auf die Erde zurückzukehren, und beweisen müssen, dass sie zusammengehören – klingt interessant.

Ich lese die ersten paar Seiten und lösche dann das Licht. Ich bin schon wieder todmüde, der Tag war anstrengend für mich – wenn nicht körperlich, dann auf jeden Fall mental. Die Worte des Doktors kommen mir wieder in den Sinn. Jemand hat mich niedergeschlagen. Ich zucke zusammen, als ich schon kurz vorm Einschlafen bin, und muss tief durchatmen, um mich wieder zu beruhigen.

Was ist nur in diesem Wald passiert?

Früher:

Ich habe meine Eltern noch nie angelogen. Oder zumindest noch nie so, wie ich es jetzt vorhabe.

Sobald ich den Brief gelesen hatte, wusste ich eigentlich schon, dass ich es tun würde. Auch wenn ich weiß, dass es falsch und vermutlich auch gefährlich ist, muss ich doch herausfinden, wer ihn geschrieben hat. Ob tatsächlich…? Nein, das ist unmöglich. Das kann einfach nicht sein. Warum würde jemand so etwas tun? Warum würde man den Menschen, die man am meisten liebt, so etwas antun?

Ich versuche, es mir zu erklären, doch dafür gibt es keine Erklärung.

Jetzt:

Kapitel 4: Verwirrt

Als ich am nächsten Tag erwache, brauche ich erneut einen Moment, um zu verstehen, wo ich bin. Erinnerungen – die, die ich habe – schießen mir durch den Kopf und ich drehe mich seufzend auf den Rücken. Ich habe keine Fortschritte gemacht, ich weiß immer noch nicht, wer ich bin.

Nach ein paar Minuten und einem Blick auf den Wecker, der mir verrät, dass es schon wieder nach zwölf Uhr ist, beschließe ich, dass ich besser aufstehen sollte. Ich ziehe den Rollladen hoch und stelle fest, dass draußen schon wieder schönes Wetter ist: Die Sonne strahlt vom blauen Himmel, an dem sich ein paar Schäfchenwolken tummeln, und es ist so warm wie gestern. Ich will nicht, dass Jakob mich schon wieder im Schlafanzug sieht, deshalb ziehe ich die kurze Hose von gestern an, sowie meinen eigenen BH und mein eigenes T-Shirt, das sich auf den zweiten Blick als nicht gerade schön entpuppt: Es ist wohl schon älter, der Aufdruck ist verwaschen und der Saum ein wenig ausgefranst. Ich schaue vorher aufs Etikett, in der Hoffnung auf einen Hinweis. Doch es ist schon so verwaschen, dass die Schrift verblasst ist und ich sie nicht länger entziffern kann.

Nachdem ich im Bad war, gehe ich nach unten. Die Küche ist leer, doch Nutella, Orangensaft und die Packung Toast liegen schon für mich auf dem Tisch, ebenso wie ein Teller, ein Glas und ein Messer. Es rührt mich, wie fürsorglich Jakob ist, auch wenn ich hier so ziemlich der einzige Mensch zu sein scheine, der das wertschätzt – im Gegensatz zu seinen Geschwistern. Ich denke daran, wie Lukas reagiert hat, als sein Bruder ihn gestern nach der Klausur gefragt hat, oder an Johannas ständige Zickereien. Klar, die beiden sind Teenager, aber sie könnten ruhig etwas dankbarer dafür sein, dass Jakob sie dauernd irgendwo hinfährt und wieder abholt. Doch er scheint schon so daran gewöhnt zu sein, dass es ihm gar nicht mehr auffällt…

Ich stecke zwei Scheiben Toast in den Toaster, dann mache ich mich wieder auf die Suche nach Jakob, was nicht gerade lange dauert. Im Wohnzimmer steht die Tür zur Terrasse offen, und draußen finde ich ihn, wie er in der Sonne sitzt und liest.

„Hey“, begrüße ich ihn.

„Hey“, erwidert er mit einem Lächeln und klappt das Buch zu, „Hast du gut geschlafen?“

„Sehr gut“, entgegne ich, „Wie ein Stein.“

Er lacht.

„Was liest du?“, frage ich und setze mich neben ihn auf das kleine Sofa.

Macbeth“, erwidert er und reicht mir das Buch.

„Magst du Shakespeare?“, frage ich.

„Ja, sehr“, sagt er, „Wir haben in der Schule Hamlet durchgenommen, und seitdem habe ich einige seiner Stücke gelesen.“

„Vielleicht kannst du’s mir ja mal ausleihen, wenn du fertig bist“, sage ich nach einem Blick auf den Buchrücken.

„Klar, gern“, erwidert er. Er blickt zur offenen Terrassentür und sagt: „Wenn du willst, kann ich dir drinnen Gesellschaft leisten.“

„Oder ich dir hier draußen“, sage ich lächelnd.

„Wenn dir das lieber ist“, entgegnet er ebenfalls lächelnd.

Ich nicke. „Gib mir nur eine Sekunde.“ Mit diesen Worten erhebe ich mich und gehe zurück in die Küche, wo mein Toast inzwischen fertig ist. Ich bestreiche die beiden Scheiben mit Nutella, schenke mir ein Glas Orangensaft aus und gehe zurück nach draußen. Ich stelle beides auf dem Glastisch neben der Couch ab und setze mich wieder neben Jakob.

„Ist das dein T-Shirt?“, fragt Jakob.

Ich schaue noch einmal an mir herunter und nicke. „Deine Mum hat meine Sachen für mich gewaschen. Das wird Johanna sicher freuen…“

„Sie ist im Moment echt schwierig“, sagt Jakob, „Aber sie meint das nicht so, ehrlich.“

Er zögert, bevor er fortfährt: „Ich habe das Gefühl, dass sie gerade versucht, sich selbst zu finden. Deshalb auch die dunklen Klamotten und das rebellische Verhalten.“

Ich lache schnaubend. „Hoffentlich hat sie sich bald gefunden.“

Doch er beachtet mich gar nicht. „Ich kann sie gut verstehen, bei mir hat es auch lange gedauert, bis ich wusste, was ich will. Und nicht mal jetzt weiß ich, ob ich überhaupt auf dem richtigen Weg bin…“

Ich blicke ihn an. „Wie meinst du das?“

„Na ja, ich werde bald für mindestens ein Semester ins Ausland gehen müssen, und ehrlich gesagt will ich das gar nicht.“ Er sieht mich an. „Ich habe das noch niemandem gesagt, aber ich habe das Gefühl, dass ich nicht weggehen sollte. Die Jungs vom Fußball haben das Training extra auf Montag und Freitag gelegt, weil ich an den Tagen keine Uni habe, und wenn ich gehe, müssen meine Geschwister noch öfter zu unserem Opa und meine Eltern müssen sie überall rumkutschieren, dabei haben sie ja schon so viel Stress wegen dem Haus…“ Die Worte scheinen nun geradezu aus ihm herauszusprudeln. Ich bin überrascht über seine plötzliche Offenheit. „Und das will ich nicht. Ich will einfach, dass es allen wieder gut geht und ich… ich will nicht egoistisch sein.“

Wir schweigen für einen Moment und er senkt beschämt den Blick. Das war so nicht geplant, da bin ich mir sicher.

„Du fühlst dich deiner Familie verpflichtet“, sage ich einen Moment später.

„Nein“, erwidert er schnell, „Nein, so war das gar nicht gemeint. Ist ja nicht so, als ob mir jemand sagen würde, dass ich irgendwas machen muss… Es ist nur, dass…“ Er seufzt. „Ach, ich weiß auch nicht.“

„Ist schon gut, Jakob“, sage ich, „Du musst mir nichts erklären, ich verstehe dich.“

Er blickt mich überrascht an.

„Du solltest nicht so streng mit dir selbst sein“, sage ich, und er lächelt. Mein Herz macht einen Satz.

Schnell sehe ich weg und widme mich lieber meinem späten Frühstück. Was mache ich da nur?

„Liest du das Buch eigentlich für die Uni?“, frage ich, ohne ihn anzusehen, um das Thema zu wechseln.

„Nein, das lese ich nur so“, erwidert er, „Ich muss jetzt in den Ferien zwei Hausarbeiten schreiben, aber für die habe ich zum Glück kein festes Abgabedatum.“

„Worüber musst du die schreiben?“ Ich wage immer noch nicht, ihn anzusehen. Was ist denn plötzlich nur los mit mir?

„Eine über den sozialen Aufstieg in einem Buch, das wir gelesen haben, und die andere über meinen Dialekt.“

Ich blicke ihn überrascht an.

„Ich habe eine Umfrage gemacht und will dadurch herausfinden, wie der Dialekt im Vergleich zur Standardsprache beurteilt wird.“

„Und, was hast du bisher herausgefunden?“, frage ich interessiert.

„Dass Pfälzisch nicht gerade den besten Ruf hat…“, meint er.

„Inwiefern?“

„Na ja, die meisten Leute finden, dass es sich anhört wie hinterwäldlerische Bauernsprache.“

Ich muss lachen. „Wie gemein!“

„Einer hat sogar geschrieben ‚Es klingt wie eine Vergewaltigung der deutschen Sprache.‘“

Ich pruste los und auch Jakob stimmt in mein Lachen mit ein. Es dauert einen Moment, bis ich mich wieder beruhigt habe, und mir schnaufend die Lachtränen aus den Augen wische.

„Freut mich ja sehr, dass das schlechte Gerede über meine Muttersprache dich so erheitert“, sagt Jakob mit affektiertem Blick, was mich nur noch mehr zum Lachen bringt, ebenso wie ihn.

„Ich finde euren Dialekt süß“, sage ich, und füge noch ein „Ehrlich!“ hinzu, als ich seinen skeptischen Blick sehe.

„Da bist du mit die Einzige“, meint er, „Wenn ich in Heidelberg Bus fahre und meine Mum mich anruft, und ich Pfälzisch mit ihr rede, werde ich immer angeschaut, als ob die Leute nicht glauben könnten, dass ich wirklich hier studiere.“ Er muss lachen. „Wie hat es dieser Bauerntrampel nur an die Uni geschafft?

„Das ist so dumm!“, sage ich kopfschüttelnd, „Als ob das irgendwas über dich aussagen würde!“

„Ich weiß“, erwidert er, „Aber die Vorurteile sind leider da, und werden sich auch nicht ändern. Alle Dialekte sterben früher oder später aus: In der Stadt reden mittlerweile so gut wie alle Hochdeutsch, und auch hier ist es so, dass mein Opa Wörter benutzt, die meine Eltern nicht benutzen, und meine Eltern benutzen Wörter, die ich nicht benutze. Und so geht nach und nach alles verloren…“

„Das ist echt schade“, sage ich leise.

Für eine Weile esse ich und keiner von uns sagt ein Wort. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass er auf seinem Handy herumtippt. Ich würde ihn gerne so viele Dinge fragen, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, und die Tatsache, dass ich ihm nichts über mich erzählen kann, macht das Ganze noch unangenehmer. Ich will nicht so neugierig wirken, auch wenn ich es in Wahrheit bin.

„Hast du irgendwelche Lieblingsfilme?“, höre ich mich plötzlich fragen.

Er blickt überrascht auf.

„Ich frage nur, weil ich… ja im Moment nicht viel zu tun habe“, sage ich schulterzuckend und komme mir dabei ziemlich dämlich vor.

„Also, ich glaube, mein Lieblingsfilm ist Inception. Hast du den mal gesehen?“, fragt er.

„Ich bin mir nicht sicher“, erwidere ich, „Worum geht es da?“

„Es geht um Leute, die die Träume von anderen manipulieren können.“

„Klingt unheimlich“, erwidere ich.

„Ja, der Gedanke ist ziemlich gruselig“, sagt er, „Aber der Film ist mega cool: Da ist diese Gruppe von Leuten, die versucht, einen Gedanken in die Psyche eines millionenschweren Erben einzupflanzen, sodass er die Firma seines Vaters verkauft. Also reisen sie in seine Träume und kommen dabei immer eine Ebene tiefer in sein Unterbewusstsein. Das ist total gut gemacht: Die erste Ebene ist eine Stadt, die zweite ein Hotel und die dritte eine Alpinlandschaft, und dabei werden sie die ganze Zeit von solchen Agenten verfolgt, die sein Unterbewusstsein repräsentieren. Es ist cooler, wenn man es im Film sieht.“ Seine dunklen Augen leuchten, als er mir davon erzählt. „Ich kann ihn dir ja mal zeigen, wenn du magst.“

„Ja, gern“, erwidere ich.

Während ich meinen Toast aufesse, erzählt Jakob mir noch von The Departed (habe ich ebenfalls nicht gesehen), Ocean’s Eleven (da klingelt was) und den Avengers-Filmen (von denen ich vielleicht einen oder zwei gesehen habe, aber mehr nicht).

„Mir ist gerade etwas eingefallen, wie wir deinem Allgemeinwissen etwas auf die Sprünge helfen können“, meint er plötzlich, nachdem ich mein Geschirr zurück in die Küche gebracht, und mich danach wieder zu ihm gesetzt habe.

Er steht auf, geht ins Haus und kehrt einen Moment später mit einem Handy zurück.

„Das ist mein altes Handy, du kannst es haben“, sagt er, doch ich verstehe nicht ganz, wie mir ein Handy bei meinem Gedächtnis weiterhelfen soll.

„Der Akku hält nicht mehr lange, vielleicht noch zwei oder drei Stunden, deshalb habe ich mir auch ein neues gekauft“, meint er, „Die PIN ist 1307 – mein Geburtstag.“ Er tippt auf dem Bildschirm herum, dann reicht er mir das Handy. ‚Das Quiz‘ steht auf dem Monitor.

„Das ist eine App, auf der du gegen andere Leute spielen kannst. Warte kurz.“ Er nimmt sein neues Handy und tippt ein paarmal auf den Bildschirm. Plötzlich erscheint ein Pop-up auf meinem Bildschirm: ‚Jakob137 fordert dich zu einem Spiel auf‘.

„Du musst auf ‚Annehmen‘ klicken“, sagt er, was ich auch tue.

Nun kann ich zwischen verschiedenen Kategorien wählen und entscheide mich für ‚Kunst‘. ‚Welcher Künstler zählt zum Impressionismus?‘ lautet die Frage. Ich weiß, dass ‚Claude Monet‘ die richtige Antwort ist. Die Antworten zu den nächsten Fragen kenne ich zwar nicht, aber ich rate zumindest einmal richtig.

„So, und jetzt bin ich dran“, meint Jakob, nachdem ich zu Ende gespielt habe. Er bekommt nun die gleichen Fragen wie ich gestellt und darf in der nächsten Runde die Kategorie der Fragen wählen. Die Idee ist wirklich nicht schlecht, und dazu macht es noch Spaß, sich ein bisschen mit ihm zu duellieren.

Wir spielen einige Runden und necken uns gegenseitig, wenn mal einer eine Frage falsch beantwortet, die der andere richtig hat. Wir sind solange beschäftigt, bis plötzlich Luchsi angetrabt kommt und zu uns auf die Couch springt. Ich zucke zusammen und weiche reflexartig zurück.

„Luchsi, das sollst du doch nicht!“, lacht Jakob und streichelt der Hündin über den Kopf. Mit Blick zu mir meint er dann: „Ich glaube, sie will, dass ich mit ihr Gassi gehe. Magst du mitkommen?“

„Klar“, erwidere ich und stehe auf, auch um ein paar mehr Zentimeter zwischen mich und den Hund zu bringen. So ganz geheuer ist der mir nämlich immer noch nicht…

Bevor wir gehen, schlüpfe ich in meine eigenen, mittlerweile ebenfalls gewaschenen Schuhe und wir treten nach draußen. Es ist wieder angenehm warm, genauso wie gestern, die Sonne scheint, und eine leichte Brise weht über uns hinweg.

Wir laufen dieses Mal nicht in Richtung des Waldes, aus dem ich gekommen bin, sondern einen anderen Hügel hinauf, der von Feldern gesäumt wird und später ebenfalls in den Wald führt. Der Wald scheint hier allgegenwärtig zu sein, es dauert immer nur ein paar Minuten, bis man dort ist, und er scheint teilweise so dicht zu sein, dass man sich leicht darin verlieren könnte. Noch immer frage ich mich, wie ich vor zwei Tagen ganz alleine den Weg hinaus gefunden habe…

Luchsi scheint heute ganz besonders aufgedreht zu sein, sie zieht ungeduldig an der Leine, sodass Jakob letztendlich doch nachgibt: Erneut entfernen wir uns vom Weg, dieses Mal allerdings nur, um in einem der Felder weiterzulaufen. Das Korn ist bereits geschnitten worden, sodass es einfach ist, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Jakob hat Luchsi von der Leine losgemacht, und sie sprintet sofort los, nur um kurz darauf mit einem Stock im Maul zu ihm zurückzukehren.

Die Prozedur wiederholt er ein paar Mal, bevor wir weiterlaufen. Nach einer Weile sind wir wieder im Wald und kommen an einem eingezäunten Gelände vorbei.

„Das da drüben ist der Reiterhof“, sagt Jakob, während wir uns nach links wenden. Der Waldrand befindet sich rechts von uns, wenige Meter davor steht eine kleine Kapelle. Doch wir laufen weiter auf der linken Seite, die von Feldern und Wiesen gesäumt wird. Plötzlich sehe ich wie aus dem Nichts zwei weitere Häuser vor uns auftauchen.

Ich bin ein wenig überrascht, dachte ich doch, hier oben würde niemand mehr wohnen. Ebenso überraschend ist die Tatsache, dass die Häuser vielleicht hundert Meter auseinander stehen, aber dennoch kaum unterschiedlicher sein könnten: Das erste Haus ist klein und so heruntergekommen, dass es schon lange verlassen zu sein scheint. Das andere Haus hingegen ist groß und neu, das sieht man auf den ersten Blick. Es ist fast ebenso groß wie das Haus der Sommers, aber moderner, mit einem Wintergarten, riesigen Fenstern und… kann ich da oben, auf dem Dach, etwa einen Pool erkennen?

„Das ist Annas Haus“, sagt Jakob und deutet auf die Villa.

Das?“ Ich bin stehen geblieben und starre ihn entgeistert an.

„Ja. Ist noch gar nicht sooo lange her, dass sie hier eingezogen ist. Drei Jahre vielleicht? Auf jeden Fall, bevor sie Bürgermeisterin wurde…“

„Oh mein Gott, deine Tante muss extrem reich sein!“, stoße ich hervor.

„Sie… verdient ziemlich gut mit ihrer Baufirma“, meint Jakob.

„Das kann ich mir vorstellen“, erwidere ich, „Sie muss so hart für all das gearbeitet haben…“

„Oh ja, das hat sie wirklich. Umso cooler ist es, dass sie so auf dem Boden geblieben ist“, sagt er.

„Das stimmt, sie wirkt wirklich sehr nett“, entgegne ich und betrachte noch einmal das Haus, als plötzlich ein Geräusch aus dem anderen Haus ertönt. Ich zucke erschrocken zusammen, dachte ich doch, es wäre unbewohnt. Auf einmal öffnet sich die hölzerne Eingangstür, die gerade noch so in den Angeln zu hängen scheint. Luchsi stößt ein Knurren aus und ein ungutes Gefühl macht sich in meiner Magengrube breit.

Aus der entstandenen Öffnung tritt ein Mann, der uns wütend anschaut und auch gleich darauf zu schreien beginnt. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, als ich seine Stimme höre. Sie ist heiser und laut und seine Worte klingen schon beinahe wie eine Art Beschwörung, was sicher auch an dem manischen Blick seiner hellen Augen liegt. Ich verstehe kein Wort, vermutlich weil seine Sprache von einer Kombination aus Lallen und dem stärksten pfälzischen Akzent, den ich bisher gehört habe, geprägt ist. Luchsi fängt an zu bellen, während der Mann immer weiter schreit. Er kommt immer näher auf uns zu und ich sehe, wie fertig er aussieht: Seine Kleidung ist schmutzig und zerschlissen, seine Haltung gebückt und seine braunen Haare und der Bart ein einziges Durcheinander. Zunächst bin ich vor Schreck wie gelähmt, doch als er uns immer näher kommt, weiche ich erschrocken zurück und sehe gleichzeitig geschockt, wie Jakob sich schützend vor mich stellt.

„Das reicht jetzt!“, schreit er plötzlich, und ich zucke erneut zusammen. Ich hätte nicht gedacht, dass er seine Stimme erheben würde. Auch Luchsi ist verstummt.

„Lass uns in Ruhe, Eddie! Verschwinde!“

Das Gesicht des Manns verzerrt sich erneut zu einer wütenden Fratze, und ich habe schreckliche Angst davor, was als nächstes passieren wird. Er setzt zu einer Antwort an, und ich sehe, wie Jakobs Körper sich noch mehr anspannt, doch dann fällt der Blick des Mannes plötzlich auf mich. Er erstarrt in seiner Bewegung und die vor Wut zusammengekniffenen Augen weiten sich auf einmal. Sein Mund steht weit offen und er fixiert mich mit einem derart intensiven Blick, dass sich meine Nackenhaare aufstellen. Im nächsten Moment dringt erneut ein Schrei aus seiner Kehle, doch dieser Schrei ist anders: Er formt keine Worte, sondern brüllt einfach nur, ein einziges angsteinflößendes Geräusch. Und dann rennt er los, zurück in sein Haus.

„Los, lass uns verschwinden!“, sagt Jakob in dem Moment. Ich sehe in seinem Gesicht, dass er ebenfalls Angst hat.

Wir nehmen die Beine in die Hand und rennen zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Ich halte nicht an, bis wir zurück auf dem Weg sind, der auf beiden Seiten von Feldern gesäumt wird, und auch dann bleibe ich nur stehen, weil Jakob es tut. Luchsi hat die ganze Zeit gebellt, bis gerade eben.

„Was war das?“, stoße ich mit brennender Lunge hervor.

„Keine Ahnung“, erwidert Jakob kopfschüttelnd, während auch er nach Atem ringt. „Der Typ ist schon immer total gestört, aber so… so habe ich ihn noch nie erlebt.“

Ich kann immer noch kaum fassen, was gerade passiert ist. „Wer war das?“, frage ich atemlos.

„Der verrückte Eddie“, entgegnet er, und nach einer kurzen Atempause fährt er fort: „In jedem Dorf gibt es einen Verrückten. Und das ist der von Völkersweiler.“

„Mein Gott, Jakob“, stoße ich hervor, „Ich… ich hatte solche Angst um dich!“ Erst jetzt spüre ich, dass ich am ganzen Körper zittere. Jakob sieht mich an. Der Blick seiner dunklen Augen ist unergründlich.

„Hey, komm her“, murmelt er dann und zieht mich an sich.

Erst jetzt, in seiner Umarmung, verliere ich die Anspannung von eben und erlaube mir, durchzuatmen. Ich ziehe ihn ebenfalls an mich und atme tief durch.

„Es tut mir so leid, dass das passiert ist“, sagt er dicht neben meinem Ohr. Ich löse mich wieder soweit von ihm, dass ich in sein Gesicht blicken kann.

„Ich habe den Kerl auch noch nie so erlebt, das musst du mir glauben. Sonst wären wir nie dort lang gelaufen.“

Ich nicke. „Und wie ist er dann normalerweise“, frage ich mit gesenktem Blick.

„Er motzt einen schon mal an, wenn man sich zu laut unterhält und dabei vor seinem Haus steht. Aber ansonsten ist er harmlos, ehrlich.“ Jakob seufzt. „Sollen wir zurück nach Hause gehen?“

Ich nicke und muss schlucken. Der erste Schreck hat sich gelegt, aber meine Knie zittern immer noch.

„Okay, dann los“, meint er, und erst jetzt merke ich, dass ich mich immer noch an ihm festhalte. Schnell lasse ich ihn los und hoffe, dass er nicht bemerkt, wie mir das Blut in die Wangen schießt.

Wir schweigen auf dem gesamten Weg, und nicht mal Luchsi gibt einen Ton von sich. Sie scheint zu spüren, wie angespannt unsere Stimmung ist.

„Kann ich dich was fragen?“, breche ich das Schweigen, nachdem Jakob die Haustür aufgeschlossen hat.

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