Kitabı oku: «Sogitta», sayfa 3
Lilla konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Aber Rofon, das war bestimmt ein Scherz!“
„Nein! Das war es nicht.“
„Na meinetwegen, vielleicht wissen die Zwerge noch gar nicht so genau, wovor Drachen Angst haben. Es war ja auch bis vor einer Woche noch keiner zu Besuch in Sogitta.“ Rofon sah, wie eine dicke Zwergenträne Lillas Wange hinunterlief. Eine dicke, fette Zwergenträne. Lilla leckte die Träne ab. Sie war salzig. Sie dachte an ihre Eltern. Rofon legte ihr seinen Arm um die Schultern. Er wusste, warum sie weinte.
„Alles wird wieder gut! Bestimmt. In drei Monaten sitzen wir alle zusammen im Garten und erinnern uns an das Ganze hier bloß noch.“ Lilla schaute Rofon an.
Ihr Blick brachte ihn zum Verzweifeln! Er mochte es nicht, seine Kindergartenfreundin so bedribbelt sehen zu müssen. Wo war nur die fröhliche Lilla mit den braunen Ringellöckchen geblieben? Einen Moment lang hatte er Angst, dass Lilla von nun an immer so ernst sein würde, doch dann sagte er sich: „Ach was! Bald ist alles vorbei!“
Rofon ahnte ja nicht, wie sehr er sich irrte.
o
4. Kapitel
Bis zum Mittag hin blieb die Stimmung unter den Bewohnern gedrückt. Irgendwann jedoch versammelte sich ein Teil der Kinder, um ein bisschen zu plaudern und sich Witze zu erzählen. Sogar Cyta, die selbstverständlich immer noch todunglücklich war, gesellte sich zu den anderen. Bald sah man eine lange Reihe von Kindern den Weg entlang marschieren.
„He, Leute! Ich hab einen guten! Eine Tomate kommt aus dem Haus. Gustav fragt sie: Wo willst du hin? Darauf die Tomate: Zum Gericht!“
„Ich hab einen noch besseren! Herr Schuhmann sieht Bären. Sie wollen ihn fressen. Da holt Herr Schuhmann seinen Pinsel und malt die Bären blau an. Jetzt isst er die Blaubären! Hahahahahaha.“
Zum Erstaunen aller meldete sich auch Cyta zu Wort. Natürlich durfte sie sofort loslegen! „Ähm“, räusperte sie sich, als stünde eine wichtige Rede bevor. „Ich werde euch erzählen, wie der Hammerhai entstanden ist. Bei einem großen Haiwettkampf gab es die Disziplin Bummelfischfang. Die Bummelfische waren sehr schnell. Niemand erwischte einen. Nur Berthold gelang es, einen der flinken Bummelfische zu erwischen. Die anderen nannten ihn Superhai oder grandioser Hai – und einer sagte: Du bist echt der Hammer, Hai. Ab da nannte man die Nachfolger Bertholds Hammerhaie!“ Eine Weile blieb es still, dann fingen alle an zu lachen, wie auf Kommando!
Es folgten noch ein paar Witze, wie zum Beispiel dieser: Ein Cowboy geht zum Friseur. Als er rauskommt, ist sein Pony weg. Es liegt auf dem Boden des Friseursalons. Oder dieser: Freche Füchse fuchsen keine flinken Fauken auf dem Fett.
Anea, ein Junge aus Sogitta, baute mit seinen Freunden Fixi und Olsaf Schiffchen. Irgendwann fingen die drei damit an, anderen ihre Schiffchen auf den Kopf zu setzen. Dabei sangen sie das „Schiff auf und ab“-Lied:
„Schiff auf, Schiff ab, den Grund herab. Groß, klein, klein, groß, wie war denn das bloß? War mein Schiff lila, blau oder pink? Jetzt ist´s vorbei: Sink, sink, sink!“
Die meisten Bürgerinnen und Bürger waren nach einiger Zeit ziemlich genervt vom Bandenboss Anea. Anea hatte nämlich in Sogitta den Ruf, ein rechter Lausbub zu sein. Ein Jahr zuvor hatte er von seinen Eltern einen Plumpfer bekommen. Plumpfer funktionieren ähnlich wie Fahrräder, nur dass sie komplett aus Korb hergestellt werden und man nicht darauf sitzt, sondern liegt. Auf dem Bauch. Die Pedalen werden mit den Händen betätigt.
Seit Anea diesen Plumpfer besaß, fuhr er damit überall hin. Auf seinen Wegen hatte er sich mit Olsaf und Fixi angefreundet. Mittlerweile waren die drei unzertrennlich – und unschlagbar darin, sich Streiche auszudenken. Der Bürgermeister hatte schon einmal öffentlich während einer Sitzung darum gebeten, Anea seinen Plumpfer wegzunehmen. Doch da der Plumpfer Aneas Ein und Alles war, ließ man es ihm.
Anea rannte nun schon zum dritten Mal in die sich Witze erzählende Gemeinschaft und sang das Schiffchenlied. Lilla wusste, dass Anea es nicht leicht hatte. Keiner mochte ihn wirklich gern, nicht einmal seine Eltern, Großeltern und Tanten! Na ja, seine Mutter schon – doch sein Vater war Aneas wegen sogar ausgewandert! Lilla wusste auch, dass das, was sie vorhatte, nicht sehr vernünftig und nett war. Sie stürzte auf Anea los, schrie: „Aufhören! Bitte!!!“
Und als das nichts brachte, holte sie aus und verpasste Anea eine mächtige Backpfeife. Im selben Moment bereute sie es schon ... Lilla ärgerte sich! Ständig machte sie Sachen, die sie danach sofort bereute. Hinter Lilla begannen immer mehr Kinder zu klatschen. Sie klatschten und riefen: „Super Lilla! Gib´s ihm!“, und sangen bald darauf im Chor: „Lilla ... Lilla ... Lilla ...“
„Ihr seid alle so gemein! Er kann doch nichts dafür, dass er so ist.“ Lilla bahnte sich einen Weg durch die Menge und rannte los. Immer der Nase nach, den Langen Weg entlang. Als sie nicht mehr zu sehen war, verstummten die kleinen Zwerge.
Die Blicke wendeten sich auf Anea. Der schlich sich seitlich aus der Menge heraus und trottete hinter Lilla her. Alle anderen blieben fassungslos zurück.
Inzwischen war eine Zeit vergangen und Lilla eingeschlafen, und zwar auf einem großen, spitzen, bestimmt nicht sehr bequemen Stein. Anea lief immer noch. Er suchte Lilla. Die Sonne war schon wieder auf dem Weg nach unten und bereit, mit dem Mond die Stellung zu tauschen.
Da sah Anea etwas Goldenes vor sich aufblitzen. Es war ein Tor! „Boah“, staunte er und trat einen Schritt zurück. Sein Herz pochte und ihm wurde ganz kalt. Auf der Spitze des Tores prangte eine goldene Rose. Das Wappen Fulmens! Riesengroß türmte sich das goldene Tor vor dem Zwergenjungen auf und bei dieser Sonne glänzte es in seiner vollen Pracht! Goldenes Licht hüllte Anea ein, der immer noch fassungslos die Schönheit auf sich wirken ließ.
„Boah!“ Langsam begann Aneas Herz sich zu beruhigen. Er blickte auf das im Abendrot glänzende Tor. Anea ging weiter und vergaß für einen Augenblick, dass er ja eigentlich Lilla suchte. Lilla, die vor lauter Müdigkeit kaum noch hatte sehen können und sich – ohne es zu merken – auf einem Stein direkt vor dem gewaltigen Torbogen niedergelassen hatte.
Nun schlug sie ein Auge auf. Sie erhob sich und wusste für einen Moment nicht, ob sie immer noch schlief oder bereits wach war. Vor sich sah sie ein riesiges goldenes Tor und einen winzig kleinen Jungen. Anea! Leise stand Lilla auf. „Hallo“, flüsterte sie. Blitzschnell drehte Anea sich um. „Ach du bist es“, sagte er und gab vor, sich nicht für sie zu interessieren. Dann wandte er sich wieder dem Tor zu.
„Tut es noch sehr weh?“, fragte Lilla vorsichtig. Ihr schlechtes Gewissen machte sich erneut in ihr breit.
„Geht so“, grummelte Anea.
„Anea, weißt du, es tut mir leid. Ehrlich. Aber du wolltest ja nicht aufhören!“
„Mag sein.“
Lilla war vor Anea getreten, doch es schien, als blicke dieser durch sie hindurch. Lilla beschloss, es nicht weiter zu versuchen. Stumm stellte sie sich neben Anea und schaute auf das Tor, starr wie er. „Das ist wahnsinnig, vollkommen!“, staunte sie. „Das Tor, das Licht! Findest du nicht?“
„Lilla“, sagte Anea ganz ernst, ohne auf ihre Frage einzugehen, „willst du in unsere Bande aufgenommen werden? Du bist stark und mutig!“
Lilla glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Anea bot ihr tatsächlich einen Platz in seiner Bande an?! Hielt er das nicht selbst für Quatsch? „Ihr macht doch immer nur Blödsinn! Warum sollte ich da mitmachen?“
Anea war gekränkt.
Plötzlich hörte man Rufe. „Lilla! Lillaaaaaaaa!“
„Das ist das Dorf!“, freute sich Lilla. Sie tanzte um Anea herum. „Das Dorf ist da! Hurraaa! Hurraaa!“ Ihr fiel es kaum auf, dass Anea nach einem letzten kurzen Blick auf die Kommenden langsam einen großen Stock in die Hand nahm und hinunter in die Steppe lief. Sie selbst eilte den anderen Zwergen entgegen, heilfroh über deren Ankunft, während Anea, hinter einem Hang lauernd, das ganze Geschehen beobachtete. Er sah zu, wie Rofon Lilla in die Arme fiel und wie sie sich etwas zuflüsterten. Er hörte gedämpft, wie Rofon lachte. Wut kroch in Anea hoch. Er war sich sicher, dass Lilla Rofon erzählt hatte, dass er sie hatte in die Bande aufnehmen wollen. Sein Blick fiel nun auf den Bürgermeister. Wie wild fuchtelte der mit etwas herum. Er schimpfte mit Aneas Mutter, die den Worten des Dorfoberhauptes verstört folgte. Anea kochte! Seine Finger umklammerten den Stock. Er kroch den Hang hinauf. Auf allen vieren näherte er sich dem Bürgermeister.
Plötzlich sprang er auf, nichts mehr schien ihn zu halten! Er stürmte auf den Bürgermeister zu – bereit, ihm den Stock auf den Kopf zu schmettern! Er rannte und rannte und rannte und war schon fast angekommen, als es passierte: Gerade als er sich zum Absprung bereit machte, brachte eine Wurzel ihn zum Stolpern! In einem riesigen Bogen flog er auf den Boden. Dabei glitt ihm der Stock aus der Hand. „Aaaaa Aaaaaaaa Aaaaa!“ Anea blieb wie tot auf dem Boden liegen. Ein greller Schmerz zog durch seinen Kopf.
„Anea, um Himmels willen.“ Seine Mutter wollte ihn an sich reißen, um ihn zu trösten. Der Bürgermeister kam ihr jedoch zuvor. Ihn hatte der Stock tatsächlich noch am Kopf getroffen. Rot vor Wut hielt er Anea am Kragen hoch. „Das war ein geplanter Mordversuch!“, schrie er. Es war nicht das letzte Mal, dass der Bürgermeister mit dem Stock auf Anea einschlug, sodass dem Hören und Sehen verging.
„Neiin! Hören Sie sofort auf, meinen Sohn zu schlagen!“
Doch der Bürgermeister dachte nicht daran. Wie auf ein lebloses Stück Rinde schlug er auf Anea ein. Anea spürte kaum noch etwas. Er wollte sich nicht wehren. Endlich ließ der Bürgermeister den Stock fallen und Anea auf den Boden plumpsen. Frau Abtschik nahm ihren Sohn in den Arm. Viele Zwerge hatten sich im Kreis versammelt und zugeschaut, aber unternommen hatten sie nichts.Lilla bekam von alledem nichts mit. Sie stand wie hypnotisiert vor dem goldenen Tor. Der Bürgermeister schien das Tor noch gar nicht bemerkt zu haben, und als er schließlich neben Aneas Mutter weiterging, staunte er nicht schlecht, als es vor ihm auftauchte.
„Himmel noch mal!“, murmelte er. Mit einem Handwink bestellte er die kräftigen Männer zu sich. Sie kamen schnell. „Geht und schaut nach, ob Wachposten das Tor bewachen!“, sagte er. Die Männer nickten und zogen ab.
Vor dem Tor standen tatsächlich fünf uniformierte Kerle. Als die Kräftigen näher traten, streckten die Wachmänner ihnen ihre Schwerter entgegen.
„Wir wurden von Drachen bedroht und sind jetzt seit drei Tagen unterwegs. Es ist heiß auf dem Langen Weg. Wir sind schon fast am Verhungern und Verdursten. Euer Dorf ist das nächste, ihr gnädigen Herren. Lasst uns hier quartieren! Bitte!“
Die Wachen blieben misstrauisch. Einer lief den Stadthöchsten holen. Die Kräftigen diskutierten eine halbe Ewigkeit mit dem Bürgermeister Fulmens. Zum Schluss, und nachdem sich die Bürgermeister gegenseitigen Frieden geschworen hatten, durften die Sogittaner eintreten.
Nachdem die Sogittaner das prachtvolle Tor gesehen hatten, waren sie allerdings von der grauen Stadt, die sich dahinter verbarg, etwas enttäuscht. Die Häuser waren fast alle grau und schmuddelig. Nur zwischendurch stachen ein paar grellrote heraus.
Frau Abtschik, Aneas Mutter, ging einen anderen Weg als die anderen. Sie irrte in den engen Gängen herum und suchte nach einem Arzt. Doch weit und breit war keiner zu finden. Frau Abtschik fühlte sich beobachtet, viele schaulustige Fulmaner betrachteten die neue Bürgerin und ihren Sohn, wie sie durch die Straßen liefen. Die Dunkelheit breitete sich aus. Irgendwann wandte sich Frau Abtschik an eine Bäckerin. „Entschuldige“, fragte sie vorsichtig.
„Was ist los?“, krähte die alte Frau.
„Wo bitte ist hier im Dorf der nächste Doktor?“
„Bloß geradeaus, dann links und wieder links, anschließend rechts über das Feld und noch einmal links in einen kleinen Waldweg rein. Auf der rechten Seite ist die Praxis von Doktor Wieswurzer.“
„Links, links, rechts, links, rechte Seite! Vielen Dank“
„Keine Ursache!“
Frau Abtschik nickte der Bäckerin einmal zu. Dann machte sie sich auf den Weg.
o
5. Kapitel
Die Bürgerinnen und Bürger Sogittas waren unterdessen in verschiedenen Häusern untergebracht, die Kinder auf Schule, Kindergarten und Sporthalle verteilt worden. Die Erwachsenen mussten auf sehr egoistische Art und Weise um die Gunst der Fulmaner kämpfen, indem sie sich auf einer Bühne öffentlich präsentierten und ihre Stärken anpriesen. Diese Darbietungen gingen bis zum Ende der Nacht. Jeder hatte zwei Minuten Zeit sich zu beweisen. Rofons Eltern kamen fast ganz zum Schluss dran, nach über fünfzig anderen.
„Hallo!“ Jetzt war Rofons Vater an der Reihe. „Mein Name ist Reirar, Reirar Düves. Also, ich will mich nicht beweisen. Ich finde mich – so wie ich bin – gut genug und denke, man sollte sich nicht besser machen, als man ist. Außerdem will ich ohnehin mit meiner Frau Baba zusammen sein. Und ich halte es für Quatsch, dass die Kinder nicht bei ihren Eltern bleiben können. Ich bin übrigens 32 Jahre alt und von Beruf Maurer. Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit!“ Mit einem Räuspern strich er sich nach dieser kurzen Rede ein paar Haare aus dem Gesicht.
Die Leute klatschten. Nach Reirars Auftakt kamen noch ein paar Reden dieser Art. Auch Baba schloss sich natürlich den Worten ihres Mannes an. Die Sogittaner erreichten auf diese Weise, dass die Kinder gemeinsam mit ihren Eltern in Pflegehäusern untergebracht wurden.
Lilla bat Rofon, mit ihr zusammen in der Schule zu bleiben, doch er zog zusammen mit seinen Eltern zu einer alten Dame, die Reirars Rede ganz sensationell fand. Und da Reirar ja ausdrücklich gesagt hatte, nur mit seiner Frau zu kommen, nahm die alte Frau mit dem Namen Fkakas die ganze Familie auf. Lilla musste sich mit Krolle, Tolla, Fixi, Olsaf, Freddel, Pinka, Limbi und Langa ein äußerst kaltes und enges Klassenzimmer in der Katsch-Pfolster-Grundschule in Fulmen teilen. Eigentlich waren pro Klassenzimmer zehn Kinder vorgesehen. Dass sie nur zu neunt waren, lag daran, dass das Zimmer von einer Klasse mit insgesamt nur fünf Schülern und Schülerinnen genutzt wurde und dementsprechend klein war. Langa, Limbi, Tolla und Lilla, die vier Mädchen im Raum, richteten sich ihre Schlafplätze in der linken Ecke ein. Es war sehr staubig, dafür aber weit weg von den sich stapelnden Mülleimern. Ihre Betten mussten sie aus alten Geschirrhandtüchern und Windeln zusammenstellen. Mit einem halben Tafelschwamm als Kissen schliefen sie wenige Stunden später erschöpft ein. Das war kein Wunder, schließlich waren sie noch vor geringer Zeit den Langen Weg entlang gegangen, am Ende sogar ohne Brot und Wasser!
Während die Kinder sich auf den Böden von Schulen, Sporthallen und Kindergärten tummelten, suchte die arme Frau Abtschik im Stockdunklen nach dem Arzt.
„So“, murmelte sie, „wenn ich mich nicht täusche, dann wird hier gleich auf der rechten Seite der Doktor Wieswurzer aufzufinden sein.“ Sie blickte sich um. Nichts deutete darauf hin, dass in der Nähe die Praxis eines Arztes sein könnte … oder doch. Da hinten, war das nicht ein glänzendes Schild aus Metall? Hastig eilte die Ärmste weiter. Treffer! Auf dem Schild stand groß und fett, in schnörkeligen Lettern geschrieben:
DOCTOR WIESWURZER
EHRENAMTLICHER ARZT FÜR
KÖRPERVERLETZUNGEN
IN DER WOCHE VON
12:00 UHR BIS 18:00 UHR GEÖFFNET
„Mist!“ Enttäuscht ließ sich Rofons Mutter auf dem Boden nieder. 18:00 Uhr! Das war schon längst vorbei. Aber zurückgehen und morgen wiederkommen? Nein! Vollkommen ausgeschlossen. Es ging hier vielleicht um das Leben ihres Sohnes. Frau Abtschik seufzte. Sie streichelte ihrem Sohn über die Stirn. Anea war ganz verbeult und hatte eine riesige blutende Schramme im Gesicht. Vorsichtig bettete sie ihn neben sich und stand auf. Der Mond schien hell. Da erblickte die Frau plötzlich auf der anderen Seite des Waldweges einen Drachen! Schnell griff sie sich einen Stock. Doch das Ungeheuer beachtete sie gar nicht. Endlich begriff sie. Es war ein steinernes Tor – in Form eines Drachen! Bewundernd legte sie eine Hand auf das Kunstwerk. Langsam entzifferte sie, was darüber geschrieben stand:
Graf Dodboor Katsch-Pfolster ritt 1412 auf dem goldenen Drachen des Drachenstaates in eine weit entfernte Gegend. Er gründete ein Dorf, das sich für alle Zeit dem Drachenstaat verbunden fühlen sollte, und nannte es Fulmen. Eines Tages werden die Drachen die ganze Zwergenwelt erobern! Fulmen jedoch soll verschont werden, da die Fulmaner den Drachen immer die Treue gehalten haben.
Bestürzt blickte Frau Abtschik den Drachen hinauf. Wenn das, was sie soeben gelesen hatte, der Wahrheit entsprach, schwebten die Sogittaner in allerhöchster Gefahr! Sie wollte etwas tun, wusste jedoch nicht, was. Doch eines war ihr absolut klar: Sie würde niemals zu einem fulmanischen Arzt gehen. Womöglich würde dieser die Verletzungen ihres Sohnes nicht heilen, sondern dafür sorgen, dass sich sein Zustand noch verschlechterte. Rückwärts ging sie zurück und stolperte über einen Stein. Bleich vor Angst blieb sie liegen. Das Dorf Sogitta war Verrätern in die Hände gefallen! Frau Abtschik setzte sich auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Plötzlich rief sie jemand. Rufen ist übertrieben … jemand quiekte.
„Mama!“
„Anea! Du bist wieder wach. Wir müssen weg, hörst du? Fort aus diesem Dorf, wir alle!“
„Aber Mama!“
„Nichts aber! Komm!“
Vorsichtig wollte Anea aufstehen. „Ich schaffe es nicht! Meine Beine sind zu schwach!“
Frau Abtschik nahm ihren Sohn in den Arm, um ihn zu tragen. Immer weiter. Wohin, das wusste sie nicht …
Weit weg in der Katsch-Pfolster-Grundschule schliefen die Zwergenkinder eingekuschelt in ihren Tüchern. Nichts ahnend träumten sie von Streuselkuchen und Kakao am Morgen. Dieser sollte nicht lang auf sich warten lassen.
Schon bald aber ertönte ein ohrenbetäubender Gong, der normalerweise den Beginn des Unterrichts einläutete. Die Zwergenkinder waren alle noch sehr müde. Lilla verkroch sich in ihrem Kleid. Neben ihr versteckten sich die anderen Mädchen in den Geschirrtüchern.
Die Jungen waren schon lange auf den Beinen und kickten mit einem alten Kirschkern herum. Dabei riefen sie „Foul!“ und „Tor!“
Erst jetzt fiel Lilla auf, dass Anea nicht da war. Sie überwand ihre Müdigkeit und stand auf. „Jungs!“, rief sie. „Wo ist euer Freund Anea?“
„Weiß ich nicht“, knurrte Olsaf, „hab ich mich auch schon gefragt.“
„Manche sagen, er wurde vom Bürgermeister übelst verprügelt und jetzt geht seine Mutter mit ihm zum Arzt!“
„Danke, Fixi. Ich werde mal schauen, ob ich die beiden finden kann. Nach dem Frühstück gehe ich los.“
„Mensch Lilla, du bist wirklich verrückt!“, riefen ihr die Mädchen hinterher, aber Lilla verschwand schon im Speisesaal. Der Geruch war zu verlockend, als dass sie ihm hätte widerstehen können. Lilla nahm sich ein paar gegrillte Blattläuse mit Schneckenschleimsoße. Dazu noch einen in Blätter eingelegten Maikäferflügel und herrlichen Regensaft mit Sprudel. An ihrem Tisch saßen noch vier andere Mädchen. Wie blöd! Mädchen waren immer so fein – und das war Lilla nun wirklich nicht. Sie selbst benutzte nicht einmal ihre Stöckchen, um zu essen. Alles grub sie sich mit den Händen in den Mund. Leider wurde dabei fast der gesamte Saal auf sie aufmerksam, denn das Stöhnen der vier anderen, die sich über ihre „fehlenden Manieren“ aufregten, hatte Aufsehen erregt. Lilla beeilte sich sehr.
Als sie fertig war, schmiss sie ihr Geschirr förmlich in das Putzbecken und rannte sofort los, bis vor die Eingangstür der Schule – dort wusste sie nicht weiter. Sie war so blöd gewesen, sich das Ganze so einfach vorgestellt zu haben. Nun stand sie vor der Tür und wusste nicht weiter. Vielleicht sollte sie Rofon fragen, ob er ihr bei der Suche half. Wo er wohnte, wusste sie: einmal rechts und dann wieder rechts in einen düsteren Gang. Die Zwergin brauchte nicht lang zu überlegen, es war ohnehin eine gute Idee, Rofon einzuweihen.Außerdem könnte sie ihren besten Freund sehen. Lilla steuerte in den düsteren Gang, der auf der rechten Seite lag. Inzwischen war sie einige Meter gelaufen, als auf der linken Seite ein von Pflanzen überwuchertes Haus auftauchte.
„Das muss es sein!“ Lilla schaute nach, ob es eine Klingel gab. Aber nirgends wurde sie fündig. Es gab nur einen verrosteten Türklopfer in Form eines Drachenkopfes. Lilla staunte – es war ein prächtiger Drache. Sie hob ihn an, ließ ihn wieder fallen, nichts passierte. Noch mal: anheben, fallen lassen. Wieder nichts. Oder doch? Ja, irgendwo erkannte sie die Umrisse der nun geöffneten Tür, wenig später wurden die bedächtigen Schritte lauter, langsam kam eine Gestalt auf die Tür zu. Lilla biss sich auf die Lippen. Die Tür wurde langsam aufgeschoben. Sie ächzte und quietschte.
„Was willst du?“, knurrte die alte Frau, die nun zum Vorschein kam.
„Sind sie Frau Fkakas?“
„Also wenn das ein Überfall sein soll, dann ...“
„Gewiss nicht, Frau Fkakas. Bei ihnen hausen doch Baba und Reirar mit ihrem Sohn Rofon, oder?“
„Nein, nein. Aber komm rein!“ Unsanft packte die alte Frau Lilla am Kragen und schob sie ins Haus. Die Tür fiel knarrend ins Schloss, dann war es totenstill. Lilla wagte einen Blick nach rechts und nach links. Weit und breit war keine Tür zu sehen.
„Wohnen Sie allein in diesem einen Raum?“, fragte Lilla neugierig.
Anstatt ihr zu antworten, hastete die Alte plötzlich stolpernd zur Tür hinaus!
„Halt“, schrie Lilla. „Wo wollen Sie denn hin?“ Es brachte nichts. Lilla hörte, wie die Alte das Haus abschloss. Bestimmt wollte sie zur Polizei! Lilla rief leise nach Rofon. „Rofon! Roofon! Wo bist du?“ Nichts geschah. Sie wollte gerade erneut rufen, als sie aus einer Ecke des Raumes ein leises Quietschen wahrnahm.
Vorsichtig begann sie die Wände abzuklopfen. Auf der ersten Seite hatte sie kein Glück. Erst auf der zweiten Seite wurde ihre Neugier belohnt. Einer der Holzblöcke glitt schon zurück, wenn man sich bloß an ihn lehnte. Dahinter befand sich ein tiefes schwarzes Loch, durch das Lilla zu schlüpfen wagte.
Alle Luft wich ihr aus den Lungen. Sie erstarrte zu Eis. Vor ihr saßen Baba, Rofon und Reirar! Nebeneinander, auf Stühlen gefesselt und geknebelt! Hastig befreite sie die drei. Reirar schloss Lilla in die Arme. Er zerdrückte sie fast!
„Vielen Dank! Ohne dich wären wir hier verrunzelt.“
„Ja, aber erzählt doch erst mal! Was ist denn überhaupt passiert?“
„Als wir hier abends ankamen, wirkte die alte Dame zuerst ganz nett. Sie kochte uns eine Suppe und trank mit uns Wasser aus dem Brunnen, das sie für uns holte ...“
„Ja und dann“, übernahm Rofon das Wort, „dann spielten wir zusammen ein ganz witziges Steinespiel – und ich habe gewonnen! Sie gratulierte mir, aber plötzlich wurde sie ganz unhöflich, packte uns und zog uns in dieses Loch. Anschließend fesselte und knebelte sie uns.“
Baba erzählte weiter: „Uns wurde klar, dass wir es mit einer Verschwörung zu tun haben. Aber es brachte uns ja nichts, das zu wissen. Die Frau verschwand und schloss die Tür von innen ab. Sie ging schlafen, während wir kein Auge zumachen konnten. Am nächsten Morgen hörten wir, wie du kamst. Wir konnten rein gar nichts unternehmen, um dich zu warnen. Also mussten wir tatenlos mit anhören, wie du in dem kalten engen Raum eingesperrt wurdest.“
Als die drei alles berichtet hatten, schaute Lilla sich ratlos um. „Wir müssen durch ein Fenster aussteigen, kommt! In dem Haus einer Frau, die Sogittaner verhungern und verdursten lassen will, bin ich nicht gerne Gast!“, meinte sie.
Die vier drängelten sich durch das schwarze Loch. Als alle draußen waren, sperrten sie das morsche Holz wieder vor. Die Alte musste nicht sofort wissen, dass ihre Gefangenen entkommen waren. Da gab es nur ein Problem: Das Fenster nach draußen war vergittert.
„Mist“, fauchte Lilla, es klang wie das Fauchen einer Katze.
„Papa“, sagte Rofon, „nimm mich auf die Schultern.“
Reirar tat, was sein Sohn verlangte. Behutsam hob er Rofon hoch und hielt ihn an seinen Füßen fest. Rofon war am kleinsten. Er schaffte es, sich bis zum Bauch durch das Loch zu zwängen, doch dann steckte er fest. „Hilfe, Hilfe!“, rief er. „Hilfe!“ Es brachte nichts, niemand kam vorbei.
„Wer ist der Stärkste hier?“, fragte Lilla.
„Ich glaube Papa!“
„Reirar, versuch mal, dich gegen das Gatter zu stemmen!“
Reirar nickte. Er schmiss sich mehrere Male nacheinander gegen das Gitter, leider ohne Erfolg. „Keine Chance!“, bestätigte er.
Zur gleichen Zeit ging Frau Abtschik mit ihrem Anea durch den Gang und an dem Haus vorbei, indem die vier eingesperrt waren. Als sie ein paar Gesprächsfetzen aufschnappte, erkannte sie die Stimmen ihrer Nachbarn. „Du bleibst hier!“, befahl sie Anea. „Du bist noch zu schwach!“
Anea erwiderte nichts. Er sah zu, wie seine Mutter über den Zaun kletterte, der das Grundstück vom Gang trennte. Sie lugte durch das Fenster. „Hey!“, rief sie. Die im Haus arbeitenden Zwerge erschreckten sich zu Tode, doch nachdem sie sich von ihrem Schock erholt hatten, verloren sie keine Zeit.
„Gnädige Frau“, sagte Reirar, „sehen Sie sich dazu imstande, mit einem Ast das Gitter zu durchbrechen?“
Frau Abtschik versuchte ihr Glück. Tatsächlich gab das Gitter ein bisschen nach! Bald war es nur noch an einem Ende der Wand befestigt. Für Rofon und Lilla genügte das, um sich zu befreien. Und auch die Erwachsenen kamen mit der Hilfe aller sicher heraus. Dankbar blickten alle der Retterin ins Gesicht. Frau Abtschik errötete. „Hab ich doch gern getan!“, sagte sie.
Baba spendierte allen, auch Anea, ein leckeres Blaubeereis von dem letzten Notgroschen in ihrer Hosentasche. „Hmm, lecker!“ Die Jungen stimmten Lilla zu.
Als die Kinder ihr Eis aufgeschleckt hatten, machten sie Wettlaufen. Lilla gewann immer, was aber bestimmt daran lag, das Anea noch immer geschwächt war und nicht gut laufen konnte.
„Warum hat dich der Bü-Mei eigentlich verkloppt?“, wollte Rofon von ihm wissen. Lilla hatte ihn im Haus der alten Dame über ihren eigentlichen Grund zu kommen eingeweiht.
„Ich hatte einfach ungeheure Wut. Alle riefen nach Lilla. Dass sie mich wieder gefunden hatten, interessierte niemanden. Ich hatte gar nichts vor. Ich wollte nur nicht bei euch sein, bei euch anderen. Ich hatte auch mit dem Stock zunächst nichts vor. Ich weiß nicht genau, warum ich den überhaupt aufgehoben habe! Aber als ich dann sah, wie der Bü-Mei mit Mama schimpfte, fand ich es gar nicht so schlecht, eine, ich nenne es jetzt mal Waffe, bei mir zu haben. Ich bin also losgerannt, in der Hoffnung diesen Kerl von meiner Mutter fernzuhalten. Aber wie sollte es auch anders kommen. Ich bin gestolpert und in voller Länge auf den Boden geknallt. Natürlich ließ ich den Stock dann auch los. Leider flog der genau auf den Kopf des Bürgermeisters. Alles tat mir weh, ich hatte das unangenehme Gefühl, mein Bein würde bald abfallen.“ Er lächelte kurz. „Na, ja. Wie ihr seht, ist mein Bein noch dran. Jedenfalls hätte ich es nicht geschafft wegzulaufen, darum hab ich das gar nicht erst probiert. Unser sympathischer Bürgermeister packte mich und fing an mich zu verdreschen. Und das nicht gerade feinfühlig! Dann muss ich bewusstlos geworden sein!“
Rofon starrte ihn entgeistert an. „Du wolltest den Bürgermeister umbringen?“
„Nein! Ich wollte ihm doch nur einen Denkzettel verpassen.“
„Dafür hast du ganz schön büßen müssen“, gab Lilla zu bedenken.
Anea zuckte mit den Schultern und blickte auf den Boden, es war ihm peinlich.
„Wir sollten uns beeilen!“, wechselte Lilla abrupt das Thema. „Sicher gibt es schon bald Mittagessen in der Schule. Es dürfte nicht mehr lange dauern.“
„Na gut. Beeilen wir uns!“
Lilla und Rofon nahmen Anea abwechselnd auf die Schultern und trugen ihn so zum Schulzentrum.
Frau Abtschik lächelte. Sie war mit Rofons Eltern zurückgeblieben. „Rührend, wie Ihr Sohn und seine Freundin sich um meinen Anea kümmern. Ein tolles Mädchen, diese Lilla.“
Rofons Eltern nickten.
„Ihr Sohn natürlich auch!“, setzte sie so hastig hinzu, dass man es kaum verstehen konnte. Reirar und Baba fingen plötzlich beide an zu lachen. Bald schon lachten alle drei. Sie lachten und lachten und lachten.
In der Schule war das Essen tatsächlich bereits aufgetischt. Sämtliche Mädchen schauten Lilla an. Beim Essen, beim Trinken, bei allem, was sie tat. Sie fanden die Vorstellung, mit Jungen befreundet zu sein, verrückt. Lilla störte das nicht weiter. Sie und die beiden Jungen saßen an einem Tisch, tranken aus einem Glas, aßen von einem Teller und lachten.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.