Kitabı oku: «Der Klavierschüler», sayfa 2
III
Das Bettzeug war aus Frottee, bedruckt mit Zwergen. Bügelfrei, sagte Kaufmann. Meine Mutter hätte mich verstoßen. Nur reines Leinen, gestärkt, mit Monogramm. Er stand auf der einen Seite der Couch, der Fremde auf der anderen; gemeinsam zurrten sie ein Spannbetttuch über das Velourpolster mit Biedermeierstreifen.
Der Weg von der Bar in der Kanonengasse war nicht weit gewesen, zehn, zwölf Minuten waren sie durch die nasskalte Frühjahrsnacht gegangen. Kaufmann hatte es dem Fremden leicht gemacht. Er sei quasi frisch verwitwet und froh über Besuch, das Gästezimmer sei komfortabel. Doch während sie nebeneinander her spazierten, wurde ihm bewusst, dass die Zusage des Fremden, ein rasches, trockenes Ja, eigentlich nicht zu ihm passte.
Dem Tod entronnen, so viel war klar, aber was für einem Tod? Bei einem Attentat, einem Unfall, einem Raubüberfall? Oder auf dem Operationstisch? Schwer vorzustellen außerdem, wie dabei die Träumerei ins Spiel gekommen war. Der Fremde übernachtete offenbar gern bei ihm, gratis natürlich. Doch seine Schuhe, seine Lederjacke, seine Uhr, was er am Körper trug, kostete mehr als eine Woche im Baur au Lac.
Erst als das große Kopfkissen, das kleine Kopfkissen und die Steppdecke ebenfalls bezogen waren, sagte der Fremde: Danke.
Noch ein Glas Port oder Williamine?
Danke, nein, sagte der Fremde.
Ich hätte auch einen alten Zuger Kirsch.
Der Fremde schüttelte den Kopf.
Kaufmann fixierte ihn über die Kinderbettwäsche hinweg, zum ersten Mal in dieser Nacht.
Der Fremde erwiderte den Blick. Es lag darin nichts Bedrohliches oder Unaufrichtiges, auch nichts Gehetztes oder Haltloses.
Schrecklich daran war nur eins: diese Ruhe, nach dem, was gewesen war.
Gelassen sagte der Fremde: Gute Nacht. Folgsam schloss Kaufmann die Tür des Gästezimmers hinter sich.
Nico Kaufmann hatte einen Schlaf, um den ihn alle anderen in seinem Alter beneideten; ganz gleich was er gegessen hatte, selbst nach einer Schwerarbeiterportion Rösti oder Raclette, sobald er sich hinlegte, war er weg und schlief durch bis zum nächsten Morgen. Jetzt starrte er um halb zwei Uhr früh an die Decke. Unverdaut lag der Satz des Fremden in seinem Magen. Ohne dieses Stück wäre ich jetzt seit vierzehn Stunden und dreißig, vielleicht vierzig Minuten tot. Ihn fror. Es musste dem Fremden doch bewusst sein, dass seinen Gastgeber dieser Satz umtrieb. In Kaufmanns Besorgnis knisterte Misstrauen. Vielleicht war sein Angebot mit dem Gästezimmer attraktiv, weil es anonym war. Dass er dem Gastgeber mit seiner Heimlichtuerei den Schlaf raubte, war dem Gast offenbar egal. Aus dem Misstrauen begann Wut zu züngeln. Kaufmann war in Versuchung aufzustehen, am Zimmer nebenan zu klopfen und den Fremden wachzurütteln, falls er schlief.
Gastfreundschaft ist heilig, hörte er seine Mutter lächelnd sagen, wenn ein Gast eines ihrer gehüteten Kristallgläser mit Goldrand zerschlagen hatte. Dann eben nicht.
Da hörte er etwas anderes. Keinen Satz, ein Datum, das der Fremde an seine erste Begegnung mit der Träumerei geheftet hatte: vor dreißig Jahren, 1956.
Kaufmann zog seinen Morgenmantel an und schlich in seinen alten Seidenpantoffeln den Flur entlang ins Musikzimmer.
Er setzte sich nicht in den bequemen Sessel, sondern auf das hartgepolsterte Kirschholzsofa. Sein Blick fiel auf den Steinway-Flügel und das Schwarzweißfoto darauf im Silberrahmen, ein großes Foto, das einzige im Raum. Die handschriftliche Widmung über dem Autogramm kannte er auswendig.
Für Nico. Übung macht den Meister. Zum Künstler wird man nicht geboren, zum Künstler muss man sich erziehen. Das ist auch schon oft gesagt worden. Aber wenn man auf diesem Ohr nicht hört, dann viel Glück zur Fahrt in die brillante Mittelmäßigkeit.
1956, vor dreißig Jahren, hatte Nico Kaufmann, diplomierter Dirigent, diplomierter Pianist, diplomierter Komponist, jene Fahrt bereits beendet. Mit vierzig war er längst dort gelandet, in der brillanten Mittelmäßigkeit.
In der Pianobar des Grandhotel Baur au Lac konnte er damit noch Eindruck schinden bei Gästen, die zu wenig verstanden von klassischer Musik. Wer etwas verstand, der mied die Pianobar oder genoss die brillante Mittelmäßigkeit als Schaumbad. Kaufmann war froh um das Honorar, das man ihm dort zahlte; was Barbesucher neben den Champagnergläsern auf dem Silbertablett liegen ließen, stockte es noch erheblich auf.
Seine Arrangements und Kompositionen von Bühnenmusiken, Tanzeinlagen und Couplets für Cabarets oder Privattheater brachten ihm zwar Freunde ein, sogar Kenner und Liebhaber, aber nicht ausreichend Bares. Im Baur au Lac behandelte man ihn pfleglich. Er kam an, dieser Barpianist, in Frack oder Dinnerjacket, Revers handpikiert, eine Nelke oder Gardenie im Knopfloch, Manieren eines Grandseigneurs, vollendeter Handkuss, gebildeter Small Talk, auch auf Französisch, und vor allem diese Unbeschwertheit. Sie fehlte anderen Barpianisten meistens. Kaufmann selbst kannte sie, die Kollegen, denen bei einem spendierten Getränk mühelos ein Lamento über die Ungerechtigkeit des Schicksals und all die Intrigen zu entlocken war, welche den Weg zu den Sternen verbarrikadiert hatten. Mozart kam oft drin vor und Seufzer wie: Hätte ich mit fünf Jahren …
Vater Kaufmann, Dr. med. Willy Kaufmann, praktischer Arzt sowie Freizeitkomponist von Soldatenliedern, hatte seinen Sohn Nico, als er sechs war, in ein Mozartkostüm gesteckt und öffentlich auftreten lassen. Als er neun war, hatte der Vater ihn zum Ausnahmetalent erklärt, als er mit zwölf ein Weihnachtslied komponierte und ein Jahr später zum Klavier- und Orgelstudium ins Konservatorium aufgenommen wurde, zum Genie. So begann eine Karriere, die in brillanter Mittelmäßigkeit enden musste. Aber das hatte Nico erst erkannt, als es zu spät war.
Der Mann, der ihn davor bewahren wollte, blass, schmales Gesicht, abstehende Ohren, ausgeprägte Nase, schwarze engstehende Augen, stark umschattet, das dunkle Haar hart gescheitelt, schwieg im Silberrahmen, vorwurfsvoll oder enttäuscht oder beides.
Der Fremde trat ein, ohne anzuklopfen. Barfuß war er in die Hose geschlüpft, das Hemd offen. Er hielt inne. Kaufmann deutete auf den bequemen Sessel.
Der Fremde folgte Kaufmanns Blick, drehte den Sessel und setzte sich so, dass auch er nun auf den Flügel schaute.
Das Foto war zu groß, die handschriftliche Widmung darauf zu mächtig, der Porträtierte zu eindeutig nicht mit Kaufmann verwandt und zu spektakulär melancholisch, als dass sich die Frage vermeiden ließ, was es damit auf sich habe. Bisher hatte noch jeder danach gefragt.
Ich frage mich …, sagte der Fremde.
Er brach ab, schaute weiter zum Flügel.
Ja?, sagte Kaufmann.
… ob ich ein anderer geworden wäre, wenn ich ein Instrument gelernt hätte. Da kann einem die Welt nie so eng werden, dass der einzige Ausweg tödlich ist. Durch die Musik leuchten doch immer Möglichkeiten.
War es das, woran ihn die Träumerei erinnerte, an andere, bessere, bunte Möglichkeiten, die er mit fünfzehn noch gesehen hatte? Kaufmann wartete ab. Möglichkeiten … Im Juni 1956, Anfang Juni war es gewesen, hatte er im Baur au Lac sein übliches Programm abgespult und gerade pausiert, als sich spätabends ein Mann im schwarzen Anzug mit Geigenkasten nicht weit vom Flügel entfernt hinsetzte, seine Krawatte vom Hals nahm, über die Lehne legte, bestellte und dem Kellner etwas zuflüsterte.
Wodka? Üblicherweise wurde bei Kaufmann hier mit Champagner, weiß oder rosé, für eine Wunschmusik geworben. Der Mann mit dem Geigenkasten, Anfang, Mitte fünfzig, grüßte grinsend mit seinem Glas, wohl ebenfalls Wodka. Die Träumerei von Schumann, das wurde selten erbeten.
Die anderen Barbesucher drehten sich nach dem Geiger um, der nach den drei Minuten wild applaudierte.
Erst als Kaufmann direkt vor ihm stand, erkannte er ihn wieder.
Er hätte es wissen können, Festwochen in der Tonhalle, Plakate mit dem Namen von Nathan Milstein und Otto Klemperer klebten seit Wochen an den Litfaßsäulen.
Sie spielen das besser als Volodja, wirklich, noch immer, sagte Milstein. Ich habe es erst vor Kurzem von ihm gehört, eine seiner Lieblingszugaben nach wie vor.
Enttäuscht oder vorwurfsvoll oder beides sah er den Lehrer von einst daheim im Silberrahmen vor sich. Vorbei, verscherzt die Möglichkeiten, seine Möglichkeiten früher. Nur in diesem kleinen Stück leuchteten sie noch auf für drei Minuten.
Der Fremde konnte nicht ahnen, was dieses Datum bei seinem Gastgeber losgetreten hatte. Er schien sich ohnehin nur für sich selbst zu interessieren.
Kaufmann zog sein Taschentuch aus dem Ärmel und schnäuzte die Erinnerung weg. Jetzt war die Chance da.
Woran denken Sie, wenn Sie die Träumerei hören?
Der Fremde fing zu reden an, ohne das Gesicht zu wenden, als spräche er mit dem Flügel.
Der Job war gut, niemand fragte nach meinem Ausweis, meine Eltern waren stolz darauf, dass ihr minderjähriger Sohn abends und an Wochenenden in einem solchen Haus arbeiten durfte, das sie nie zu betreten gewagt hätten. Aschenbecher leeren, die kleinen Tische abwischen, Feuer reichen, Gebäckschalen verteilen, Krümel wegkehren, darauf achten, dass nirgendwo der Rand eines Perserteppichs hochgeschlagen war. Meine Mutter war sicher, dass Gott mir diesen Job in der Pianobar des Baur au Lac beschafft hatte. Anfangs war mir fast alles fremd. Meine Schuhsohlen waren Parkett und Teppiche nicht gewohnt, meine Nase keinen Parfum- und Havannadunst. Nur was der Barpianist spielte, war mir vertraut. Im Kreis 4 habe ich von Kindheit an durchs offene Fenster die Musik der anderen gehört. Sehnsuchtsschlager ohne Worte, die kannte jeder auswendig. Palmen am blauen Meer, braune Mädchen auf Kuba, Sterne über Colombo, dazwischen Filmmusik von Casablanca bis Some like it hot.
Erst ein paar Mal hatte ich einem Gast etwas aufs Zimmer bringen dürfen, dafür gab es die Etagenkellner. Es war schon ziemlich spät, als es hieß: Eine Flasche Rosé-Champagner mit zwei Gläsern auf Nummer soundsoviel, zweite Etage. Als ich klopfte, rief eine Männerstimme: Avanti. Wusste er, wo ich herkam, hatte er mich gesehen, meine olivfarbene Haut, mein schwarzes Haar, oder war er Italiener? Er lag auf dem Bett. Nackt. Nackt und …
Der Fremde zögerte. … und schön.
Ich schaffte es, das Tablett abzustellen und die Tür so zu schließen, wie es sich hier gehörte, dann ratterte ich die zwei Stockwerke hinunter. Vor der Pianobar lehnte ich mich an die Wand. Jeder musste es hören. In meinem Organismus toste eine wahnsinnig gewordene Orgel, in meinem Kopf brüllten sämtliche Priester von Zürich meine gebeteleiernde Mutter nieder, und meine Mädchenfankurve vom Bolzplatz schluchzte dazu. Da kam der Maître den Flur entlang. Ich, untätig an der Wand lehnend, jetzt, bei Hochbetrieb! Bevor er mich erreichte, war ich bereits drin. Im Saal war es entsetzlich still. Die Gäste still, der Pianist still. Dann begann er ein Stück, das ich nicht kannte. Es war leise und unendlich weit, und es kam ganz von innen her.
Nach wenigen Minuten war es vorüber. Ich konnte nicht anders, ich musste zu ihm gehen. Was war das?, fragte ich, bitte, was war das? Er sah mich an, lange, prüfend, wohlgefällig. Ja, was war das? Er lächelte. Eine Träumerei. Er strich mir übers Haar. Die Träumerei aus den Kinderszenen.
Kaufmann schüttelte den Kopf, musterte den Fremden, wie jemand, der seinen Sinnen nicht traut, schüttelte den Kopf noch einmal heftiger. Benommen stemmte er sich hoch, ging zu seiner Hausbar und schenkte sich den Zuger Kirsch ein. Sie auch?
Der Fremde drehte den Sessel, kippte den Kirsch und starrte seinen Gastgeber an.
Wollten Sie deshalb wissen, wie ich über Todsünden denke?, fragte Kaufmann. Ich bin auch im Kreis 4 geboren und aufgewachsen. Wiedikon, Nähe Bahnhof, damals, in den zwanziger Jahren, eine bürgerliche Vorgartenecke, spießig würde man heute im Vieri sagen. Arzthaushalt, Dienstmädchen, Köchin, Weißwäschefrau, Gründerzeitmöbel, Grammofon mit Kurbel, Ibach-Klavier, Tischgebet mittags und abends, Platz auf der Empore mit Namensschild in Sankt Peter und Paul, einmal die Woche beichten, an höhere Gerechtigkeit glauben, ein Onkel, der von der Familie geschnitten wurde, hinter geschlossenen Türen als Sodomit bezeichnet. Mir ist nur eins geblieben.
Er kostete diese Pause aus, er sah den Hunger in den Augen des anderen. Trank von seinem Kirsch, setzte ihn ab.
Ich glaube noch an Wunder.
Er stand auf und ging zu Bett.
IV
Zuerst Libyen, daran war man bereits gewöhnt, Libyen und La Belle. Jeder kannte den schönen Namen der Disco in Berlin, wo vor allem Angehörige der dort stationierten US-Army ihre Nächte durchgetanzt hatten. Seit im La Belle in der Nacht auf den 5. April zwei US-Soldaten und eine Türkin von einer Bombe zerfetzt worden waren, fünfundzwanzig Besucher das Blutbad überlebt hatten, zweihundertfünfzig froh waren, dass nur ihr Trommelfell geplatzt war, wurde ständig mit Vergeltung gedroht. Dass Gaddafi hinter dem Attentat steckte, galt als sicher.
Kaufmann hasste das Wort Vergeltung. Er hatte sein Croissant wieder auf den Teller gelegt, um das Radio abzustellen. Fußball und Wetter interessierten ihn nicht. Die Meldung war kurz: Meilen, Zürichsee. Ein Schweizer Diplomat, Mitte vierzig, werde seit gestern vermisst. Nach Polizeiangaben sei Suizid nicht auszuschließen. Die Verlobte des Vermissten, wohnhaft in Lausanne, bestreite das.
Der Fremde erschien keine fünf Minuten später am Frühstückstisch. Aus dem Radio kam Klaviermusik.
Kein Schumann, oder?, sagte der Fremde und setzte sich auf den freien Stuhl.
Skrjabin, cis-Moll-Etüde. Es geht aber nicht um Skrjabin, es geht um Horowitz. Er wird zum ersten Mal seit einundsechzig Jahren wieder in seiner Heimat auftreten, am 20. April in Moskau. Die cis-Moll-Etüde gehört zu seinen Bravourstücken. Bravour-, das Wort würde er sich verbieten. Dafür ist dieses Stück zu dunkel, viel zu dunkel.
Kaufmann behauptete später, es sei das Interesse des Fremden an Horowitz gewesen. Das habe ihn auf die Idee gebracht, diese Reise anzutreten. Der Fremde behauptete später, es sei Kaufmanns Instinkt für das Richtige gewesen, sein Gespür dafür, dass diesem Zufallsbekannten die Geschichte eines anderen helfen könnte, Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Jedenfalls saßen sie, die Croissants waren noch nicht verdaut, in Kaufmanns altem Peugeot, am Steuer der Fremde. Sagen Sie Robert zu mir, hatte er gebeten, als Kaufmann ihm drei Hemden und drei fabrikneue Unterhosen auslieh. Der Rhythmus der Scheibenwischer machte es Kaufmann leicht, zu erzählen.
Es war in Basel, fast genau vor neunundvierzig Jahren, ebenfalls April, nur das Wetter war besser. Sie können es Zufall nennen, dass ich ihn kennenlernte. Ich würde es … Gut, lassen wir das. Ich war am Stadttheater Solorepetitor, meine zweite Saison, erste Station auf meiner Dirigentenlaufbahn. Ich durfte bunte Abende dirigieren und selbst komponierte Weihnachtsmärchen, als Höhepunkt mal Mozarts Schauspieldirektor. Mitleid? Lassen Sie’s. Mit einundzwanzig kann man sich darüber noch freuen. Mein Vater verkündete, sein Sohn werde nun doch kein zweiter Liszt, dafür ein zweiter Toscanini. Er wusste so gut wie ich, dass es ein Ausweg war oder eine Ausrede.
Ein niederländischer Maler, Bob Gésinus-Visser, gar nicht schlecht übrigens, von vielem angehaucht, von Nabis, Fauves und Neoimpressionisten, nur auf Besuch in Basel, mit dem ich über meinen Freund Jörg, ebenfalls Maler, zusammenkam … Also, Bob hörte, ich sei eigentlich Pianist, und fragte: Wollen Sie Horowitz kennenlernen?
Kaufmann musterte den Mann, der Robert genannt werden wollte, von der Seite. Ich weiß nicht, ob es für Sie jemanden gibt …
Ja, Tina Turner.
Zwei, drei Jahre zuvor hatte ich Horowitz in der Tonhalle erlebt. Sie haben es nicht so mit der Klassik, was? Also, das Publikum klatscht dort üblicherweise so, als müsste es zahlen für zu viel Applaus. Bei Horowitz standen alle nach der dritten Zugabe und gingen schließlich widerwillig, mit roten Handflächen und Köpfen.
Bob kannte Horowitz erst seit Kurzem, durch die Bernoullis. Sie sind Schweizer, Ihnen muss ich zu diesem Namen nichts erklären. Das Haus kannte in Basel jeder, Holbeinstraße 69, von außen brav und bescheiden, zwei niedrige Geschosse, weißgelackte Sprossenfenster, Schlagläden, und innen drin? Innen war Europa. Die Gäste, Sie verstehen, einmalig. Bernoulli, in diesem Fall Christoph Bernoulli der Soundsovielte, war Kunsthändler, Innenarchitekt, Musikwissenschaftler aus einer Musikerfamilie und seine Frau Alice, geborene Meisel, Modezeichnerin, jüdische Polin. Horowitz als jüdischer Ukrainer mit polnischen Großeltern passte hierher.
Die Bernoullis prüften mich auf Horowitz-Tauglichkeit. Nach dem Abendessen musste ich vorspielen, nach dem Vorspiel wurde gnädig genickt. Zwei Tage später …
Er brach ab und wurde ganz Scheibenwischer, atmete sogar in ihrem Rhythmus, sagte aber nichts. Erst nach ein paar Minuten meinte er: Das erzählt sich besser vor Ort.
Als Robert im Steinengraben parkte, hatte er unter der Kuppel des Autodachs gehört, wie Horowitz das dritte Klavierkonzert von Rachmaninow spielte, zwei Mal hatte er es hören müssen. Beim ersten Mal versäume man atemlos über dem Staunen die Musik, hatte Kaufmann erklärt. Andere sind als reife Pianisten über diesem Stück wahnsinnig geworden, er hat das mit siebzehn gespielt, obwohl er damals lieber Wagners Götterdämmerung und sämtliche Puccini-Opern hinlegte, auswendig natürlich.
Bei seinem Abschlussexamen in Kiew spielte er nach ein paar Anwärmstücken von Bach bis Beethoven, an denen Mitstudenten scheiterten, die mörderische zweite Sonate von Rachmaninow, Chopins gnadenlose Fantasie in f-Moll, und hinterdrein gab er noch die Don-Juan-Paraphrase von Liszt, da wird Ihnen beim Zuhören schwindlig. Es soll das erste und einzige Mal gewesen sein, dass die Jury sich aufgeführt hat wie ungefähr fünfzehn Jahre später das Publikum in der Tonhalle.
Der Regen war in Nieseln übergegangen. Der Steinengraben langweilte sich menschenleer. Zwischen Versicherungs- und Bankenbeton verzagten ein paar zierliche Barockhäuser. Kaufmann blieb vor einem Sechzigerjahre-Kasten stehen. Hier müsse es gewesen sein, er sei nie mehr hergekommen seither, damals ein Bau aus den Zwanzigern, ein Gästehaus, nichts Aufregendes. Erste Adressen habe Horowitz gemieden, in Paris das Ritz, in Basel die Drei Könige, in Zürich das Baur au Lac.
Sein Blick klebte beim Reden an der Fassade. Horowitz hatte ein Appartement gemietet, erster Stock, zwei helle Zimmer mit Steinway. Geöffnet hat er selbst. Er war etwas kleiner als ich, und ich hätte ihn vermutlich wegen der tiefen Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln für mindestens fünfzehn Jahre älter gehalten. Es waren aber nur zwölf. Der Tisch war zum Tee gedeckt, für zwei. Keine Musik, kein Radio, kein Grammofon.
Horowitz setzte sich so, dass er meine Hände von der Seite sah beim Spielen. Sagte wenig. Langsamer, kam es irgendwann. Da steht Crescendo, nicht Accelerando. Lauter werden heißt nicht schneller werden. Oder: Singen, mit den Fingern singen. Er sprach mit russischem Akzent. Mein Deutsch ist schrecklich, entschuldigte er sich, mein Vater sprach fehlerfrei, welcher Schande, sagt man das?
Als ich den Deckel zuklappen wollte, stand er auf und legte sein Jackett ab. Er wog nicht viel, Bizeps hatte er auch keinen. Über dem Bauch spannte sein Hemd, ein rotes Hemd. Er roch nach einem Parfum aus Veilchen, Lavendel und Kaffeebohnen und nach Zigaretten. Mit zwei Fingern korrigierte er meine Handhaltung. Seine Hände waren schmal, eher klein, weiß und haarlos, die Finger lang, knochig, die Enden stumpf. Was mir auffiel, war die Muskulatur seiner Daumen.
Kaufmann nahm Roberts Hand. Sehen Sie, hier, wo es sich bei Ihnen oder mir nur leicht wölbt, saß bei ihm eine beinharte Halbkugel.
Ich wartete auf sein Urteil. Er legte seine Hand auf meine Schulter. Sie sind musikalisch, sagte er. Aber Klavier spielen können sie nicht.
Kaufmann spannte den Schirm auf, gab ihn Robert und setzte sich neben ihm in Bewegung Richtung Norden.
Gibt es bei Ihnen auch Sätze, die Sie nie vergessen?
Sogar einen ganz frischen, sagte Robert. Gestern fuhr ich mit der Fähre über den See, von Meilen nach Horgen. Ein alter Mann, der offenbar nichts anderes tut, als mit der Fähre hin und her zu fahren und da an seinem Stammplatz nistet, sagte: Sie sehen aus, als würden Sie zum ersten Mal ans andere Ufer fahren.
Und?, fragte Kaufmann. Hatte er recht?
Hatte Horowitz recht?, fragte Robert.
Es war Darjeeling, machte Kaufmann weiter, und er schenkte ihn von weit oben ein. Ich sollte nicht, sagte er, als er den zweiten Löffel Zucker in seine Tasse rieseln ließ, aber ich brauche es. Dann zog er seine Hosenbeine hoch. Seine Waden waren steckendünn, trotz der weißen Bandagen. Eine Venenentzündung, sagte er, noch immer nicht ganz ausgestanden. Sie haben mich nach einer Blinddarmoperation zehn Tage liegen lassen.
Das mit den zehn Tagen hat er zwei Mal wiederholt. Den Pariser Ärzten habe er schon vorher misstraut, alle prominenten Chirurgen abgeklappert, jedes Mal das Gleiche: Ihr Blinddarm ist völlig in Ordnung, was wollen Sie? Jeder verweigerte ihm die Operation. Einer hatte sich schließlich breitschlagen lassen. Aus den zehn Tagen wurden drei Monate, nur wegen der Venen. Seine Amerikatournee musste er absagen. Und dann kam eine Bemerkung, die mich irritierte, das weiß ich noch. Sie kam ganz leise. Gut für die Nerven, schlecht für die Seele, sagte Horowitz. Die Dämonen lieben die Untätigen.
Beide Spaziergänger hielten den Mund, Kaufmann summte eine Passage aus dem langsamen Satz des Dritten von Rachmaninow, bis sie vor dem Bernoullianum standen, sogar unter dem wieder stärker gießenden Gewölk ein adrettes kleines Bildungsschloss. Mich hat die Architektur, die Geschichte der ehemaligen Sternwarte, die Bibliothek und all das hier nie interessiert, nur der Park nebendran.
Er schwenkte nach rechts; die Wege unter den noch fast kahlen Bäumen nass, das lichte Grün troff.
Auf dem Heimweg in meine Pension habe ich hier immer welche getroffen, die wie ich heiß darauf waren, jemand Neuen zu entflammen.
Horowitz hatte davon keine Ahnung. Er hatte mich zum Abendessen eingeladen, ziemlich teuer, Champagner, Spargel, pochierter Rhein-Salm, Erdbeeren mit Vanille-Glacé. Mir schien das eine Art Pflaster auf die Wunde zu sein, die er mir zugefügt hatte, außerdem kannte er in Basel anscheinend außer den Bernoullis keine Menschenseele. Nach dem Abendessen spendierte er noch einen Drink in der Bar drei Häuser weiter. Der Alkohol hatte mich träge gemacht. Es traf mich aus dem Nichts. Ich habe einen Erholungsurlaub in Luzern gebucht, sagte Horowitz. Soll ich Ihnen dort ein paar Lektionen geben?
Kaufmann machte eine Pause, als erschreckte er noch immer.
Es geschah auf dem Rückweg. Meine Manieren funktionierten noch, ich wollte ihn heimbegleiten; mein Hirn war konfus. Warum wollte er, der bisher keinen einzigen Schüler hatte, sich im Urlaub eines schlechten Klavierspielers annehmen, mit einundzwanzig eh zu alt für die große Karriere? Von seinem Privatleben wusste ich nur, was jeder wusste. Über diese Sensationsehe hatten sogar die Schweizer Hausfrauenblätter berichtet: Der berühmteste Pianist der Welt heiratet die Tochter des berühmtesten Dirigenten der Welt. Wanda Toscanini war nur Tochter von Beruf und sah auf Fotos nicht sehr verführerisch aus, eher wie ein mürrischer Mann in Haute Couture. Trotzdem, es war sein Urlaub. Und dann ein Schüler, der Ärger versprach. Was sollte das?
Robert blieb stehen, weil Kaufmann stehen blieb.
Ja, ziemlich genau hier war’s, im Windschatten. Horowitz wollte eine rauchen. Er hielt die Zigarette zwischen den ausgestreckten Fingern, ich durchwühlte meine Taschen nach meinem Feuerzeug. Als ich ihm endlich Feuer gab, nahm er seine Zigarette aus dem Mund, ließ sie auf den Boden fallen und küsste mich.
Langsam wandte Robert sein Gesicht zu Kaufmann.
Er lächelte.
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