Kitabı oku: «Die Mätresse aus dem Hurenhaus»
Die Mätresse aus dem Hurenhaus
Teufelskind
Clara
Weggefährten
Abschied
Ingrid
Begegnungen
Rache
Regensburg
Der Handel
Überraschungen
Gerichtstag
Berta und Gunda
Erkenntnisse
Gäste
Ankunft
Clara und der Kaiser
Geweihte Erde
Die erste Nacht
Bruder Sebastian
Der Burggraf
Maria
Offenbarung
Zwischen Freud und Leid
Gefunden und doch verloren
Gerichtstag
Todeskampf
Vorbereitungen
Heimliche Liebesnacht
Regensburger Gespräche
Neue Wege
Reisevorbereitungen
Tödliches Geschenk
Die Botschaft
Besuch
Kaiser Karl V
Die Trosshuren
Michael von Freistein
Unsichere Zeiten
Der Versuch
Die Bitte
Begegnungen
Die Falle
Kaiser Karl V.
Impressum neobooks
Lea Sörensen
Die Mätresse aus dem Hurenhaus
Der Weg zum Kaiser - Teil 1
Die Mätresse aus dem Hurenhaus – Teil 1
Konfetti Verlag, Neuenburg
Urwaldstr. 2
Coverbild: stock.adobe.com
Teufelskind
Regensburg 1527. Es war ein regnerischer Tag. Mühsam zogen zwei Braune einen mit Töpferwaren und Fellen hoch beladenen Wagen über das nasse Kopfsteinpflaster, es herrschte reger Betrieb.
Fast unbeachtet hetzte eine vermummte Frau mit einem Bündel in den Armen, wie von wilden Hunden verfolgt, durch die Gassen. Ihr Atem ging keuchend, ängstlich schaute sie sich immer wieder um und sah dann auf das greinende Kind in ihrem Arm. Ein Neugeborenes, doch zu groß. Dieses Ding hatte die Gerbersfrau in den Tod gerissen.
Es war kein Kind, sondern ein Ungetüm. Sie musste es entsorgen, bestimmt würden die Kirchenmänner sie der Hexerei beschuldigen, wenn sie es sahen. Man würde ihr allein die Schuld geben. Das würde ihren sicheren Tod bedeuten. Der Gerber wollte mit diesem Problem nichts zu tun haben. Obwohl es sein Kind war, stritt er die Vaterschaft energisch ab. Der Mann war ihr keine Hilfe, sie hoffte nur, dass er sie nicht der Hexerei bezichtigen würde.
In der schmalen Gasse schwirrten die Menschen durcheinander. Heute war Markttag auf dem Domplatz, überall boten Händler und alte Weiber durch lautes Rufen ihre Waren an, doch die Wehfrau hörte von alledem nichts. Schwankend wich sie schweren Fuhrwerken aus. Es kostete sie alle Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Die Geburt hatte fast zwei Tage gedauert und ihr alle Kraft geraubt. Umsonst. Die Gerberin war tot und sie hatte dieses greinende Ungetüm am Hals.
Am liebsten hätte sie das Kind weggeworfen, doch hier waren zu viele Menschen. Spielende Nachbarskinder kamen näher. Verzweifelt wischte sie sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn. Der Regen wurde stärker, sie hielt einen Moment inne und blickte in den Himmel.
„Ist das Kind der Gerberin da?“ Die Bälger versuchten, einen Blick auf das große Bündel im Arm der Hebamme zu erhaschen. Mit dem freien Arm stieß sie die Kinder grob beiseite, so dass diese schreiend nach allen Seiten flüchteten.
„Nein, sie sind beide tot“, schrie sie ihnen wütend hinterher. Jetzt bloß keine Mitwisser. Diese Missgeburt war gefährlich für sie, für ihr ganzes weiteres Leben.
Warum hatte der Herr so ein Wesen auf die Erde geschickt? War es die Ausgeburt des Teufels? Ja, es musste ein Teufelskind sein. Und Zigeuner waren doch mit dem Teufel im Bunde. Dort würde man sich dieses Wesens annehmen.
Die Hebamme hastete mit dem Bündel auf dem Arm durch das große Stadttor, vorbei an den Bütteln. Am heutigen Markttag waren diese aufmerksam.
„Bleib stehen, Vettel! Was trägst du da auf deinem Arm?“ Ein grauhaariger Wachmann versperrte ihr den Weg und blickte sie missmutig von oben bis unten an. Er hatte gegessen und wischte seine fettigen Finger an seinem Wams ab.
„Eine Totgeburt, nicht getauft. Es kann nicht in geweihter Erde begraben werden. Lasst mich lieber vorbei, bevor euch der Fluch auch noch trifft.“
Der verfluchte Säugling in ihrem Arm war einen kurzen Moment eingeschlafen und gab keinen Ton von sich. Anscheinend hatte Gott doch ein wenig Erbarmen mit ihr und verriet sie nicht.
Entsetzt trat der Mann beiseite.
„Dann beeilt euch, Alte. Die Stadttore werden pünktlich geschlossen.“ Ohne die Wehfrau noch eines Blickes zu würdigen, drehte der Mann sich um und widmete sich wieder seinem Essen.
Die Frau ließ sich das nicht zweimal sagen und hetzte durch das große Tor. Außerhalb der Stadtmauern fühlte sie sich gleich ein bisschen besser. Jetzt waren es nur wenige Schritte zu den Zigeunern. Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie nach den bunten Wagen. Die Müdigkeit machte ihr zu schaffen; die Angst, als Hexe auf einem Scheiterhaufen zu landen, hielt sie wach und gab ihr Kraft.
Ihr Blick fiel auf das Neugeborene. Scheinbar fragend sah das Kind sie an.
„Teufelskind, Teufelskind“, keuchte die entsetzte Frau. Am liebsten hätte sie dieses Bündel weit von sich geworfen und wilden Tieren überlassen. Der Blick des Kindes bereitete ihr große Angst. Er war so durchdringend - für einen Moment stockte ihr der Atem. Dann nahm sie ihre ganze Kraft zusammen.
Eine alte Zigeunerin in bunten Kleidern saß im hohen Gras vor ihrem Wagen und verarbeitete Tierfelle. Sie schaute der Hebamme scheinbar wissend entgegen. Wurde sie etwa erwartet? Dieses Teufelsvolk war mit schwarzer Magie im Bunde, dessen war sie sich sicher. Einige Meter vor der alten Frau stoppte sie und legte das hilflose Bündel auf den Boden.
„Es ist ein Teufelskind, macht mit ihm was ihr wollt“, kreischte die Wehfrau im Wegrennen. Die Angst ließ sie ihre letzten Kräfte zusammenraffen. Je weiter sie sich von den Zigeunern entfernte, umso sicherer konnte sie sein, dass sie einem schlimmen Schicksal entgangen war.
Schwerfällig raffte Esmeralda, die Älteste der Sippe, ihre langen Röcke und schaute genauer hin.
„Hölle und Verdammnis. Ein Neugeborenes. Oh, meine Güte. Ein Riese …“ Mit zittrigen Fingern tastete die Alte die schrumpelige, feuchte Haut des Säuglings ab. Sie kniff ihre Augen zu Schlitzen zusammen, um das Kind sehen zu können. Sie war fast blind, doch an manchen Tagen sah sie besser als an anderen Tagen. Heute war einer ihrer guten Tage.
„Was ist los, Mutter?“ Eine raue Männerstimme erklang aus dem Wagen; der Säugling in ihren Armen zuckte zusammen. Dann tauchte ihr Sohn Ricardo vor ihr auf.
„Ein Kind. Hier wurde gerade ein Kind einfach abgelegt. Von einer alten Vettel. Sie ist fortgelaufen.“ Kopfschüttelnd und klagend zeigte sie auf den verschmierten Säugling vor ihren Füßen. Esmeralda bückte sich erneut, um das Kind genauer zu betrachten.
„Lass das Gör hier liegen, das gibt nur Ärger mit den Bütteln. Die wollen uns sowieso nicht hier haben.“ Hektisch riss Ricardo seine Mutter am Arm, den Säugling beachtete der junge Mann nicht. Ricardo war außergewöhnlich hübsch, groß und sein Haar glänzte lackschwarz in der Sonne. Mit funkelnden Augen starrte er seine Mutter auffordernd an,
seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihren Arm.
Doch Esmeralda ließ sich nicht beirren und nahm das mittlerweile schreiende Kind an sich. Mit einem wütenden Zischen ließ Ricardo ihren Arm los.
Jetzt kam Leben in das Lager. Jeder hatte mitbekommen, dass irgendetwas nicht stimmte.
Ein kleiner Tumult brach los. Ratlos standen die Zigeuner um Esmeralda herum und versuchten, einen Blick auf das Neugeborene zu erhaschen.
„Wir brechen sofort auf. Überlass das Kind seinem Schicksal.“ Ricardo gestikulierte wild mit den Armen herum. Die anderen Lagerbewohner standen auf seiner Seite, was er genüsslich auskostete. Wenn seine Mutter einmal nicht mehr leben würde, wollte er die Führung der Kolonne übernehmen. Ihr Tod sollte jedoch ruhig noch warten. Er liebte seine Mutter, auch wenn er es ihr so gut wie nie zeigte. Schließlich war er ein Mann. Esmeralda blickte dem Kind tief in die Augen.
„Nein! Wir bleiben oder nehmen dieses Geschöpf mit.“ Als Älteste hatte sie immer das letzte Wort. Eine wilde Diskussion brach aus. „Mutter! Was sagst du da? Sieh dieses Monster an. Es ist kein Kind, es ist ein Monster.
Dieser dicke Kopf, dieser große Körper. Das soll ein Neugeborenes sein?“
Vorsichtig zog die alte Zigeunerin das blutige Laken auseinander. Nun lag das Kind nackt da, schreiend. Es fror. Die Nabelschnur war schlecht abgebunden.
„Gerade erst auf dieser Welt und schon solche Probleme.“ Mit diesen Worten machte die alte Zigeunerin eine Brust frei und legte das Kind zärtlich an. Sofort fing das Mädchen kräftig an zu saugen. Milch floss.
„Oh Mutter! Was tust du nur? Du bist viel zu alt für so was.“
„Hör auf, Sohn. Es ist ein Wunder, dass ich Milch habe. Das ist ein Zeichen. Ich werde dieses Kind großziehen.“
Einige Zigeuner protestierten laut, andere kehrten kopfschüttelnd zu ihren Wagen zurück. Sie kannten die Alte zu gut und wussten, dass jede Diskussion mit ihr sinnlos war.
Esmeralda zog sich auf den Platz vor ihrem Wagen zurück und setzte sich. Sie beobachtete das Mädchen genau.
„Du hast dunkle Haare, doch die werden sicherlich noch einmal blond.“ Die Stimme der Frau beruhigte das Kind.
„Clara, du sollst Clara heißen. Wie meine Mutter. Ich hatte nie eine Tochter. Alles nur Söhne, von denen nur noch einer lebt. Du bist für mich wie eine Tochter.“ Sanft strich sie dem mittlerweile eingeschlafenen Kind über den Kopf.
Clara
„Heute ist dein vierzehnter Geburtstag.“ Mit zittrigen Händen reichte Esmeralda ihrer Ziehtochter ein Stoffbündel.
„Ein neues Kleid“, jubelte das Mädchen und tanzte durch den Wagen, so dass dieser heftig ins Schwanken geriet.
„Hör sofort auf damit. Wir kippen gleich noch um“, schimpfte Esmeralda. Die alte Zigeunerin war in den letzten Jahren erblindet, doch mit ihren Händen konnte sie gut sehen.
Clara war groß gewachsen und hübsch. Aus dem hässlichen Baby war eine wunderschöne junge Frau geworden. Oft dachte Esmeralda an den Tag zurück, an dem ihre Tochter in ihr Leben getreten war.
Die anderen Lagerbewohner trauten ihr immer nicht über den Weg. „Sie gehört hier nicht hin. Sieh dir ihr Haar an. Du musst sie verstecken, die Leute glauben, dass wir Kinderdiebe sind. Wegen ihr haben wir nur Scherereien. Sie muss weg!“, sagten sie oft. Esmeralda musste das Mädchen häufig verteidigen.
Clara war eine gute Tochter, sie half der alten Zigeunerin fleißig. Das war der einzige Grund, warum sie von den anderen nicht aus dem Lager gejagt worden war.
Sie setzte sich auf einen kleinen Schemel und betrachtete nachdenklich ihr Geschenk näher. Das Kleid war wunderschön, aus dunkelblauem grobem Leinen. Gedankenverloren strich Clara mit ihrer Hand über den Stoff, fast als wolle sie ihn streicheln.
„Warum bin ich so anders als ihr? Meine Haare sind hell, meine Augen blau und ich könnte jedem hier auf den Kopf spucken, ohne mich zu mühen.“
„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Du gehörst zu uns, auch wenn du ein wenig anders aussiehst. Wir fahren morgen nach Regensburg, dort bist du zu uns gekommen. Es war für mich der wundervollste Tag, meine Tochter.“ Mit diesen Worten konnte Clara nicht viel anfangen. Die anderen wichen im Lager vor ihr zurück, mieden sie sogar. Die Jungs ärgerten sie häufig und spielten üble Streiche. Doch die blinde Esmeralda überschüttete sie mit Liebe und das tat ihr gut.
„Ach, Mama …“
Esmeralda spürte, dass es Zeit war, das Thema zu wechseln. Sie schaffte es nicht, Clara die ganze Wahrheit zu sagen. Kummervoll strich sie eine Haarsträhne unter ihr Kopftuch, dann tastete sie sich zu ihrer Ziehtochter und nahm sie fest in den Arm.
„Wir müssen noch in den Wald und Vorräte sammeln. Du weißt doch, dass ich es alleine nicht schaffe.“
Clara ging gerne mit Esmeralda in den Wald. Sie sammelten Pilze, Beeren und Wurzeln.
Nicht selten fingen sie Hasen und Ratten mit ihrer selbstgebauten Falle. Mit einem kräftigen Ruck brach Clara ihnen dann das Genick, brach sie auf und zog ihnen das Fell über die Ohren. Mit Rattenfell konnten sie nichts anfangen, es war zu klein. Es fühlte sich zwar angenehm weich an, doch daraus Kleidung zu nähen, wäre zu anstrengend gewesen. Die Hasenfelle waren da schon besser. Aus diesem Fell fertigte ihre Mutter trotz ihrer Blindheit wunderschöne Westen und Jacken an. Für den Winter gab es dann auch Mützen. Es fehlte ihnen wirklich an nichts.
Das Mädchen griff nach einem Beutel und fasste Esmeralda behutsam am Arm.
„Komm, Mutter.“
Die beiden liefen über den Platz, während die anderen Zigeuner sie beobachteten. Auch Ricardo schaute einen kurzen Augenblick missmutig auf. Dieses Mädchen hatte ihm die Mutterliebe gestohlen. Eifersucht stieg in ihm auf. Verächtlich spuckte er in den Staub, als die beiden Frauen langsam vorbeiliefen. Esmeralda blieb unvermittelt stehen und horchte einen Moment auf.
„Reiß dich zusammen, Ricardo“, grollte Roma hinter ihm. Seine Frau war froh, dass es dieses Mädchen gab, denn sonst hätte sie Esmeralda helfen müssen und die Alte war nicht gerade einfach.
„Ich weiß auch nicht. Dieses Riesenkind ist mir unheimlich. Schau sie dir doch einmal an.
Wir müssen ja alle an ihr hochschauen. Dabei ist sie gerade mal 14 Jahre alt. Das ist doch nicht normal. Wenn sie so weiter wächst, bekommen wir eines Tages Ärger mit den Bütteln. Sie wird ihnen genauso unheimlich sein wie uns, dann brauchen wir uns nirgendwo mehr blicken zu lassen.“ Der Zigeuner schlug ärgerlich mit einer Axt einen dicken Holzklotz in zwei Teile. Roma schaute ihren Mann fragend an.
„Was willst du tun?“
„Ich weiß es nicht.“
„Du kannst ihr nichts tun. Deine Mutter würde dir die Augen auskratzen. Auch wenn sie blind ist, so bekommt sie doch noch alles mit.“
Clara und Esmeralda hatten unterdessen Glück. Zwei Hasen waren ihnen in die Falle gegangen und sie hatten viele Pilze gefunden.
„Heute Abend gibt es ein Festmahl, dein Geburtstagsessen.“
Mit einem Strick band das Mädchen die Hasen an den Beinen zusammen und warf sie sich über den Rücken, um den Beutel mit den Pilzen besser tragen zu können. Mit der freien Hand stützte sie ihre Mutter. Mühsam kämpften die beiden sich mit ihren langen Röcken durchs Unterholz, Äste knackten und Clara musste gut aufpassen, damit sie ihre Kleidung nicht zerrissen.
Zurück im Lager zeigte sie voller Stolz ihre Beute.
„Schau mal, Ricardo, du bist heute Abend zu meinem Geburtstagsessen eingeladen.“
Der Mann reagierte nicht. Roma stieß ihn wütend an.
„Lass mich“, fauchte er und drehte demonstrativ Clara und seiner Mutter den Rücken zu. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust. In diesem Moment spürte Roma, dass es besser war, zu schweigen. Wütend raffte sie ihre bunten Röcke und drehte sich zum Gehen um. Esmeralda entging die Feindseligkeit ihres Sohnes ebenfalls nicht. Sie musste mit ihm reden, doch ohne Clara und Roma.
Clara schlief längst, als ihre Mutter spätabends leise tastend den Wagen verließ. Esmeralda hörte die Stimme ihres Sohnes und ging mit unsicheren Schritten in die Richtung. Ihre Hände weit von sich gestreckt. Den dicken Stein am Boden spürte sie zu spät. Sie stolperte, ein ängstlicher Aufschrei entfuhr ihr, bevor sie mit dem Kopf auf das am Mittag frisch gehackte Holz ihres Sohnes schlug. Ein hässliches Knacken war deutlich zu hören, ihr Genick war gebrochen. Esmeralda war tot.
Fassungslos brüllte Ricardo auf. Ein Tumult brach los.
Clara schrak von ihrer Bettstatt hoch. Mit zittrigen Händen griff sie in der Dunkelheit nach ihrer Mutter. Der Platz war leer. Ängstlich wickelte sie sich in ihren Umhang und lief aus dem Wagen. Was sie dort sah, ließ ihr den Atem stocken.
„Mutter, Mutter.“
Ricardo blickte voller Trauer und Wut auf.
„Warum hast du nicht besser auf sie aufgepasst?“
„Ich dachte, sie schläft“, weinte Clara hilflos.
„Pah, du hast sie auf dem Gewissen“, schrie der Zigeuner hasserfüllt auf.
„Aber nein, ich habe doch gar nichts gemacht.“ Das Mädchen stürzte sich schluchzend auf ihre Mutter und schüttelte sie. Der Kopf der Alten schlackerte, wie an einem Faden hängend, hin und her. Clara hatte genug Hasen getötet, um zu wissen, was das bedeutete. Ein unmenschlicher Schrei entfuhr ihrer Kehle. Selbst die Zigeuner erschauderten.
„Sie war gar nicht deine Mutter.“ Ricardo schrie die ganze Wut der letzten Jahre heraus. „Du bist ein Balg des Teufels! Sterben hättest sollen. Sie haben dich hier einfach abgelegt. Wir hätten dich deinem Schicksal überlassen sollen!“
Wortlos starrte Clara auf Ricardo herab. Ohne einen Ton von sich zu geben, sackte der Mann weinend zusammen. Mechanisch drehte sie sich um und ging in den Wagen.
Hinter ihr erklang das Gemurmel der anderen. Die ganzen Jahre hatte sie gespürt, dass irgendetwas nicht stimmte. Nun wusste sie endlich, was. Musste Esmeralda erst sterben, damit sie die Wahrheit erfuhr? Weinend legte sie sich wieder auf ihr Lager und zog sich die Decke über den Kopf. Sie schrie und weinte, bis sie in den frühen Morgenstunden erschöpft einschlief.
Die Herbstsonne schien mit goldenem Licht über den Wald, als Clara erwachte.
Sie hatte starke Kopfschmerzen und musste wieder weinen. Schwach torkelte sie aus dem kleinen Wagen und blieb wie angewurzelt stehen. Wo waren die anderen?
Fassungslos schaute sie sich um. Das Pony vor ihrem Wagen war verschwunden, der Platz wie leergefegt. Erschrocken lief sie umher. Ricardos Holzstapel, der ihrer Mutter das Leben gekostet hatte, lag immer noch an seinem Platz. Von Esmeralda keine Spur.
Claras Herz raste. Noch nie im Leben war sie ganz allein auf sich gestellt gewesen. Was sollte sie nur tun? Ohne Pony kam sie mit dem Wagen hier nicht mehr weg. Sie würde sich zu Fuß aufmachen müssen. Angestrengt versuchte das Mädchen, seine Gedanken zu ordnen.
Dann stand ihr Entschluss fest. Sie würde sich auf nach Regensburg machen.
Weggefährten
Sie wartete bis zum nächsten Morgen. Ihre Habseligkeiten hatte sie bereits am Vorabend in ein Bündel verpackt. Schweren Herzens trennte sie sich von dem kleinen bunten Wagen, der ihr ganzes bisheriges Leben lang ihr Zuhause gewesen war. Mit schweren Schritten lief sie ein kleines Stück, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie kam nur langsam voran, doch sie war zufrieden. Gegen Mittag hatte sie ein wenig Glück. Eine kleine Gruppe Kaufleute rastete am Wegesrand. Als die Männer Clara bemerkten, brach ein erstauntes Gemurmel aus. Die Frauen bekreuzigten sich und zogen sich in ihre Wagen zurück.
„Seid gegrüßt“, rief Clara den Leuten zu und hielt unmittelbar neben der kleinen Kolonne an.
„Meine Güte, wer seid Ihr?“ Ein rundlicher Mann trat vor und musterte das Mädchen neugierig.
„Mein Name ist Clara und ich möchte nach Regensburg.“
„Aha, dann guten Weg, Frau Clara“, blockte der Mann ab.
„Wohin geht Euer Weg?“
Der Mann schaute unsicher seine Mitreisenden an. Sie mussten auch nach Regensburg. Doch auf gar keinen Fall wollten sie die Unbekannte mit auf die Reise nehmen. Das Mädchen sah aus wie eine Gauklerin. Was hatte so ein junges Ding hier alleine zu suchen? War es vielleicht eine Falle? Misstrauisch sah er sich um. Irgendetwas stimmte nicht.
„Dort wollen wir auch hin, aber du kannst uns nicht begleiten.“
Clara begriff sofort, doch sie beschloss, der Gruppe einfach mit einigem Abstand zu folgen. Auf diese Weise würde sie wenigstens nach Regensburg kommen, ohne sich zu verlaufen. Trotzig machte sie es sich im hohen Gras bequem.
Die kleine Gruppe der Kaufleute wurde unruhig. Was wollte dieses Mädchen? Hatte sie nicht begriffen, dass man nichts mit ihr zu tun haben wollte? Mürrisch brachen sie das Lager ab. Hier würden sie auf gar keinen Fall mehr rasten. Clara wartete, bis die Kaufleute losgezogen waren. Dann folgte sie ihnen in einiger Entfernung. Das konnten sie ihr nicht verbieten.
Die Strecke wurde immer unwegsamer. Tiefe Löcher waren mitten auf dem Weg und Clara hatte mit ihren langen Röcken alle Mühe, den Abstand zur Gruppe nicht größer werden zu lassen. Angestrengt keuchte sie, Schweiß rann ihr von der Stirn. Dann hörte sie plötzlich ein Krachen und einen entsetzten Aufschrei. Clara stockte und sah, dass das Rad des vordersten Wagens gebrochen war. Das Gefährt kippte und begrub einen Mann unter sich. Sofort kam der Zug zum Stehen. Die Kaufleute versuchten, den Wagen anzuheben, um den Eingeklemmten zu befreien. Doch es fehlte ihnen die Kraft. Schmerzensschreie und lautes Stöhnen, dann wurde es plötzlich still. Die Frau des Verletzten schrie hysterisch.
„Helft ihm doch. Er stirbt, so tut doch etwas.“
Schnell hetzte Clara zu der Unglücksstelle.
„Lasst es uns noch einmal versuchen.“ Beherzt griff sie zu und versuchte gemeinsam mit den anderen Männern, den Wagen ein Stück zu heben. Diesmal klappte es. Die Frauen taten sofort das Richtige und zogen den eingequetschten Mann unter dem Wagen hervor. Dieser war längst ohnmächtig geworden. Mit einem Blick erkannte Clara, dass sein Bein gebrochen war.
„Wir müssen das Bein richten und schienen, solange er noch ohnmächtig ist. Ich brauche ein Brett oder gerade Äste, auch Seile. Beeilt euch.“ Sie hatte viel von Esmeralda und den Zigeunern gelernt und das kam ihr jetzt zugute.
Mit geübten Händen richtete sie das Bein. Ab und zu kam ein Stöhnen über die Lippen des Ohnmächtigen.
„Haltet ihn gut fest. Er wird sich wehren, falls er aufwacht.“
Zwei kräftige Männer taten, was Clara befahl. Neugierig schaute ihr der Rest der Gruppe zu.
„Bist du eine Baderin?“
„Nein, aber ich kenne mich ein wenig aus.“
Nach getaner Arbeit reichte eine der Frauen Clara ein Stück Brot und einen Becher dünnen Wein. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie eine Ewigkeit nichts mehr gegessen hatte.
Gierig schlang sie das karge Mahl hinunter. Leicht angewidert schauten ihr die Frauen zu.
„Danke, dass du uns geholfen hast, Frau Clara.“ Ein Mann streckte ihr die Hand entgegen.
Clara sah ihn bittend an. Sie hatte nur einen Wunsch und den kannte jeder aus der Gruppe.
„Lasst sie mit uns reisen“, forderte eine kleine rundliche Frau.
„Aber sie kann doch nicht den ganzen Weg laufen!“, keifte eine andere Frau dazwischen.
„Ich habe einen Wagen, er steht am Weg da herunter.“ Claras Herz schlug schneller. Die Kaufleute mussten sie mitnehmen, das wäre ihre Rettung.
„Bitte lasst mich mit euch reisen. Ich wäre euch sicherlich eine Hilfe.“
Die Kaufleute waren sich schnell einig.
„Wir werden auf jeden Fall heute Nacht hier bleiben. Wir holen deinen Wagen und werden das Lager aufschlagen.“
Clara bedankte sich. Endlich hatte sie wieder ein wenig Glück. „Ich werde in den Wald gehen und versuchen, ein paar Hasen zu fangen“, bot sie bereitwillig an.
Schließlich wollte sie ihren Teil beitragen. Allerdings beschloss sie, sich nicht allzu weit vom Lager zu entfernen. Die Angst, dass sie erneut allein gelassen wurde, war zu groß.
Es dauerte Stunden, bis die Männer mit dem kleinen bunten Wagen zurückkamen.
„Hättest uns ruhig sagen können, dass der Weg doch so weit ist. Wegen dir haben wir einen halben Tag verloren. Mein Name ist übrigens Josef und ich bin der Anführer dieser Gruppe.“ Der Mann streckte ihr eine schmutzige Hand entgegen. Clara nickte knapp. So viel Freundlichkeit kannte sie von den Zigeunern nicht.
Sie holte zwei Fallen aus ihrem kleinen Wagen und machte sich, nicht ohne vorher noch einmal nach dem Verletzten gesehen zu haben, auf den Weg.
Zur Überraschung der Frauen kehrte Clara gegen Abend mit einigen Hasen zurück, die dankbar in Empfang genommen wurden. Zusätzlich hatte das Mädchen Moos und einige Kräuter und Blüten gesammelt.
„Wofür das Grünzeug?“ Johanna, die Frau des Verletzten, schaute zweifelnd auf die Mitbringsel.
„Ich werde einen Sud kochen, der deinem Mann die Schmerzen nimmt. Das Moos brauche ich zum Kühlen des Bruches und falls er Fieber bekommt.“
„Woher hast du dieses Wissen?“
„Meine Familie, nein … Die Menschen, bei denen ich aufwuchs, haben mir viel über Heilkunde beigebracht. Zigeuner können sich keinen Bader leisten, darum wird das Heilwissen von den Alten an die Jungen weitergegeben.“ „Und warum sprichst du von Menschen, bei denen du aufgewachsen bist?“
„Ich weiß es selbst nicht so genau, nur dass ich nicht die Tochter der Frau war, die mich wie eine Mutter großzog. Jetzt ist sie tot und die anderen ließen mich einfach zurück.“
Johanna beschlich Mitleid. Dieses arme Mädchen war auf sich allein gestellt. Hübsch sah sie aus. Das blonde Haar trug es offen, was sich natürlich nicht gehörte. Die
Kleidung konnte mal wieder eine Wäsche vertragen, aber dass wollte sie jetzt nicht ansprechen, schließlich hatte sie andere Sorgen.
„Wird mein Mann den Unfall überleben?“
Clara stand auf und schaute der Frau tief in die Augen.
„Ich weiß es nicht. Wenn kein Fieber dazukommt, denke ich schon. Wir müssen hoffen.“
„Hoffen und beten“, verbesserte Johanna sie.
„Beten?“
„Ja, beten. Der Herr wird entscheiden, was mit meinem Mann wird.“ Johanna blickte in den wolkenverhangenen Himmel. Clara spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Sie schluckte hart.
„Dann werde ich dir etwas über unseren Herrgott erzählen. Wir werden ja noch einige Zeit miteinander verbringen.“
Clara war froh, dass die Frau von einiger Zeit sprach. Vielleicht durfte sie vorerst bei den Kaufmannsleuten bleiben.
Der Verletzte stöhnte und öffnete leicht die Augen.
„Georg?“ Johanna strich ihrem Mann fürsorglich das schweißnasse Haar aus der Stirn.
„Er kommt zu sich. Das ist ein gutes Zeichen“, stellte Clara erleichtert fest. Sie befühlte die Stirn.
„Leichtes Fieber, aber das wird wohl völlig normal sein.“
„Was ist passiert?“ Georg versuchte, sich zu bewegen. Langsam kam die Erinnerung zurück. Erschrocken schaute er auf sein gebrochenes Bein.
„Das Zigeunermädchen hat dich gerettet. Du hast ihr eine Menge zu verdanken.“ Johanna zeigte auf Clara, der eine leichte Röte ins Gesicht schoss. Danken? Sie schämte sich etwas.
„Ich danke dir, Kind“, stöhnte Georg.
„Das müsst ihr nicht. Ich bin froh, bei euch sein zu dürfen“, wehrte Clara ab. Sie war sich nun sicher, dass sie Regensburg erreichen würde. Die Kaufmannsleute hatten sie in ihrer Reisegruppe aufgenommen.
Abschied
Am nächsten Morgen hatte sich Georgs Zustand verschlechtert. Der Verletzte war nicht in der Lage, die Reise weiter fortzusetzen.
„Es wird sicherlich einige Tage dauern.“ Clara untersuchte das Bein. Die Schwellung ließ langsam nach. Die anderen Reisenden murrten.
„Wir können nicht länger warten. Jeder Tag kostet uns Geld. Wir müssen weiter.“ Einer der Männer regte sich auf, die anderen stimmten ein.
„Aber Georg kann noch nicht reisen. Habt doch ein bisschen Geduld“, bettelte Johanna.
„Wir werden wahrscheinlich noch drei bis vier Tage abwarten müssen“, warf Clara ein. Das Mädchen hoffte inständig auf die Anteilnahme der Mitreisenden.
„Nein, es reicht. Wir können nicht weiter warten. Habt Verständnis, aber wir reisen weiter.“
„Wir müssen versuchen, weiterzukommen“, keuchte Georg.
Innerhalb kurzer Zeit war die Gruppe reisefertig. Johanna führte das Pferd über den matschigen Weg, Georg lag im Wagen. Bei jedem Schlagloch ertönte ein ohrenbetäubender Schmerzensschrei. Clara war die Letzte der Wagengruppe. Mühselig trieb sie den alten Ochsen an. Johanna keuchte und glitt einige Male mit ihren durchnässten Kleidern auf dem glitschigen Boden aus. Die Frau riss sich zusammen, doch hatte sie kaum noch Kraft. Sie durchquerten einen Wald.
„Ich kann nicht mehr“, keuchte sie erschöpft.
„Dann bleibt hier und folgt uns später“, schlug Josef, der Anführer der Gruppe, kalt vor.
„Aber du kannst uns doch nicht zurücklassen.“ Johanna erschrak. Die Gefahren des Waldes waren groß, wilde Tiere und Diebe keine Seltenheit.
„Der Herrgott wirdʼs verstehen. Wir wollen unsere Waren in Regensburg verkaufen. Da können wir nicht noch länger warten. Auf jeden Fall setzen wir die Reise fort. Bleibt ihr mit dem Zigeunerkind hier. Wir müssen etwas verdienen und hungrige Mäuler stopfen.“
„Nein, bitte helft uns“, flehte Johanna ein weiteres Mal. Doch sie wusste, dass dieses Flehen nichts half.
Josef schaute sie kalt, aber auch mitleidig an. Er fühlte sich sichtbar unwohl. Dann gab er den anderen Kaufleuten einen Wink zum Weiterfahren.
„Ihr werdet es auch ohne uns schaffen“, waren seine letzten Worte.
Johanna brach in Tränen aus und klagte lauthals. Clara war sprachlos. So eine Kaltherzigkeit hatte sie bei den Zigeunern nie erlebt. Diese hielten zu ihresgleichen, egal was passierte.
„Beruhige dich, wir werden es auch ohne sie schaffen.“ Tröstend legte sie den Arm um die Schultern der erschöpften Frau.
„Ich werde mich jetzt erst einmal nach einem geeigneten Rastplatz umschauen. Allein sind wir eine leichte Beute von Dieben und Schändern.“
Johanna nickte enttäuscht und schaute das Mädchen ängstlich an. Erst jetzt wurde ihr bewusst, in welcher Gefahr sie sich befanden. Zwei wehrlose Frauen und einen Verletzten konnte man leicht überfallen. Zudem hatten sie einige Ballen Wollstoffe geladen, welche einen Überfall nur noch reizvoller machten.
Clara blickte der Reisegruppe leise fluchend nach.
„Der Teufel soll euch holen“, zischte sie wütend.
„Clara!“ Johanna erschrak bei den Worten.