Kitabı oku: «Heart of Sullivan», sayfa 2
»Schaut euch um. Wenn ihr etwas braucht, ruft mich.«
»Sie lassen uns einfach mit den Sachen alleine?« Emma spricht aus was ich denke.
Jenny lacht und winkt ab. »Hier unten steht nichts, was mir gehört. Vermutlich hätte ich mir noch nicht einmal die Mühe gemacht, all das Zeug durchzuschauen und es einfach abholen lassen. Wenn ihr glaubt, hier unten etwas Wertvolles zu finden, dann nehmt es einfach mit.«
Ein »Aber warum?«, kann ich mir dennoch nicht verkneifen.
Jenny stemmt die Hände in die Hüften. »Willst du dir die Sachen jetzt ansehen, Mädchen, oder nicht? Ihr zwei seht nicht unbedingt aus wie zwei Rumtreiberinnen und wie ich bereits gesagt habe, mir bedeuten diese Sachen nichts.«
»Findest du nicht auch, dass diese Jenny irgendwie komisch ist?«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Meinst du, noch komischer als wir?«
»Ha, ha. Nein, im Ernst. Bilde ich mir das nur ein oder wirkt sie … unecht?«
Kurz denke ich darüber nach. Auch mir ist aufgefallen, dass etwas mit Jenny nicht stimmt, aber was kümmert uns das schon? Ich schiebe den Gedanken fort und zucke mit den Schultern. Dann wende ich mich den Dingen zu, die Jenny hier heruntergebracht hat und schüttle nachdrücklich den Kopf. »Nee.« Emma ist immer gleich verschreckt, wenn etwas in der Luft liegt und wir können es jetzt gerade nicht gebrauchen, dass sie einen Rückzieher macht.
Alle Habseligkeiten wurden in Kisten, Taschen und Kartons gepackt und ordentlich hier unten aufgestapelt. Tilly hatte viel Zeug, zum Teil richtigen Plunder. Ihr Leben jetzt in ein paar Kartons verstaut zu sehen, ist traurig und ich wünschte, ich hätte auch ihr ein paar Blumen unter den Baum gelegt.
Langsam drehe ich mich im Kreis, frage mich, wo wir anfangen sollen. Bei den Kisten hinten im schummrigen Eck? Oder bei dem staubigen Lederkoffer unter der steilen Holztreppe? Die Kartons hier an der Wand sehen unscheinbar aus, aber irgendwo müssen wir anfangen.
»Komm, hilf mir mal bitte.« Obenauf stehen zwar kleinere Kartons, aber selbst auf Zehenspitzen schaffe ich es nur, den untersten Rand des Kartons zu berühren.
»Zwerge haben es schon nicht so leicht im Leben, was?« Emma, die Riesin, hebt ohne Probleme den Karton an und hält ihn mir grinsend entgegen. Ich strecke ihr die Zunge raus. Insgeheim bin ich aber erleichtert, dass sie nicht weiter über Jenny nachdenkt.
»Wie interessant«, murmle ich sarkastisch und hebe eine kleine Stoffpuppe hoch. »Ziemlich gruselig.«
»Bist du dir sicher, dass diese Tilly nicht ein bisschen verrückt war?«
Ihre Worte verletzen mich und ich drücke die Puppe schützend an meine Brust. »Warum? Das ist nur ein altes Kuscheltier.«
»Heart.« Emma lacht laut auf. »Das ist mit ziemlicher Sicherheit eine Voodoo-Puppe.«
Vor Schreck lasse ich die, in der Tat etwas seltsame, Puppe zurück in den Karton fallen.
»Wuhää!«, stöhne ich und schüttle mich. Emma kichert immer noch. »Wenn wir tiefer graben, finden wir sicher auch noch die passenden Nadeln. Schau mal.« Sie hebt, schelmisch grinsend, eine Pappbox ins Licht. »Vielleicht hier drin.«
Wieder schüttle ich mich. »Lass das.«
Natürlich weiß ich, dass Voodoo nicht nur schwarze Magie ist, aber Voodoo-Puppen und Nadeln … Das passt nicht zu Tilly. Ganz und gar nicht. Nicht zu dem Bild, das ich von ihr habe. Angeekelt stelle ich den Karton mit der Puppe auf den Boden und schiebe ihn mit dem Fuß von mir.
»Lass uns da drüben weiterschauen, okay?«
Jahrelang angesammeltes Zeug, esoterische Ratgeber, ausgemalte Mandala-Bücher mit den Titeln ›Good Vibes – Good Feelings‹ oder ›Magische Mandalas – Futter für die Seele‹ und Kleidung fördern wir zutage. Es ist wieder genauso frustrierend wie vor ein paar Wochen, als ich Tillys Wohnung über dem Café auf den Kopf gestellt habe.
»Hier ist einfach nichts«, sagt Emma nach gefühlten Stunden und reibt sich über den steifen Nacken. »Tut mir leid, Kleine. Aber wir haben wirklich jede Kiste durchgeschaut.« Sie blinzelt müde und blickt auf ihre Armbanduhr. »Himmel! Es ist schon halb acht. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wo wir schlafen sollen.«
Natürlich hat sie recht und trotzdem will ich noch nicht aufgeben. Wir haben ein ziemliches Chaos angerichtet und irgendwann die Kartons einfach auf den Boden ausgeleert. Überall sind Tillys Sachen verstreut. Obwohl ich ihrer verstorbenen Seele gegenüber einen gewissen Respekt empfinde, bin ich wie im Rausch. Die pure Hoffnung etwas zu finden, treibt mich noch immer an. Es ist fast schon wahnhaft, dass ich nicht aufhören kann, alles nochmal und nochmal zu durchstöbern. Ich sitze inmitten eines Haufens aus Pullovern, Kerzenständern, einer zerkratzten Teekanne und losen Blättern.
»Irgendwas muss hier sein. Ich bin mir ganz sicher, dass hier was ist. Wir haben es nur übersehen.«
Auf allen Vieren krabble ich über den Boden. »Ganz sicher.«
»Jetzt hör auf. Da ist nichts. Nichts, das uns weiterhilft.« Mit dem Fuß stößt sie gegen einen Haufen Klamotten, den ich gerade in die Hand nehmen will.
»He, ich wollte … Emma!« Ich schiebe mich näher heran. »Emma, jetzt schau doch mal.«
Mit den Fingern fahre ich über die breite Holzdiele, die unter dem Haufen zum Vorschein gekommen ist, um sicher zu gehen, dass mich meine Augen nicht trügen. Und wirklich, die Nägel in dem alten Holz fehlen und die Diele bewegt sich unter meinen Händen.
»Ha!«, rufe ich aus und hebe das lose Brett an. Es knarzt und ich muss fester daran ziehen, damit es sich vollends aus dem Boden lösen lässt, dann aber halte ich es in Händen und schaue in ein dunkles Loch.
»Du meine Güte«, stößt Emma atemlos hervor. Sie kniet sich neben mich und stützt sich auf ihre Hände, um besser sehen zu können.
»Gib mir bitte mal die Taschenlampe.«
Sie öffnet ihre Umhängetasche, in der Henrie friedlich schlummert, und reicht mir die Lampe. Wir halten beide den Atem an, als ich sie anknipse und der Lichtstrahl eine Kiste erfasst. Eine dünne Staubschicht zeugt davon, dass sie schon eine Weile nicht mehr geöffnet worden ist. Die Kiste ist vielleicht so lang wie mein Unterarm und aus angelaufenem Metall.
»Hohl sie raus«, flüstert Emma aufgeregt. Im gleichen Moment öffnet sich die Tür zur Kellertreppe und wir fahren zusammen.
»Ich schließe gleich das Café. Seid ihr fertig?«, ruft Jenny.
»Mhm, fast.«
Jennys Schritte knarzen auf der alten Treppe, als erst ihre Füße und Beine, dann der Rest ihres beleibten Körpers auftauchen. Es gibt keinen Grund für meine Heimlichtuerei, aber ich lege einen alten, mottenzerfressenen Pullover über die Öffnung im Boden.
»Habt ihr gefunden, wonach ihr gesucht habt?«
Und ob wir das haben. »Nein, leider nicht. Aber wir haben eine ziemliche Unordnung angerichtet.«
»Ja, das sehe ich.« Jenny schmunzelt und lässt den Blick über das Chaos gleiten. Emma hebt umständlich im Aufstehen ihre Tasche hoch und tritt auf sie zu.
»Es tut uns leid. Wenn Sie es uns erlauben, kommen wir morgen wieder und räumen auf, Frau …«
»Ach, sagt einfach Jenny zu mir.« Sie zwinkert Emma zu. »Wenn ihr zwei mir versprecht, morgen wiederzukommen, will ich so tun, als wäre ich auf beiden Augen kurzzeitig erblindet. Kommt.«
Ich lecke mir über die Lippe und werfe einen kurzen Blick auf den Pullover. Eigentlich könnte es mir egal sein, ob Jenny die Kiste sieht, gleichzeitig will ich aber nicht, dass sie Fragen stellt und am Ende sogar sehen möchte, was sich daran befindet. Obwohl Jenny nett zu sein scheint, vertraue ich ihr nicht.
Dennoch zögere ich, bis Emma mein Handgelenk ergreift und daran zieht. »Komm«, fordert sie mich auf und schaut mich eindringlich an.
Morgen, denke ich und schultere meinen Rucksack. Der Punkt zwischen meinen Schulterblättern brennt, während ich die Treppe nach oben steige, in Gedanken bin ich ganz bei dieser geheimnisvollen Kiste.
5
»Zimmer vier wäre noch frei«, sagt der alte Mann und greift nach einem Schlüssel. In den vorherigen Minuten hat er mit seinen Unterlagen geraschelt und uns immer wieder misstrauisch gemustert. Ich kenne diese kleine Pension und weiß, dass sie gerade mal sechs Zimmer hat. Und alle sechs Schlüssel hängen hinter dem Mann an der Wand. Langsam, fast wie in Zeitlupe, streckt er seine Hand nach dem Schlüsselbrett aus. Dabei lässt er uns keine Sekunde aus den Augen. Als ob wir die alte Tischklingel klauen würden.
»Danke sehr!« Ich lächle gezwungen, Emma muss ihm den Schlüssel fast aus der Hand reißen, ehe er ihn loslässt und wir uns umdrehen können. Das Zimmer ist allerdings so günstig, dass wir es von meinem Ersparten bezahlen können. Irgendwann werden wir uns wohl Gedanken über das Geld machen müssen.
Ich spüre seinen Blick, als wir die abgetretene Treppe ins erste Stockwerk emporsteigen. Es sieht noch alles genau so aus, wie in meiner Kindheit. Blümchentapete, der ehemals rote Teppich, der jetzt rosa ist, die altmodischen Leuchten mit den Troddeln. Ich seufze leise und versuche nicht an die Zeit zu denken, in der Elena und ich mit den Kindern der ehemaligen Besitzer hier Verstecken gespielt haben. Ronda und Harry hießen die Zwillinge, erinnere ich mich.
»Was hatte der denn für ein Problem?«
»Keine Ahnung. Der war ja schon sonderbar. Hauptsache wir haben ein Zimmer für die Nacht. Hier ist es«, sage ich und bleibe vor der Tür zu Nummer Vier stehen. Mit klopfendem Herzen schiebe ich den Schlüssel ins Schloss und drücke die Tür auf. Auch hier sieht es aus wie früher.
Es ist ein altmodisches, aber herrlich gemütliches Zimmer mit schweren Vorhängen und gemusterter Tapete. Und es hat eine Badewanne. Emma, die weiß, wie gerne ich bade, nimmt mir meinen Rucksack ab und schiebt mich mit einem Augenzwinkern ins Bad.
»Wenn du fertig bist, möchte ich dir etwas zeigen.« Natürlich macht mich das neugierig, aber Emma zieht mir die Tür vor der Nase zu und ich belasse es dabei. Erst die Badewanne, dann das was Emma mir zeigen möchte. Ich schäle mich aus meinen Klamotten. Jetzt erst fällt mir auf, wie schmutzig sie sind. Während ich das Badewasser einlasse, wasche ich ein paar meiner Sachen mit der Flüssigseife aus dem Spender und hänge sie über die Heizung. Danach steige ich in das angenehm warme Wasser und schließe die Augen. Für den Moment kann ich entspannen, das Wasser genießen, das an meinem Körper leckt, doch schon im nächsten Moment macht mir mein Gehirn einen Strich durch die Rechnung. Es erinnert mich daran, dass dies die erste Nacht seit einer ganzen Weile ist, die ich in Illington verbringen werde, und das auch noch in einem Hotelzimmer. Plötzlich fühle ich mich wie ein Gast, schlimmer noch, wie eine Fremde, in meinem eigenen Dorf. Aber ist es denn noch mein Dorf? Ab wann ist eine Heimat keine Heimat mehr?
»Nein«, sage ich und schlage mit der Hand so fest auf das Wasser, dass Spritzer dunkle Flecken auf der gelben Tapete hinterlassen. Keine trüben Gedanken mehr. Davon hatte ich heute reichlich und irgendwann genügt es auch mal. Wenigstens für die nächsten paar Stunden. Trotzdem ist an Entspannung nicht mehr zu denken. Seufzend steige ich aus der Badewanne und wickele mich in eines der großen Handtücher. Ich brauche dringend Ablenkung und ärgere mich darüber, die Kiste vorhin nicht einfach mitgenommen zu haben. Was ist, wenn diese Jenny in den Keller geht und beim Stöbern das Versteck unter dem Pullover entdeckt. Mir wird ganz heiß bei dem Gedanken. Ich lehne meine Stirn gegen das kühle Spiegelglas und atme ein paar Mal tief durch bis ich mich wieder beruhige. Als es leise an der Tür klopft, hebe ich den Blick und begegne Emmas Augen, die mich sorgenvoll mustern. »Kommst du zurecht?«
»Geht schon«, flüstere ich und ziehe das Handtuch enger um mich. Emma bemerkt mein Zittern und schließt die Tür. Warme Finger berühren mein Gesicht, als sie sanft über meine Wangen streicht und ihre Hände um mein Gesicht wölbt. Ein Prickeln, das meinen ganzen Körper erschaudern lässt, durchfährt mich und ich schmiege mein Gesicht an ihre weiche Haut. Zum Glück ist sie bei mir, denke ich und fühle wie sich meine Mundwinkel heben.
»Lass uns schlafen gehen«, sagt Emma und reicht mir meine Zahnbürste.
Wir stehen nebeneinander vor dem Spiegel und ich betrachte unsere beiden Gegenbilder im Glas, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Emma ist wirklich groß, nicht nur im Vergleich mit meiner Winzigkeit, und dennoch eher zierlich, während mein Körper kurvig ist. Ihre Augen sind blau, meine so dunkelbraun, dass man sie fast schon als schwarz bezeichnen könnte. Sie passen zu meinen dunklen, sehr langen Haaren, die, wie ich seit kurzem weiß, bei Emma aschblond sind. Um gegen ihre strengen Eltern zu rebellieren, hat sie sich die Haare abschneiden und rosa färben lassen. Eine Farbe, die ihr hervorragend steht. Aber an ihr sähe alles gut aus. Das einzige, das wir gemein haben, ist unsere blasse Haut. Ich begegne ihrem Blick im Spiegel. Sofort ist diese Wärme wieder da, die sich in mir ausbreitet, wenn Emma mich so ansieht.
»Du bist so schön, Heart«, flüstert sie plötzlich und berührt mich an der Hand. Verlegen senke ich den Blick auf meine Füße.
»Ach was«, wehre ich ihr Kompliment ab und fühle, wie meine Wangen rot werden. Ich kann nicht glauben, was sie da sagt. Nicht, weil ich mich hässlich finde, sondern weil sie es sagt. Weil Emma mich schön findet. Sie legt einen Finger unter mein Kinn und hebt es an, damit ich ihr in die Augen schaue. Ihr Blick ist so zärtlich, dass mir noch wärmer wird und mein Herz immer schneller zu schlagen beginnt. Es fühlt sich so an, als wolle es meine Brust verlassen und mit dem ihren verschmelzen. Ihr Gesicht ist meinem jetzt so nah, dass ich ihren Atem auf der Haut spüren kann. Emma zieht mich noch näher, ihre Lippen berühren fast die meinen und ich schlucke schwer.
»Verrückte, impulsive, wunderschöne Heart«, murmelt sie an meinen Lippen und dann, endlich, küsst sie mich.
Später liegen wir dicht aneinander geschmiegt unter der warmen Bettdecke. Emma streichelt die nackte Haut meines Rückens und in Wellen überrollt mich ein Gefühl von Glückseligkeit und Geborgenheit.
»Du, Emma.« Sie brummt schläfrig. »Was wolltest du mir eigentlich zeigen?«
Die Laken rascheln, als sie sich zu mir dreht. Ihre Augenlider sind schwer vor Müdigkeit und sie gähnt ausgiebig.
»Ach ja, stimmt. Schade …« Sie küsst mich sanft, bevor sie aufsteht. Von draußen fällt helles Mondlicht in unser Zimmer und lässt ihre Haut silbrig schimmern. Mein Herz macht einen kleinen Satz bei ihrem Anblick. Sie ist einfach hinreißend schön.
»Machst du mal das kleine Licht an.«
Auf dem Nachtkästchen neben dem Bett thront ein Monster von einer Nachttischlampe und ich brauche einen Moment, bis ich sie anbekomme. Emma setzt sich wieder auf das Bett und legt einen zusammengeknuddelten Pullover vor mich, der mir wage bekannt vorkommt. Er ist dunkelbraun, sieht selbstgestrickt aus und …
»EMMA!«, kreische ich und zerre den Pullover, Tillys Pullover, fort. »Ja! Aber … wie hast du das angestellt.«
»Ich glaube, manchmal unterschätzt du mich ein bisschen«, sagt sie schmunzelnd.
Da liegt sie. Alt und ein bisschen rostig. Die Kiste aus Tillys Keller. Ich schüttle den Kopf und lache gleichzeitig.
»Das ist ja der Hammer. Wahnsinn. Ich habe dich wirklich unterschätzt.«
Aufs Neue überrascht mich ihre Beherztheit und ich küsse sie überschwänglich auf die Wange. »Du bist klasse!«
»Jetzt mach sie schon auf«, sagt sich verlegen und ich sehe, wie ihr die Röte in die Wangen schießt.
»Schau mich nicht so an«, fordert sie lachend und lässt sich zurück aufs Kissen fallen. Ich lehne mich über sie, lächle, küsse sie, lächle und küsse sie wieder. Emma schlingt die Arme um mich und für die nächsten paar Minuten ist die geheimnisvolle Kiste vergessen.
»Wollen wir sie jetzt endlich öffnen?«, frage ich Emma.
»Unbedingt. Ich sitze schon den ganzen Abend wie auf heißen Kohlen.«
Wir schauen einander aufgeregt an. »Das ist ein bisschen wie bei Schrödingers Katze. Was da drinnen ist, kann uns sowohl weiterhelfen als auch der totale Reinfall sein. Wer weiß, vielleicht hat Tilly ja einzelne Socken gesammelt.«
»Na sicher. Würdest du deine Sockensammlung unter einem losen Dielenbrett verstecken?«
Vorsichtig schiebe ich meine Fingernägel in die Rille und drücke gegen den Deckel. Die Kiste hat kein Schloss oder einen anderen Mechanismus, um sich öffnen zu lassen. Tilly muss gedacht haben, dass ein Versteck im Keller ausreichend sei, denke ich erleichtert, als der Deckel sich aufklappen lässt.
»Und?«
»Es sind auf jeden Fall keine Socken«, erwidere ich schmunzelnd. »Es sind Notizbücher.«
Solche wie Tilly sie immer verwendet hat. Mein Herz rast vor Aufregung. Sind das die Tagebücher, die ich damals in Tillys Wohnung gesucht habe? Ich nehme mit zitternder Hand eines heraus, klappe es auf der ersten Seite auf und beginne zu lesen.
02. Juli, Illington
Etwas stimmt nicht. Ich fühle es schon seit Tagen, die Luft hat sich verändert und diese unheilvollen, dunklen Wolken, die aufgezogen sind, behagen mir nicht. Ganz und gar nicht! Sie bringen nichts als Regen, Kälte und schlechte Laune mit sich. Aber es ist noch etwas anderes. Nur ein Gefühl, das sich seit jenem Morgen in mir breitgemacht hat und mir auf den Kopf drückt.
Ich glaube, da kommt etwas auf uns zu und es ist nichts Gutes.
Elena war heute zu Besuch. Sie klagt über Abgeschlagenheit und das Problem, sich nicht mehr richtig konzentrieren zu können. Ich habe ihr einen Tee aus Lindenblüten und Rosmarin gekocht, der ihr zu einem klaren Geist verhelfen soll.
Sie war ganz blass und hat kein einziges Mal gelächelt, meine sonst so wilde Eli war ganz niedergeschlagen.
Ich bin mir sicher, es liegt an diesen Wolken.
Bei dem Wetter wird mir der Hibiskus eingehen. Dabei steht er gerade in voller Blüte.
04. Juli, Illington
Der Regen wird immer stärker. Seit über einer Woche hat die Sonne nicht mehr geschienen und der Rasen hinter dem Haus ist so stark überschwemmt, dass ich heute Morgen Sandsäcke vor die Terrassentür legen musste.
Immer mehr Menschen im Café klagen über Müdigkeit und Lustlosigkeit. Ab morgen werde ich eine große Kanne Jasmintee zubereiten, für jeden Gast, der möchte.
Aber da ist noch etwas anderes, das nichts mit dem Regen zu tun hat. Etwas liegt in der Luft. Mein Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt, wird von Tag zu Tag schlimmer.
Es ist etwas Böses, das sich uns da nähert.
05. Juli, Illington
Die Kopfschmerzen werden stärker. Ich habe mir einen Sud aus Pfefferminze und Lavendel gekocht und mich noch einmal hingelegt.
Seit heute hängt Nebel über dem Düsterwald und er kriecht auf unser Dorf zu. Das gefällt mir nicht!
Die Menschen bewegen sich wie Schlafwandler. Sie kommen kaum noch ins Café und wenn, schaffen sie es gerade noch so, etwas zu bestellen.
Mir fehlt die fröhliche Lautstärke in meinem Laden.
Eli war seit drei Tagen nicht mehr bei mir und bei ihr zu Hause geht niemand ans Telefon. Ich mache mir große Sorgen!
Der arme Hibiskus lässt die Köpfe hängen.
06. Juli, Illington
Heute Morgen hatte ich Nasenbluten und der Nebel, der Illington über Nacht verschluckt hat, lastet wie Blei auf mir. Elena war wieder da. Sie saß die meiste Zeit schweigend am Tisch, über ihre Tasse (wieder Lindenblüten und Rosmarin) gebeugt und hat ins Leere gestarrt.
Ich werden einen Schutzzauber wirken müssen!
Eisige Wellen überrollen mich, denn ihre Einträge wecken Bilder in mir, die ich vergessen wollte. Aber das ist es.
»Emma. Das ist es«, wiederhole ich laut und wedele mit Tillys Tagebuch. »Ihr Tagebuch! Hier schreibt sie über die Tage im Juli, als die Seelenhexe unser Dorf angegriffen hat. Schau.« Ich bin aufgeregt, dennoch bemerke ich das kalte Prickeln, das mir den Nacken hochkriecht. Ihre Worte hören sich so grausam an, wie in einem Albtraum, aber ich weiß, dass sie real sind. Dass alles wirklich geschehen ist.
Emmas Haare kitzeln mich an der Schulter, als sie vornübergebeugt liest. Ihre Lippen bewegen sich schnell beim Lesen und ihre Augen werden mit jedem Satz größer.
»Schutzzauber? Was meint sie damit?«, fragt sie stirnrunzelnd.
»Keine Ahnung.« Ich seufze. Das tue ich oft in letzter Zeit, wenn ich keine Antwort auf eine Frage habe und wir haben viele ungeklärte Fragen. »Hier sind noch ein paar Tagebücher.«
Außer dem, das ich aufgeklappt auf dem Schoß liegen habe, sind noch zwei weitere in Leder gebundene Büchlein in der Kiste. Dick und schwer liegen sie in der Hand. Tillys Tagebucheinträge sind in ihrer feinen, leicht nach rechts geneigten Handschrift verfasst.
Eine Weile lesen wir schweigend in den Notizen und es ist nur ab und zu das Rascheln von Papier zu hören, wenn wir umblättern.
»OH. GROßER. SCOTT. Schau dir das an!« Emma hält mir eine aufgeschlagene Seite hin und deutet auf den Satz ganz am Ende. Ich schnappe nach Luft.
»Tilly war eine Hexe. Eine richtige Hexe.«
Diese Information braucht eine Weile, bis sie richtig an Bedeutung gewinnt. Nicht die Tatsache, dass es Hexen gibt, überrascht mich, auch nicht, dass Tilly eine war, nein, es überrascht mich, dass ich nicht von selbst auf den Gedanken gekommen bin. Wenn jemand eine Hexe war, dann Tilly Dawson.
»Glaubst du sie war … war … also…« Offensichtlich findet Emma nicht die richtigen Worte. Ihr scheint das Thema unangenehm zu sein, denn sie nestelt an ihrem Lederarmband herum, um Zeit zu schinden. Sie verzieht das Gesicht zu einer gequälten Maske, atmet ein und sagt dann: »Glaubst du, sie war eine von den Guten?«
Erschrocken reiße ich die Augen auf. Wie meint sie das?
»Emma! Du willst doch nicht sagen, dass Tilly wie sie war, oder?«
Emma wird flammendrot im Gesicht und beißt sich auf die Unterlippe. »Keine Ahnung. Nimm es mir bitte nicht übel, aber es ist alles so seltsam. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich glauben soll. Ich habe Angst«, fügt sie dann leiser hinzu.
Wie sie vor mir sitzt, die Schultern hochgezogen, den Blick abgewendet, verfliegt mein Ärger wieder. Wie könnte ich es ihr auch übelnehmen, dass sie sich Sorgen macht. Ganz nah rutsche ich an Emma heran, bis ich ihr einen Arm um die Schultern schlingen kann und sage: »Nein, ich bin mir ganz sicher, sie war eine von den Guten.«
Unvorstellbar, dass es anders sein könnte. Ein Ruck geht durch Emmas Körper und sie richtet sich auf.
»Warte mal. War sie nicht mit deiner Freundin Elena verwandt? War sie dann auch eine Hexe?«
Elena? Eine Hexe?
»Keine Ahnung. Nicht, dass ich wüsste.«
»Kann es sein, dass sie es dir verheimlicht hat?«
Der Gedanke stößt mir sauer auf. »Nein. Eher nicht. Wirklich, Emma, sie war nicht der Typ für Geheimnisse. Außerdem hat sie sich ständig über ihre Tante lustig gemacht.«
Emma winkt ab. »Ist ja auch nicht so wichtig. Ich lese mal weiter.«
Jetzt ergibt auch der Satz über den Schutzzauber einen Sinn, denke ich und blättere zu der Seite zurück. Was hat sie zu mir gesagt, als ich sie schon fast tot im Hinterzimmer ihres Cafés gefunden habe? Ich schließe die Augen, versuche mir die Szene in Gedanken vorzustellen und lecke mir über die Oberlippe. Sie lag auf dem Boden, Blut lief ihr aus der Nase. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Sie hat gesagt, dass sie versucht hat, die Seelenhexe aufzuhalten. Vermutlich mit diesem Schutzzauber. Wenn Tilly eine Hexe war und wenn diese Art von Schutzzauber tatsächlich existiert, gibt es Möglichkeiten, Wesen wie die Seelenhexe mit Magie zu bannen. Denn daran, dass es nicht nur Seelenhexen und weiße Hexen wie Tilly gibt, glaube ich mittlerweile. Magie, Schutzzauber, Hexen … Jahrelang habe ich in einer Welt gelebt, von der ich dachte, sie sei die einzige. Habe über Leute wie Tilly, die an Übernatürliches glauben, gelacht und war sicher, dass die Monster unter meinem Bett nur Hirngespinste sind. Wie leicht man die Augen vor etwas verschließen kann, das nicht rational erklärbar ist und einem Angst macht und doch direkt vor einem ist.
»Schau mal.« Emmas Stimme holt mich zurück in unser Hotelzimmer. Erneut hält sie mir das Tagebuch hin und lässt mich die Stelle lesen, in der Tilly beschreibt, dass das Hexengen manchmal einige Generationen überspringt und willkürlich auftauchen kann, ohne dass dabei ein Muster zu erkennen ist.
»Das würde immerhin erklären, warum Elena keinen Funken Magie in sich getragen hat. Schreibt Tilly irgendwo, wie ihre Hexenkräfte aussahen?«
Emma schüttelt ihre rosafarbenen Haare. »Bisher nicht. Dieses Tagebuch ist teilweise echt langweilig. Oft beschreibt sie nur, was sie wem gegen irgendein Wehwehchen verabreicht hat. Sie war eine richtige Kräuterhexe.«
Nicht nur das, denke ich und blättere weiter durch die Seiten. Sie riechen ganz leicht nach Tilly »Dieses hier ist ziemlich deprimierend«, sage ich und schlage das Büchlein zu. Ich habe nicht vor, weiter darin zu lesen, sonst ist mein Vorsatz keine trüben Gedanken zuzulassen, hinfällig.
»Wir sollten schlafen gehen.«
In dieser Nacht mache ich kein Auge zu und wälze mich unruhig hin und her. Sobald alles dunkel und still ist, erfasst mich eine innere Unruhe, die nichts mit den Dingen zu tun hat, die ich heute erfahren habe. Es liegt an diesem Ort. An meiner ehemaligen Heimat, die mir so schrecklich vertraut und gleichzeitig fremd ist. Morgen werde ich Emma sagen, dass wir Illington verlassen müssen. Aber wohin dann?
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