Kitabı oku: «Reduktion», sayfa 3
Das Alte Gewürzamt
Randvoll mit schönen Eindrücken kehrt Justine aus ihrer Reise in die Vergangenheit zurück, mit all diesen Erinnerungen. Sie mag den Namen Seltenbach, dem irgendjemand diesem eigensinnigen kleinen Bachlauf einmal gegeben hat. Auch sie selbst hält sich nicht selten für seltsam im Sinne von besonders. Und während sie weiter gedankenverloren durch die Gassen streift, entdeckt sie ein Ladengeschäft, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sie kann sich nicht erinnern, es schon einmal gesehen zu haben, doch es lockt sie beinahe magisch an.
„Mama, hast du Zimt in die Soße gegeben?“, hatte Justine ihre Mutter gefragt, als sie ein kleines Mädchen war.
„Ja, mein Schatz. Das schmeckst Du heraus?“
„Ich hatte einen kurzen Grießbrei-Moment … deshalb. Lecker, ich wusste nicht, dass man Zimt auch zu einer Bratensauce geben kann.“
„Ach, man kann es zumindest probieren. Mit der Zeit stellt sich heraus, was schmeckt und was nicht so gut passt. Ich liege auch manchmal noch daneben. Weißt du noch, als ich den Fisch mit Vanille kombiniert habe? Das hat euch nicht so gut geschmeckt.“
„Du bist also eine Erfinderin von neuem Geschmack!“, schlussfolgerte Justine und ihre Mutter musste lachen.
Die Welt der Gewürze verzauberte sie schon als kleines Mädchen und bis heute ist davon nichts verloren gegangen. Anders als andere Kinder vielleicht, mochte Justine zum Beispiel schwarzen Pfeffer, Kümmel und fruchtig-scharfe Currys schon im Alter von gerade mal 5 Jahren.
Justine staunt über den massiven Sandstein, der den unteren Teil der Fassade ziert. Sandstein war hier überall verbaut. Sie erinnert sich in diesem Moment wieder daran, dass Valerie einen Keller aus ebensolchem Gestein besessen hatte. Tante Vally kultivierte damals auf Strohballen sogar Champignons, die Justine ernten durfte. Es herrschte ein herrlich angenehmes, erdiges Klima in diesem Keller, auf den Regalen rund herum war eine Auslage von Weinflaschen und etwas Gemüse.
Sie betritt den Gewürzladen und sieht sich um. Direkt im Eingangsbereich hängt ein rot schimmernder, großer Deckenleuchter. Ein Verkäufer an der Theke befindet sich in einem Beratungsgespräch und grüßt nur kurz, dafür mit einem herzlichen Lächeln. Justine ist ganz froh darüber, für sich zu sein und allein durch die Regale zu stöbern. Es gibt zahlreiche grüne Döschen, die gefühlt alle Gewürze der Welt enthalten. Auf einem Tisch in der Mitte stehen größere Gläser, darin sind verschiedene Gewürzproben. In den hölzernen Auslagen ringsum gibt es dazu passende Ergänzungen wie Pfeffermühlen, Reiben und Weine. Sie hat so oft mit den unterschiedlichsten Gewürzen hantiert, doch hier bekommen sie eine ganz eigene, große Bühne. Justine schaut ganz genau hin und versinkt in diesen Beobachtungen. Das kleine schwarze Pfefferkorn trägt einen ledrig anmutenden Mantel, den es um sich geschlungen hat wie ein wabenförmiges Netz. Der Name schwarzer Pfeffer wird dem Produkt gar nicht ganz gerecht, denn es schimmert in den unterschiedlichsten Nuancen, zeigt zahlreiche Brauntöne. Justine geht weiter zum Sternanis. Das Gewürz erscheint ihr wie eine Blüte gefertigt aus Holz und Rinde, so fein ausgearbeitet von der Natur, wie es ein Handwerk nicht schaffen könnte. Sie öffnet das Glas mit der echten Vanille, schließt die Augen und atmet tief ein.
„Riecht gut, was?“, fragt der junge Mann und strahlt übers ganze Gesicht. Justine zwinkert ihm nickend zu und schlendert weiter.
Als sie den Laden wieder verlässt, ist es bereits eine ganze Stunde später. Im Hotel breitet sie alles auf dem Bett aus, lauter kleine Besonderheiten, die sie in Hamburg an diesen Tag erinnern werden. Der junge Mann hat sie hervorragend beraten.
Das Handy klingelt.
„Hallo Tini, hattest Du einen guten Tag?“, fragt Tom. „Wunderbar“, schwärmt sie. „Ich habe mir vorgenommen, wieder häufiger selbst zu kochen, so wie früher. Hier gibt es einen kleinen Laden, der mich sehr inspiriert hat. Lass Dich überraschen.“
„Klingt gut. Ich habe Theo und Lars eingeladen, sie kommen in einer Stunde. Wir wollen bisschen FIFA zocken, deshalb rufe ich jetzt schon an.“
„Okay, hast du denn was eingekauft?“, will Justine wissen.
„Lars bringt zwei Sechser und Chips von der Tanke mit.“
„Ah … gut, dann wünsche ich euch viel Spaß und wir hören uns dann morgen. Ich melde mich, wenn ich im Zug sitze.“
Nach dem zehnminütigen Austausch ist das Telefonat wieder beendet. Justine streckt ihren Fuß vom Hotelbett aus in die Luft, streift sich den zweiten Schuh ab und gähnt. Dann knurrt ihr Magen mit einem Mal so laut, dass sie lachen muss. Die ganzen Aromen haben ihren Appetit angeregt und bis auf drei kleine Probierhäppchen im Alten Gewürzamt und das Eis hatte sie nach der Ankunft nichts mehr zu sich genommen.
Also los, lass uns was futtern.
„Die Nummer drei aus der vegetarischen Karte bitte. Dazu den Spätburgunder vom Klingenberger Schlossberg, der klingt sehr gut“, wählt Justine aus der fränkischen Karte der Häckerwirtschaft aus.
Sie hat einen lauschigen Platz im Freien bekommen. Als Tisch dient ein altes Holzfass mit einem roten Deckchen, direkt über ihr ranken die Reben. Noch sind die Zweige fast kahl, doch im Herbst, wenn alles voller Weinblätter und Trauben hängt, sieht das sicher noch viel schöner aus.
„Einmal das rote Frankengold für die junge Dame, zum Wohlsein.“
Als das Glas serviert wird, ist er angenehm kühl. Justine mag es, wenn der Rotwein etwas kälter ist, gerade bei diesen Temperaturen. Sie schwenkt das Glas und hebt es gen Himmel.
„Auf Dich, Tante Vally.“
Es schmeckt vorzüglich. Im Französischen bedeutet Bouquet auch Blumenstrauß, daher passt die Bezeichnung auch wunderbar zu dem charakteristischen Duft der Weine. Der hier schimmert rubinrot im Sonnenlicht.
Die Kellnerin bringt einen kleinen Salat, Klöße mit einer schön einreduzierten, kräftigen Dunkelbiersauce und Scheiben von gebratenen Sommersteinpilzen aus der Region sowie ein Schälchen Rotkraut und eingekochte, süß-säuerliche Johannisbeeren. Das Kraut ist hand-geschnitten und verfeinert mit etwas grob gewürfeltem Apfel, Wachholderbeere und Lorbeerblatt. Lecker!
Valeries Brief
Erfüllt vom Tag und aufgeregt vor dem morgigen fällt Justine in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als sie mit dem Wecker um 7 Uhr erwacht, lacht schon die Sonne zum Fenster herein. Am Bahnhof steigt sie nach einem Kaffee, etwas Obst und Körnerbrötchen in die Westfrankenbahn ein und fährt Richtung Obernburg. Gleich werde ich erfahren, was Tante Vally mir vererben möchte.
An dieses „Sicher nur Schulden“ von Tom, wollte Justine nicht glauben. Im Wartebereich nestelt sie aufgeregt an ihrem Umhängebeutel herum, bis sie aufgerufen wird. Dann schließt sich eine schwere Eichentür und die Testamentseröffnung beginnt.
Eine halbe Stunde später erkundigt sich der Notar, ob sie alles verstanden hat oder ob noch Fragen bestehen.
„Ich habe dann sechs Wochen Zeit, um mich zu entscheiden, das Erbe anzunehmen oder auszuschlagen, richtig?“, versichert sich Justine.
Er nickt, schüttelt ihr die Hand und bringt sie zur Tür.
„Hier ist noch ein Umschlag, den Frau Dupont dem Testament beigefügt hat. Er ist an Sie persönlich adressiert. Sie können ihn später in aller Ruhe lesen, für die Testamentsverkündung ist er ohne Relevanz.“
Draußen verstaut Justine den Brief sorgsam mit den anderen Dokumenten in ihre Tasche und wandert wieder Richtung Bahnhof.
Doch Moment!
„Schauen Sie es sich an, bevor Sie sich entscheiden“, riet ihr der Notar noch im Gehen. Ehe sich Justine versieht, sitzt sie im Taxi Richtung Klingenberg, und der Taxifahrer hat die Adresse aus der Erbverkündung in sein Navigationsgerät eingegeben.
„Hier irgendwo muss es sein“, sagt er und parkt den Wagen.
„Okay, warten Sie bitte auf mich“, weist Justine ihn an.
„Die Uhr läuft aber weiter, junge Dame“.
„Das macht nichts, ist in Ordnung.“
Justine schaut sich um und entdeckt eine Hofeinfahrt, die sie langsam hinauf geht. Das schwere, eiserne Tor ist natürlich verschlossen. Sie geht um das Grundstück herum und traut ihren Augen kaum. Vor ihr erscheint das Landhaus von der Postkarte an ihrem Schreibtisch.
„Das gibt’s doch nicht!“, ruft Justine laut aus. Allerdings ist es in die Jahre gekommen und von wilden Gräsern und Pflanzen umwuchert. Mit einem Mal kommt die Erinnerung Stück für Stück zurück, denn hier in diesem Haus lebte sie einen Sommer lang mit Tante Valerie. In diesem Haus lebte die Liebe. Valerie war für Justine wie eine Oma, die sie nie wirklich hatte.
„So ein Mist“, flucht Justine beim Versuch, die Mauer hochzuklettern. Die Hose hat Grasflecken bekommen und Justine auch noch eine blutige Schramme. Der Taxifahrer hat das Fluchen gehört und kommt herbeigeeilt.
„Was ist passiert?“, fragt er ganz außer Atem.
„Wären Sie so lieb, mir Ihre Hände für eine Räuberleiter zu borgen?“, säuselt sie den Mann an.
„Das dürfen Sie nicht, das ist Hausfriedensbruch!“ mahnt er.
„Natürlich darf ich das, schließlich ist das mein Haus!“, triumphiert Justine. Der Mann kommt ihrer Bitte nach. Mit einem Schwung sitzt sie auf der Mauer und springt in den Garten. Wie großartig sich das anhört ... mein Haus.
Die Stockrosen, die rings herum emporragen, sind weit höher als Justine selbst. Ein traumhaftes Anwesen. Sie schleicht ums Haus und versucht, sich Zugang zu verschaffen, doch keine Chance. Alles ist verriegelt. Der Notar hatte ihr mitgeteilt, dass sie den Schlüssel erst nach Erbannahme erhält, wenn sie im Grundbuch eingetragen ist. Beide Hände zu einem schützenden Dreieck vor den Augen, schaut Justine durch die zwei kleinen Fenster, die nicht mit Klappläden verschlossen sind. Sie sieht einen Boden aus alten Mosaikfliesen im Flur und eine Treppe, viel mehr allerdings nicht. Es scheinen Möbelstücke vorhanden zu sein, die aber mit Überwürfen abgedeckt sind. Justine macht mit ihrem Handy Bilder von allem, was ihr – zurück in Hamburg – bei einer Entscheidungsfindung mit Tom helfen könnte. Das Haus ist bald hundertvierzig Jahre alt und war schon immer im Besitz der Familie Dupont, viel mehr Angaben konnte man ihr leider nicht machen.
„Ich müsste dann weiter“, hört sie den Taxifahrer hinter der Mauer rufen. So muss sich Justine schweren Herzens und fast unverrichteter Dinge von dem Ort trennen, den sie gerade erst wieder gefunden hat. Über einen großen Holzklotz gelingt ihr der Überstieg und sie landet nur knapp neben dem Fuß des Taxifahrers, der sie beim Herunterklettern stützt. Ups.
„Lassen Sie mich gerne gleich hier raus“, bittet Justine den Fahrer. Sie möchte jetzt allein sein und ab der Kreuzung kennt sie sich wieder aus. Sie zahlt großzügig und schlendert Richtung Main.
Ahhh, das tut gut … Neben ihr stehen ihre Schuhe, die Füße sind in den kalten Fluss gestreckt. Ein Fisch springt aus dem Strom in die Luft und macht einen Schnalzer.
Da sitze ich nun, auf der anderen Seite des Rubikons. Das Gleichnis begegnete Justine vor längerer Zeit in einem philosophischen Artikel und hat sie seither immer wieder mal gedanklich eingeholt. Es bedeutet vereinfacht gesagt so viel wie: Wenn der Fluss erst einmal durchquert ist, dann gibt es kein Zurück mehr.
Sie nimmt den Brief aus der Tasche und dreht ihn einige Male hin und her. Auf dem fliederfarbenen Umschlag steht in geschwungenen Buchstaben ihr Name. Justine streicht vorsichtig mit der Fingerspitze über die Schrift und stellt sich Tante Vally vor, wie sie ihren Namen dort niedergeschrieben hat. Justine schließt die Augen und riecht an dem Umschlag. Der Geruch ist so sanft und angenehm, wie eine Umarmung von Valerie es gewesen sein muss. Im Moment hat sie nicht die Ruhe, die Zeilen von Valerie zu lesen. Das macht sie dann gleich in aller Ruhe im Hotelzimmer.
An Justine Argon
persönlich
Klingenberg a.M.
Geliebte Justine,
wenn Du diesen Brief in den Händen hältst, dann ist mein letzter Wunsch in Erfüllung gegangen.
Ich werde bald nicht mehr auf Erden sein, daher habe ich eine Detektei beauftragt, in der großen Hoffnung, dass sie Dich ausfindig machen können. Weißt Du, meine Liebe, so mitten im Leben habe ich mir über den Tod keine Gedanken gemacht. Viel zu sehr habe ich jeden einzelnen Tag genossen. Und wer schon könnte verstehen, was mir im Leben so wichtig war? Jetzt, wo mein Körper Schwächen zeigt, kommen mir all diese Fragen in den Sinn. Ich habe keine eigenen Kinder und keine Verwandtschaft mehr. Meine Freunde schätze ich sehr, doch mein Nachlass wünscht eine besonders feine Seele zur Obhut.
Du sollst wissen …
Gebäude und Grundstück sind frei von Schulden. Das Landhaus ist trotz seines betagten Alters und mannigfaltiger Erinnerungen in einem guten und gepflegten Zustand. Ich habe dort bald 80 Jahre meines Lebens verbracht und ich bete zu Gott, dass meine Seele dort weiterhin zu Hause sein darf. Wenn Du Dich entscheiden könntest, das Haus anzunehmen, dann werde ich Dir beistehen, das ist fest versprochen. Mit der Zeit wirst Du einiges erneuern lassen müssen und leider werde ich Dir dafür nur wenig Erspartes dazu legen, doch bei einem bin ich mir sicher. Das Haus besteht auch noch weitere 100 Jahre fort, wenn es niemand abreißt und sich ein Herz liebevoll darum kümmert.
Lies genau! Eine Horde von Baggern würde nicht nur das Haus zerstören. Zum Nachlass gehören des Weiteren noch zwei kleine Weinberge, die im Moment an einen befreundeten Winzer namens Peter Rabe aus der Region verpachtet sind.
Justine, uns war nur ein gemeinsamer Sommer geschenkt. Beim Abschied hoffte ich noch auf das nächste gemeinsame Jahr, das dann aber nicht kommen sollte. Doch dieser eine Sommer mit Dir, der war einer der erfülltesten in meinem reichen Leben. Ich war verzaubert von Deinem Wesen, Du warst die schönste Knospe in meinem Garten. Was haben wir viel gelacht und erlebt. Meine Erinnerungen an Dich sind heute noch ganz klar, sie haben an ihrer erheiternden Leichtigkeit über alle die Jahre nichts eingebüßt. Ich sehe vor mir Deine Neugierde für meine Kräuterküche, Deine Liebe zu meinen Katzen und überhaupt zu allen Lebewesen. In Dir habe ich meine sensible Seele wiedererkannt, in Dir konnte ich Heimat finden. Du warst Tochter, Enkelin und Elfe für mich.
Einige Male habe ich Deinen Eltern noch Briefe und Ansichtskarten geschrieben. Von Deiner Familie kamen Deine wunderschönen Bilder und liebe Zeilen Deiner Mutter per Post. Dann seid ihr mehrfach umgezogen und so hat sich der Kontakt leider verloren und meine Post konnte nicht mehr zugestellt werden.
Auch Deine Mutter war immer ein ganz besonderer Mensch für mich. Wie ich auf der Suche nach Dir leider erfahren musste, ist sie bereits vor Jahren viel zu früh verstorben. Mein herzlichstes Beileid. Das war sicher schwer für Dich, Jus. Erinnerst Du Dich noch daran? So habe ich Dich immer genannt. Ich habe mich den Umständen gefügt und Dich ganz fest im Herzen behalten. Heute wünschte ich, ich hätte früher nach Dir gesucht.
Da ich nichts über Dein aktuelles Leben weiß, siehe den Nachlass bitte als Angebot und um Gottes Willen nicht als eine Verpflichtung an. Wenn es sich für Dich vereinen lässt, so spüre ich, Du könntest auf diesem Stückchen Erde glücklich sein.
Meine kleine, große Jus, ich werde da sein und Dich willkommen heißen, wenn Du über die Schwelle des Landhauses trittst. Und ein Schutzengel sein, auf alle Deinen Wegen.
In ewiger Verbundenheit,
Tante Valerie
Justine muss das Lesen unterbrechen und absetzen, weil sie hinter dem Tränenschleier nichts mehr erkennen kann. Sie sucht nach einem Taschentuch, dann weint sie hemmungslos in ihr Kopfkissen. Der Brief ist schon acht Monate alt, kurz darauf war Tante Vally an den Folgen einer Lungenentzündung im Krankenhaus verstorben.
Zurück in Hamburg
„Justine, ich erkenne dich nicht wieder. Was ist los mit Dir?“ Tom reagiert unerwartet heftig auf Justines Euphorie über das Erlebte
„Lies doch bitte mal den Brief von Tante Valerie, dann würdest du es besser verstehen.“
„Wozu? Ich habe keine Lust auf diese alten Gefühlsduseleien. Diese Frau geht mir gehörig auf den Wecker.“
„Diese Frau ist alles, was mir noch geblieben ist.“
„Es ist sehr großherzig von ihr, dir was zu vererben. Doch wir sind uns doch beide einig, dass du das Grundstück verkaufen wirst, oder?“
„Du bist dir einig, dass du das gerne so hättest. Mich hat diese Reise sehr berührt.“
Ist es die Angst, mich zu verlieren oder einfach nur die Angst, dass diese dünnwandige Blase platzt, in der wir leben?, fragt sich Justine.
Nach dem Streit verzieht sich Tom ein Wochenende lang zu seinen Eltern. Justine ist es ganz recht, dass er gefahren ist, denn diesen Miesepeter braucht sie gerade nicht um sich herum.
Als er nach vier Tagen zurück kommt, kehrt wieder ein wenig Normalität ein. Dies allerdings nur, weil Justine und Tom das Thema mit dem Nachlass komplett meiden. In Summe sind beide sehr wortkarg und distanziert, jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Auch in der zweiten Woche hat außer ein paar höflichen Floskeln und der Abstimmung für Einkäufe nicht viel Kommunikation stattgefunden. Für Justine eine beklemmende Situation, denn sie möchte gerne darüber reden. Und auch die Zeilen von Tante Valerie gehen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Es bleiben ihr noch knapp vier Wochen Zeit, um eine wichtige Lebensentscheidung zu treffen. Der Nachlass ist wirklich schuldenfrei. Laut Tom erbt sie ein „uraltes Haus“ auf einem wertvollen Stück Boden, doch für Justine ist es längst viel mehr als das. Tante Vally wünschte sich, dass sie das Erbe antritt und das Haus behält, ja sogar selbst dort einzieht. Wenn Justine das nicht tut und das Erbe ausschlägt, wird das Haus vermutlich von irgendwelchen gierigen Investoren erworben und dem Erdboden gleich gemacht, um dort moderne Mehrfamilienhäuser zu errichten.
Jetzt ärgert sich Justine darüber, dass sie sich nicht mehr Zeit gelassen und sich vom Taxifahrer hat drängeln lassen. Zu kurz war der Aufenthalt, zu zahlreich die Eindrücke. Trotz der Bilder fällt es ihr schwer, sich an den Ort zurückzudenken. Meist überstrahlen die Erinnerungen aus der Kindheit den Kurzbesuch vor zwei Wochen.
„Justine … Hallo?“, fuchtelt ihre Kollegin Bea mit der Hand vor ihren Augen herum. „Wo bist du bloß mit deinen Gedanken. Mensch, Müllers wollten die Headline doch in ginstergelb und nicht in senfgelb.“
„Oh, du hast recht.“ Justine kann sich kaum konzentrieren, weil Bea seit einer gefühlten Ewigkeit mit offenem Mund laut schmatzend einen Kaugummi kaut. Die Misophonie lässt grüßen.
Mit einem erstaunten Tonfall fragt sie: „Na, wovon träumst Du denn gerade? Von Tom oder gibt’s etwa einen anderen?“
Justine hat Bea kurzfristig zugesagt, ihr zu helfen, weil sie heute früher gehen muss. Sie hat spontan einen Babysitter bekommen und nun das für Justine gefühlt zwanzigste Tinder-Date.
„Von diesem Haus hier.“ Justine deutet auf die Karte auf ihrem Schreibtisch.
„Ah, hübsch. Leider nichts für unseren schmalen Geldbeutel, und wahrscheinlich auch ziemlich öde, so ein Haus auf dem Land. Na ja, du hast ja deinen Mann schon gefunden, da geht sowas schon eher.“ Bea tätschelt Justine kurz die Schulter und geht zurück an ihrem Schreibtisch im Großraumbüro. „Es wäre super, wenn du dich gleich nochmal richtig konzentrierst, dass wir mit dem Projekt noch rechtzeitig fertig werden.“
„Wir? Du meinst wohl ich …“
„Hast du noch was gesagt?“
„Nein, nur laut gedacht.“
Mein Leben verläuft doch seit einigen Jahren relativ reibungslos, ich habe Tom und die Arbeit und … und was? Okay, sonst habe ich eigentlich nichts. Nein, das stimmt so ja nicht. Nicht nichts! Hat Tom vielleicht sogar recht mit seiner Empörung? Wie kommt Valerie dazu, mich so aus heiterem Himmel vor eine solche Entscheidung zu stellen? Was habe ich denn bitte mit alledem zu tun? Konnte Tante Vally denn wirklich keine anderen Menschen außer mich für das Erbe finden?
Vor lauter Frust reißt Justine die verblichene Karte vom Monitor ihres PCs und wirft sie in den Mülleimer. Die Karte hatte sicher Tante Vally an meine Mutter geschickt. Sie lässt den Kopf in ihre Hände sinken und atmet laut aus.
Das laute Klackern von Absätzen verrät die Ankunft von Ines. Justine möchte sie begrüßen, doch ihr Kopf bleibt regungslos in ihren Händen liegen.
„Baby, was ist denn los mit Dir?“, fragt Ines besorgt, während sie ihr mit dem Handrücken über die Schulter streichelt. Schon die Zweite, die mich vermeintlich aufmunternd streichelt, weil ich nicht in der gewohnten Spur laufe.
„Komm, mach Schluss für heute und gönn Dir einen feucht-fröhlichen Abend mit Deinem Tommy, das wird euch beiden sicher guttun. Hier hast Du eine kleine Finanzspritze. Macht was Feines draus, nur bitte keine Kinder, hörst Du!“
Ehe Justine sich versieht, liegen vor ihr hundert Euro und eine Minute später hört sie draußen den Motor von Ines‘ Porsche aufheulen. Hätte ich diese Frau nicht irgendwie ins Herz geschlossen, ich würde sie unausstehlich finden.
Den ganzen Abend hat Justine nach alten Häusern mit Sandsteinkeller gegoogelt und nicht nur Schönes über deren Bausubstanz gelesen. So eine Immobilie und auch das Grundstück bedeuten eine große Verpflichtung. Die Angst vor einer unbedachten Kostenfalle ist bei Justine neben den aufgewühlten Emotionen groß, gerade, wenn man wie sie gerne mal vom Schlimmsten ausgeht. Sie hat zwar eine kleine Rücklage, aber zum Leben allein reicht das nicht. Dann noch die Distanz von Hamburg nach Klingenberg. Wie sie es auch dreht und wendet, sie erbt sprichwörtlich die Katze im Sack. Weit nach Mitternacht ist sie auf dem Sofa eingeschlafen. Sie hört ihn nicht, als Tom gegen 2 Uhr nach Hause kommt.
Als sie am Morgen erwacht, liegt sie immer noch auf dem Sofa. Tom liegt im Schlafzimmer und schnarcht hörbar. Es gab in all der Zeit nicht einen einzigen Tag, an dem er vor ihr aufgewacht ist. Wenn er sich hinlegt, dann schläft er sofort ein, wenn der Wecker klingelt, wacht er auf. So simpel ist das bei ihm. Als Sohn vom Chef hat er in der Firma keine festen Arbeitszeiten. Manchmal beneidet ihn Justine darum, denn auf sie wartet heute wieder mal ein voller Tag.
Sie duscht wie immer eiskalt. In der Bahn setzt sie sich die Kopfhörer wie Scheuklappen auf, den Kopf auf den Boden gerichtet, damit sie bloß niemand anspricht. Dann ein starker Kaffee und ab in die Arbeit verkriechen.
Leider warten gerade heute drei Kundentermine, was für Justine mit einem entsprechenden Mehraufwand an Energie verbunden ist. Als sie an ihren Schreibtisch tritt, sieht sie die alte Ansichtskarte wieder auf ihrem Tisch liegen.
„Wer war das?!“, ruft Justine.
„Olga hat die Karte beim Saubermachen im großen Papiermüll entdeckt und sie mit einem nicht gerade unerheblichen Aufwand für dich herausgefischt. Niemand von uns weiß, wie sie in den Müll gelangen konnte, wo sie dir doch so viel bedeutet“, erklärt ihre Kollegin Bea, während sie laut kauend einen Kaugummi bearbeitet. Justine sinkt auf den Stuhl und starrt auf die Karte. Olga ist die Büro-Reinigungskraft. Und in diesem Moment ist Justine nicht mehr sicher, was sie gerade mehr berührt. Olgas Aufmerksamkeit und Einsatz, um die Karte zu retten, oder dieses Haus?
„Du kannst mich ruhig mal fragen, wie mein Date gestern war.“
„Sorry, Bea. Ich habe gerade viel um die Ohren. Also, wie war es gestern?“
„Ich sag dir: Er ist nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte, aber sonst eine Sahneschnitte durch und durch! Und seine Augen … himmelblau. Und küssen kann der!“
„Seht ihr euch denn wieder?“
„Nein, ich glaube nicht. Das war mehr was Einmaliges. Einmalig schön.“ Bea seufzt mit rosigen Wangen. Wann ich wohl das letzte Mal solche Wangen hatte?
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