Kitabı oku: «Reflexion», sayfa 3

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Wildvögel

Am nächsten Morgen springt Justine aus dem Bett. Sie hat traumlos tief geschlafen und fühlt sich energiegeladen. Bis das Wasser für den Kaffee kocht, schaut sie aus dem Fenster in den Garten. Hier hüpfen ein paar Sperlinge auf dem Kastanienzaun herum und streiten sich um die letzten Beeren an einem kleinen Zweig. Ihr habt Hunger, was?

Justine schneidet ein paar Äpfel für die Wildvögel auf. Im Hühnerstall hat sie die großen, abgeblühten Köpfe der Sonnenblumen deponiert, um sie im nächsten Jahr neu auszusäen. Daneben hängen getrocknete Maiskolben, die beim Ernten der Felder zurückgelassen wurden. Justine hatte auch sie eingesammelt, um hier für die kommende Saison mal einen eigenen Anbau zu versuchen.

Kurzerhand beschließt sie, ihre Vorräte mit den Vögeln zu teilen. Sie nimmt reichlich von allem und bindet die Kolben und Blütenköpfe an mehreren Stellen in die Zweige. Mit einem Stock schlägt sie einen Teil der Körnchen aus den abgeblühten Fruchtständen heraus, sodass es keinen Futterneid geben muss, weil es mehrere Anlaufstellen gibt.

Als Nächstes streut sie ausgepuhlten Walnussbruch und Eicheln auf die Steinbank neben das Vogelhäuschen von Amie. Zum Glück habe ich im Herbst so viele Säcke Nüsse gesammelt.

Mit einem alten Bestimmungsbuch für heimische Vogelarten setzt sie sich dann ans Fenster, trinkt ihren frisch gebrühten Kaffee und schaut den Eisblumen beim Schmelzen zu. Es dauert nicht lange, da tummeln sich die ersten Wildvögel um die Futterstellen. Justine zählt drei Blaumeisen, eine Kohlmeise, Sperlinge und Buchfinken. Mit ihren kleinen bauschigen Körpern und den im Vergleich sehr dürren Beinchen amüsieren sie Justine.

An den großen Kolben macht sich ein Eichelhäher zu schaffen, der die Maiskörner, ebenso wie die Eicheln, im Ganzen hinunterschluckt. Das hatte sie zuvor noch nie beobachtet. Der stattliche Vogel hinterlässt eine blau schwarz schimmernde Feder am Futterplatz, die Justine später aufsammelt, als wäre es ein Geschenk für ihre Großzügigkeit. Der nächste Gast ist ihr unbekannt, doch sie kann ihn mit Hilfe des Buches schnell bestimmen. Es ist ein Stieglitz, der ein ganz besonders schön gezeichnetes Federkleid hat. Seinen kleinen Kopf ziert eine schwarz-weiss-rote Haube. An den Flügelfedern leuchtet es kräftig gelb.

Und wer da immer so von oben vom Baumstamm herab lugt, das ist der Kleiber. Seinen gedrungenen Körper ziert ein grau-beigefarbenes Kleid. Er kann den Baumstamm rückwärts nach oben gehen und wenn er anfängt, mit dem Schnabel gegen Rinde zu klopfen, könnte man ihn fast für einen kleinen Specht halten. Deshalb hat er sich wohl auch den Namen Spechtmeise verdient, wie in dem Buch beschrieben steht.

Jus notiert sich die täglichen Beobachtungen der bunten kleinen Kerle, um auch hier eine gewisse Form der Routine für sich zu zelebrieren. Es fühlt sich ein wenig so an, als hätte sie sich gute Freunde zum Essen eingeladen. Schon nach kurzer Zeit tummeln sich die Vögel bereits um Justine, wenn sie noch am Herrichten der Futterplätze ist. Und sie teilt ihre Vorräte nur allzu gerne. Ein paar ganz neugierige Spatzen fliegen sogar mit in den Hühnerstall, um dort schon an den Sonnenblumen zu picken. Justine lacht: „Bis ich aus Versehen mal einen von euch hier einsperre!“

Tante Valerie hat einige Bücher zum Thema Wildvögel und Justine beginnt, jedes einzelne davon durchzulesen. Die Fachliteratur ist alt, doch nach wie vor aktuell. Die erste neue Erkenntnis ist die Tatsache, dass Vögel keinen Geruchssinn haben. Man kann verletzte Küken oder Jungvögel also, anders als Säugetiere, auch mit der bloßen Hand anfassen ohne Gefahr zu laufen, dass die Eltern dann das Jungtier nicht mehr annehmen. Die Aufzucht von verletzten Jungvögeln hingegen ist sehr schwierig und für unerfahrene Menschen nicht zu empfehlen. Meist sind die Vogeleltern auch noch in Rufweite und kommen wieder zurück, wenn der Mensch sich zurückzieht.

Sie liest neugierig weiter… über artgerechte Fütterung und darüber, dass unbedingt diese Kunststoffnetze um die Meisenknödel entfernt werden sollten, da die Vögel darin hängenbleiben können und jämmerlich verenden oder sich mindestens verletzen können. Eine Winterfütterung ab Oktober wird empfohlen, den Sommer über benötigen die Vögel in der Regel keine Unterstützung. Vogeltränken und Vogelbäder werden gerne angenommen, sollten aber regelmäßig gesäubert und mit frischem Wasser versehen werden. Zur Aufzucht von Jungvögeln kann man den Vogeleltern proteinreiches Insektenfutter anbieten, die Kerne von Sonnenblumen mit Schale sollten jedoch vermieden werden. Wenn die Eltern diese an den Nachwuchs verfüttern, kann dies dazu führen, dass die kleinen Bäuche aufplatzen. Puh, vieles davon habe ich nicht gewusst.

Justine beschließt, im kommenden Sommer noch viel mehr an Samen und Nüssen einzusammeln und den Vögeln den Winter über anzubieten. Und sie wird unterschiedliche Nistkästen besorgen und in den Bäumen anbringen. Peter hilft ihr sicher dabei, die Leiter zu halten und ihr die Kästen hoch zu reichen. Die Nistkästen machen kaum Arbeit, werden lediglich im Herbst/Winter mal gereinigt und bieten den Vögeln eine angenehme und geschützte Unterkunft.

Wenige Tage später soll Justine noch eine schöne Überraschung erleben. Denn es gesellt sich das erste Mal ein Grünspecht zu dem bunten Treiben hinzu. Mit seinen großen Augen und dem roten Schopf wirkt er besonders neugierig und es macht Justine große Freude, dem verhältnismäßig großen Vogel dabei zuzusehen, wie er sich einige von den Apfelstücken pickt. Er hüpft auf dem Boden umher und sieht so neugierig aus, wenn er seinen Kopf schief hält. Als drei Elstern auf dem Platz landen, schwebt der grüne Vogel davon. Seine Fluglinie gleicht der einer Welle auf offener See, mit einem schwungvollen auf und ab, es sieht sehr elegant aus.

Spenden

Als die Sonne sich wieder am Himmel zeigt, ist Justine voller Tatendrang. Nichts hält sie mehr im Haus, obwohl draußen immer noch Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschen. Sie backt zwei Gewürzbrote und einen Rosinenzopf mit den selbst getrockneten Trauben aus dem Sommer. Dann pumpt sie die Reifen ihres Rades auf und holt den Fahrradanhänger aus dem kleinen Schuppen hervor. Hier ein Tröpfchen Öl, da nochmal die Schrauben nachziehen und ab geht die Testfahrt. Funktioniert alles noch! Halleluja, jetzt bin ich sehr froh. Das Fahrrad ist neben ihren beiden Füßen im Moment das einzige Fortbewegungsmittel für Justine.

Nachdem die Kisten mit der Leinenwäsche verstaut sind, legt sie noch die in Papier geschlagenen Backwaren an die Seite des Anhängers und macht sich auf den Weg in die Stadt. Das erste Mal seit über zwei Monaten, dass sie sich wieder in die Zivilisation wagt. Ganze 51 Tage lang hat sie außer zweimal mit Peter und im Traum mit Valerie mit keinem Menschen mehr gesprochen. Die Vorräte sind so gut wie aufgebraucht und Justine hat die Einöde inzwischen ganz schön satt. Zur Abwechslung mal ein richtig schönes Gefühl…

Im Radio hat sie gehört, dass eine Pflegestelle für Abgabe- und Fundtiere dringend Unterstützung in Form von Sachspenden braucht. Justine kann nicht sehr viel beisteuern, aber die Leinenwäsche, die gibt sie gerne dort hin. Es dauert eine Weile, bis sie den richtigen Hof gefunden hat. Als sie auf die Klingel drückt, schlagen sofort einige Hunde an. Sie hört von Weitem eine Frau reden, wie sie die Tiere zur Ruhe anweist und schon im nächsten Moment öffnet sich das Tor.

„Ja?“

„Guten Tag, mein Name ist Justine Argon. Ich habe eine kleine Spende für Sie dabei.“

„Jesus, mit dem Rad. Bei diesem Wetter? Kommen Sie schnell rein, sie erfrieren ja.“

„Danke.“

Justine lenkt das Rad mit Anhänger in den Hof und die Hunde kommen auf sie zugestürmt.

„Ich hoffe, Sie haben keine Angst?“

„Nein, ganz und gar nicht, ich liebe alle Tiere.“

„Das ist gut, denn die werden sie jetzt so schnell nicht mehr los.“, lacht die Frau herzlich.

„Wissen Sie, ich bin sehr froh darüber. Es ist lange her, dass ich so viel Aufmerksamkeit erhalten habe.“

In der Wohnstube angekommen, nimmt Justine auf dem Sofas Platz. Sofort hat sie einen Hund auf dem Schoß und je einen weiteren links und rechts neben sich. Auf dem Fenstersims balanciert eine Katze, aus der Kuschelhöhle eines Kratzbaumes spitzen neugierig zwei Ohren hervor und in einem Holzhäuschen auf dem Boden, das von einem Kindergitter umrahmt wird, überwintern drei Fund-Igel.

„Hier ist ganz schön was los.“, staunt Justine nicht schlecht.

„Das ist noch gar nichts. Warten Sie mal, bis die Kinder vom Eislaufen kommen.“. Beide lachen.

Wie unterschiedlich Menschen doch leben können.

„Oh, beinahe hätte ich es vergessen. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, frisch gebacken.“

„Mensch, das ist ja lieb. Und wie das duftet. Das werden wir uns heute Nachmittag gleich schmecken lassen. Ich komme so selten dazu, selbst zu backen. Zu viele Mäuler hier, die alle was haben wollen. Da reicht die Zeit nicht“, zuckt die Frau mit den Schultern.

„Das verstehe ich. Können Sie denn die Leinensachen brauchen?“

„Ja, das ist wunderbar. Vor allem, weil ich den Stoff ganz heiß waschen kann.“

Justine trinkt einen warmen, pappsüßen Tee, plaudert mit der Dame und hat gar nicht genug Hände frei, um alle Tiere gleichzeitig zu streicheln.

Nach gut einer Stunde laden sie die beiden Kisten vom Anhänger und als Justine sich gerade wieder aufs Rad schwingen will, entdeckt sie ganz hinten im Hof einen Zwinger, in dem ein großer Hund steht und sie ansieht. Justine hält inne.

Sie ist ganz berührt von diesem ruhigen Blick.

„Ja, wer bist du denn?“ spricht Justine den Hund auf Entfernung an und macht einige Schritte auf ihn zu.

„Nicht, bleiben Sie zurück. Er fängt gleich furchtbar an zu bellen.“, bremst die Frau sie aus. Jus bleibt stehen.

„Was ist mit ihm?“ fragt sie verunsichert.

„Das ist Leonardo da Vinci, kurz Leo. Unser Sorgenkind.“

„Moment… sagten Sie eben… L-e-o?“

„Ja, sein Rufname ist Leo. Warum?“

In diesem Moment fuhr ein Schauer über Justines Rücken. Es ist gekommen, wie Tante Valerie gesagt hat. Ihr Begleiter ist bereits ausgewählt, sie muss ihn nur noch erkennen. Ist es wirklich dieser Hund hier? Ich hätte mir einen ganz anderen Hund ausgesucht. Es arbeitet gewaltig in Justines Kopf.

„Bitte, ich möchte ihn gerne sehen.“

„Na gut.“, gibt die Dame nach und ruft die anderen Hunde ins Haus. Nachdem die Tür geschlossen ist, nimmt sie eine schwere Lederleine und geht mit Justine in Richtung Zwinger.

„Komisch, sonst schlägt er immer an.“, stellt die Frau fest, als die beiden direkt vorm Zwinger stehen. Als die Dame das Tor öffnen will, um den Hund anzuleinen, sagt Justine: „Moment noch…“

Sie geht in die Hocke und zieht einen ihrer Handschuhe aus. Die Finger umgreifen das eiskalte Gitter des Zwingers und Leo macht zwei Schritte auf Justine zu. Er schnuppert vorsichtig an ihrer Hand. Dann schauen sich beide in die Augen. Er hat so eine große Ähnlichkeit mit Leopold Phobos, das ist unglaublich. Der Hund ist aschfahl, mit ruhigen, grau-braunen Augen. Dazu von imposanter Größe und schlanker Statur. Wer hat mir dich nun geschickt, war es Tante Vally oder Leopold selbst?

„Wie alt ist er?

„Das weiß man nicht so genau. Etwa vier Jahre?“

„Ok. Und warum Leonardo da Vinci?“

„Weil er wie der Künstler aus der Region Vinci stammt.

Hat schon einiges mitgemacht, der arme Kerl. Kommt aus dem Auslandstierschutz. Wurde schon drei Mal vermittelt und kam immer wieder ins Tierheim oder auf Pflegestellen zurück“. Die Frau atmet hörbar laut aus, als wolle sie ihre Empörung darüber vor Justine verbergen. „Übertriebener Herdenschutztrieb war der Grund, hat zuletzt niemanden mehr an die Kinder der Familie herangelassen“.

Wieder macht sie eine kurze Pause und nestelt an ihrem Schuh herum, bis sie zu ihrer eigenen Theorie ansetzt: „Ich sag ja immer, dass die Leute den Hund nicht verstanden haben, denn er ist ein Herzensguter. Er ist sehr sanft für seine Statur, gar nicht rüpelhaft… wenn es nicht so albern klingen würde, würde ich sagen, er ist halt sensibel. Aber ein Beschützer… keine Rasse, die man leicht in der Wohnung halten kann. Ist Kangal mit drin und noch einiges andere. Die brauchen eine Aufgabe… und Führung, sonst werden sie unausstehlich.“

Justine druckst einen Moment lang herum, bevor sie ausspricht, was ihr längst in den Sinn gekommen ist: „Kann ich ihn adoptieren?“

Die Frau lacht schallend. „Sie zartes Persönchen?! Sie wiegen ja kaum mehr als der Hund selbst. Nein, bitte, das geht wirklich nicht. Der bringt knapp fünfzig Kilo auf die Waage.“

„Gab es denn Beißvorfälle?“

„Überhaupt nicht. Also, nicht, dass ich es wüsste. Bei uns hier jedenfalls sicher nicht. Doch er ist wie ein vierbeiniger Security. Und ich mein, sie kennen diese Typen… machen immer erstmal einen auf dicke Hose.“

„Ok. Aber hier lebt er im Zwinger. Das kann doch auch nicht sein Leben gewesen sein.“

„Da haben Sie Recht, ganz bestimmt kann das nicht so bleiben. Wir warten auf den richtigen Besitzer für ihn. Nachts lasse ich ihn in den Hof, da bellt er dann zwar viel, aber ist wenigstens nicht immer eingesperrt. Morgens gehe ich eine Runde mit ihm, da ist er meistens anständig. Natürlich schaue ich, dass wir niemandem begegnen und die Kinder würde ich nie alleine mit ihm raus gehen lassen. Und im Rudel ist es mir auch zu riskant, da habe ich mit den anderen Pappenheimern genug zu tun. Man kennt ihn halt auch nicht gut genug.“

„Ich habe ein großes Anwesen oben am Waldrand. Das ist hoch ummauert. Bitte, meine Intuition sagt mir… lassen Sie es uns versuchen?“

„Der geht Ihnen über jeden Zaun, wenn‘s sein muss. Sie sehen ja, was für ein Mordskerl er ist, hat einen Schädel wie ein Löwe.“

„Ich werde sehr aufpassen.“

„Hören Sie. Für ein halbherziges „Probieren“ geht Leo nicht mehr in andere Hände. Auch wenn man es ihm nicht sofort ansieht, er ist einer mit `ner guten Seele. Wenn Leo nochmal geht, dann ist es eine Entscheidung für den Hund mit allem, was dazu gehört. Ich möchte nicht in die Situation kommen, dass man ihn gar nicht mehr vermitteln kann. Schlafen Sie also nochmal `ne Nacht drüber und setzen sich derweil bitte mit den Anforderungen von Herdenschutzhunden auseinander. Wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, dass sie es mit Leo aufnehmen können, melden Sie sich wieder.“

„Okay. So machen wir es.“

„Er hat jedenfalls richtig gut auf sie reagiert, das hat mich wirklich erstaunt“.

Die beiden Frauen verabschieden sich und als Justine aus dem Hof fährt und sich nochmal umdreht, steht Leo am Zwingertor und hält ihrem Blick stand.

„Ich komme wieder, Leo“, flüstert Justine.

Auf dem Rückweg hält sie schnell noch bei der Bank, ihren Kontostand prüfen und Auszüge abholen. Justine hat die letzten Wochen zwar keinen Cent Geld benötigt, doch es gibt natürlich auch noch die laufenden Kosten wie die Grundsteuer, den Vertrag für das Smartphone, ihre Krankenversicherung und die Versicherung fürs Landhaus. Stromkosten oder eine Wasserrechnung gibt’s keine, das ist der Vorteil, wenn man Selbstversorger ist. Lediglich eine allerdings eher vernachlässigbare Anschlussgebühr an die Kanalisation.

„Sieht alles gut aus“, bemerkt sie beim flüchtigen Blick und stopft die Kontoauszüge in die Manteltasche. Das unerwartete Weihnachtsgeld ihrer ehemaligen Chefin und ihre eigenen Ersparnisse ermöglichen Justine, derzeit nicht nach einer Anstellung suchen zu müssen oder den Wein von Valerie zu veräußern. Sie hebt 50 Euro ab und deckt sich im Laden mit Zahnpasta, Lampenöl, Eiern, Kartoffeln, Nudeln, frischem Ingwer und Orangen ein, bevor sie wieder zurück zum Landhaus strampelt. Den Großeinkauf macht sie lieber an einem etwas wärmeren Tag.

Geburtstag

Übermorgen ist mein Geburtstag.

Ich bin ein Wassermann, Aszendent Fische. Im Radio haben sie neulich gesagt, das Sternzeichen Wassermann sei das einzige Sternbild, das ursprünglich einen Menschen zeigt. Spannend, weil mir das noch nie so aufgefallen war.

Zudem ist das Wassermann-Zeichen prädestiniert dafür, verkrustete Strukturen aufzubrechen. Von der Aura der Besonderen war hier die Rede, das hat mir natürlich geschmeichelt. Engagiert sollen wir sein, vor allem für schlechter Gestellte. Dann noch individuell und kreativ. Rebellisch. Distanz suchend. Eigenwillig. Wechselhaft.

Dem gegenüber steht allerdings als Aszendent auch das Tierkreiszeichen Fische. Stets verständnisvoll, verträumt und sogar romantisch. Ich kenne mich mit der Astrologie wirklich nicht gut aus, doch spätestens ab diesem Zeitpunkt wusste ich, dass ich bereits mit einer gewissen inneren Ambivalenz auf die Welt gekommen sein muss.

Justine ist sich längst sicher, dass sie Leo zu sich nehmen möchte. Und zwar schon morgen, denn er wird ihr Geburtstagsgeschenk an sich selbst sein. Und es wird künftig auch Leos Geburtstag sein.

Sie fährt den Laptop hoch, der halbvoll geladen ist und beginnt zu googlen. „…für sich selber sorgen muss, ist der Kangal draußen ein anspruchsloses Tier. Er benötigt viel Platz und ausreichende Beschäftigung in Form von Bewegung…“. Nach einer dreiviertel Stunde der Recherche wird der Monitor des Rechners schwarz, der Strom ist alle. Wie oft das schon passiert ist, seit sie im Landhaus ist… sie weiß es nicht. Draußen ist es längst finster, sodass sie zunächst keine weiteren Informationen zu dem Thema Herdenschutzhunde studieren kann. Das Letzte, was sie noch gelesen hat, überzeugt sie. Dort stand: „Diese Rasse liebt ihre Freiheit und die Ruhe. Der Stress der Stadt ist nicht ihr Zuhause. Sie haben ihren eigenen Kopf und das muss man mögen. Kangals sind eher unbestechlich, eigenständig und wenn sie einen Menschen anerkannt haben auch sehr loyal“.

Leo ist kein reinrassiger Kangal und sieht auch ein wenig anders aus, doch die Dame von der Pflegestelle sagte ja, dass diese Rasse seinem Charakter am ehesten entspricht. Der Hund soll nicht dort in diesem Zwinger bleiben, auch wenn die Pflegestelle sicher alles tut, um den verschiedenen Bedürfnissen der ganzen Tiere gerecht zu werden. Der Hund ist ein wahrer Koloss, doch sein Ausdruck sagt mir, dass er in guter Mission geschickt wurde. Ich habe schließlich schon einmal die Angst zu mir herein gelassen… und ich werde es wieder tun.

Wie so oft im Leben kommt es nicht immer darauf an, der routinierteste Hundehalter oder Menschenkenner zu sein, um jemanden souverän zu führen. Es braucht die Gabe, sich ganz auf das Gegenüber einzulassen. Justine nimmt sich vor, Leo ankommen zu lassen und ihn dann zunächst zu beobachten. Ebenso, wie es damals mit ihrem Freund Leopold Phobos begonnen hatte. Körperlich wird sie gegen Leo stets den Kürzeren ziehen, daher ist eine gute Bindung wichtig. Den Kopf voller Gedanken über Leo kann Justine lange nicht einschlafen. Um sich abzulenken, überlegt sie, wie sie ihren Geburtstag mit sich selbst feiern möchte. Früher war sie immer froh, wenn die Sache mit den Geschenken erledigt war, da sie sich einfach nicht gut vor anderen darüber freuen konnte. Sogar dann nicht, wenn sie ihr gefallen haben. Sie sagte dann immer, dass sie keinen großen Aufwand möchte, weil Geburtstage doch wie alle Tage sind. Für sie ganz persönlich jedoch war der Tag immer etwas Besonderes.

Schon weit vor sechs Uhr ist Justine auf den Beinen, kocht Kaffee und richtet die Solaranlage neu aus. Wenn die ersten Sonnenstrahlen eintreffen, möchte sie zuerst ihr Handy laden, um die Frau von der Pflegestelle anzurufen. Um die Zeit zu überbrücken, macht sie sich Notizen, was alles benötigt wird. Und Peter wird erst staunen! Er kommt nächste Woche zurück und Justine kann es kaum erwarten, mit ihm ihren Geburtstag nachzufeiern und ihm von Leo zu berichten. Sie hatte ihm auch kurz von Leopold Phobos erzählt, doch die Geschichte mit ihrer eigenen Angst konnte Peter nicht ganz glauben, das war ihm dann doch zu „übersinnlich“.

Als das Handy endlich 20% des Akkus geladen hat, wählt sie die Nummer von der Dame. Sie vereinbaren, dass Justine nochmal mit dem Rad gefahren kommt. Wenn sie sich dann einig werden, dann bringt die Frau den Hund mit dem Auto hoch zum Landhaus.

Schon während Justine mit dem Rad in den Hof rollt, kann sie es kaum erwarten, Leo an der Zwingertür stehen zu sehen. Erst springen sie die anderen Hunde freudig an, dann werden sie wieder ins Haus gebracht. Justine nutzt den kurzen Moment, um alleine mit Leo zu sein.

„Ist es in deinem Sinne, wenn ich dich mit zu mir nehme?“. Er schaut regungslos und schweigt.

Justine lächelt, denn dieses Reservierte, das war wirklich ganz Leopold-Manier. Justine erkennt ihren lieben Freund im Wesen des Hundes wieder, es ist seine ganze Mimik und Gestik.

„So, und Sie wollen den Leo jetzt also wirklich bei sich aufnehmen?“

„Ja, ich will.“ spricht Justine aus, als würde sie vor dem Traualtar stehen, wieder lachen beide.

„Darf ich mal zu ihm rein?“

Die Dame zögert kurz. „Wir holen ihn besser raus.“

Mit einem kurzen „in Ordnung“ akzeptiert Justine ihre Entscheidung.

Die Frau öffnet die Tür und legt ihm die Leine an. Als Leo wie ein Löwe aus dem Zwinger schreitet, sieht Justine erstmal seine wahre Größe. Er reicht ihr von der Rückenhöhe fast bis zur Mitte ihres Oberschenkels und Justine ist groß gewachsen.

„So, hier haben Sie ihn. Wollen Sie mal eine Runde im Hof drehen?“

„Gerne.“. Justine läuft los und Leo folgt ihr, ohne dass die Leine auf Spannung geht. Das fühlt sich ja großartig an.

„Was wissen Sie noch über Leo?“

„Kommen Sie gleich noch auf einen Tee zu mir herein, dann bereden wir alles in Ruhe.“

Wenige Stunden später ist der Übergabevertrag mit der Pflegestelle unterzeichnet und Justine hat die wichtigsten Erledigungen für den Hund gemacht. Zuletzt war sie selbst noch die wichtigsten Lebensmittel beim Supermarkt holen, denn sie möchte Leo zunächst nicht alleine lassen. Mit einem übervollen Fahrradanhänger plagt sie sich den Berg hinauf. Sie merkt die Anstrengung gar nicht, so aufgeregt ist sie schon auf den neuen Lebensabschnitt. Auf ihren fremdbekannten Gast Leo(pold) alias Leonardo da Vinci.

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