Kitabı oku: «Der Erbe des Riesen»
Lena Klassen
Der Erbe des Riesen
Band 2 der Trilogie „Sehnsucht nach Rinland“
Roman
Zu diesem Buch
Die Saga um Mino, Blitz und die Riesen geht weiter! Zukata, der grausame Riesenprinz, gibt sich noch lange nicht geschlagen. Neben der Kaiserwürde verfolgt er nun ein weiteres Ziel: die Rache an Blitz, der seine Pläne vereitelt hat. Um Blitz an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen, sät Zukata die böse Saat von Gier und Machtgelüsten in Blitz‘ Heimat, auf den Glücklichen Inseln.
Doch während er im Osten seine Herrschaft ausbaut, wächst auf der Insel Neiara ein ganz besonderes Kind heran, der einzige Gegner, der es mit Zukata aufnehmen kann: Sorayn, Blitz‘ Sohn.
Der Erbe des Riesen ist der zweite Band der packenden Fantasy-Trilogie Sehnsucht nach Rinland.
Die weiße Möwe bildet den Auftakt; das letzte Buch dieser Serie ist Der Thron des Riesenkaisers.
Leserstimmen zur Rinland-Trilogie
„Sprachlich wunderschön.“ Titus Müller
„Ein Fantasy-Schinken der außergewöhnlich guten Art!“
„Wunderbar fesselnd geschrieben.“
„Die Story ist absolut filmreif, nie vorhersehbar, super interessante Charaktere und unglaublich spannend bis zur letzten Seite.“
„Mit dieser weißen Möwe fliegt man direkt ins Land der Fantasie und möchte nie mehr weg von diesem Ort.“
Über die Autorin
Lena Klassen lebt leider nicht auf einer Insel, braucht aber das Meer. Oder wenigstens einen Sturm und ein gutes Buch. Sie hat Literaturwissenschaft, Anglistik und Philosophie studiert und über phantastische Literatur promoviert. Mit ihrer Familie lebt sie in einem kleinen Haus mit großem Garten im ländlichen Westfalen.
Lena Klassen hat bereits zahlreiche Romane und Kinderbücher veröffentlicht. Im Neufeld Verlag erschien neben der Rinland-Trilogie auch der Roman Caros Lächeln.
Impressum
Dieses Buch als E-Book:
ISBN 978-3-86256-767-6
Dieses Buch in gedruckter Form:
ISBN 978-3-937896-67-0, Bestell-Nummer 588 667
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar
Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson Umschlagbilder: © ShutterStock® Satz: Neufeld Verlag
© 2008 Neufeld Verlag Schwarzenfeld
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Inhalt
Zu diesem Buch
Leserstimmen zur Rinland-Trilogie
Über die Autorin
Die Welt
Was bisher geschah
Die Personen dieser Geschichte
Zweites Buch: Der Erbe des Riesen
1. Das Glück der Inseln
2. Zu viele Geheimnisse
3. Keine Wahl
4. Dieses Mal
5. Ein besonderes Kind
6. Auf der Insel
7. Ilinias’ Schmerz
8. Blitz’ Schmerz
9. Prinzessin Sidini
10. Halb
11. Meine Hände
12. Im Wasser
13. Entdeckt
14. Die Brücke
15. Ich bin es
16. Der Wunsch zu versinken
17. Entfesselt
18. Möwe
19. Gejagt
20. Die Botschaft des Prinzen
21. Zu Hause
22. Mein Berg
23. König der Riesen
24. Zu den Menschen
25. Hier bin ich
26. Meerwasser
27. Der Erbe
28. Hirte des Volks
29. Sieg
30. Die letzte Kerze
Über den Verlag
Die Welt
Das Kaiserreich Deret-Aif steht im Mittelpunkt dieser Welt. Dreiundzwanzig Königreiche gehören dazu, von Salien im Norden bis zum Gebirge der Riesen im Süden. Zentral liegt das Königreich Aifa mit der Hauptstadt Kirifas. Hier herrscht der beliebte Kaiser Kanuna, ein Riese voller Weisheit, mit seiner zweiten Frau Fanes; hier wächst die junge Prinzessin Manina heran.
Im Osten grenzen Sandart und Yos an das gewaltige Reich, im Westen liegen die Glücklichen Inseln, Arima und Neiara. Von dort kommen das beste Obst, der beste Wein.
Über das Meer führt eine Brücke nach Rinland. Auf dem Meeresgrund steht Rin, der göttliche Riese, und hält mit seinen eigenen Händen die Brücke fest. Sie ist nicht zu sehen; erst in der Stunde des Todes findet sich jeder dort wieder, wo es gilt, den Fuß auf die Brücke zu setzen und den Weg nach Rinland zu gehen. Nur wer genug Hoffnung und Sehnsucht in sich trägt, kann über die schmale Brücke gehen, ohne abzustürzen.
Was bisher geschah
Das 16-jährige Albinomädchen Mino und der dunkelhaarige Blitz, beide aus Arima, haben immer davon geträumt, gemeinsam durchs Kaiserreich zu reisen. Doch dann hindert Mino ihren besten Freund daran, auf das Schiff zu gehen, das in die andere Richtung fährt – auf der Suche nach Rinland. Wütend läuft Blitz von zu Hause fort und gerät unter die Räuber. Mino verschlägt es während eines Sturms ebenfalls auf das Festland, allerdings hat sie das Gedächtnis verloren und weiß nicht mehr, woher sie stammt. Sie wird von dem Wanderarzt Keta aufgelesen und mit auf seine Wanderungen genommen; Keta ist einer der ungeratenen Zwillingssöhne des Riesenkaisers Kanuna. Seit er sich durch List von seinem Vater segnen ließ, besitzt er heilende Hände, die er zum Wohl des Volkes benutzt.
Blitz wird unterdessen ein Mitglied der Räuberbande des älteren Riesenprinzen Zukata. Wie alle von Zukatas Männern wird er gebrandmarkt und kann daher nicht mehr fliehen, außerdem beeindruckt ihn Zukatas Persönlichkeit mehr und mehr. Als der räuberische Prinz erfährt, dass sein Vater mit seiner zweiten Frau ein Kind bekommen hat, reist er in die Hauptstadt und erfährt dort, dass der Segen längst seinem Bruder gehört. Wutentbrannt entführt er seine kleine Halbschwester Manina und flieht mit ihr ins Ausland; er will das Kind erst herausgeben, wenn er öffentlich zum Erben erklärt worden ist.
Keta und Mino machen sich zusammen mit ein paar Freunden (darunter der Junge Jamai aus dem Zinta-Volk) auf die Suche nach der entführten Prinzessin. Es gelingt ihnen, Zukatas neues Räuberlager zu finden. Nach einem Kampf der gleich starken Brüder einigen sie sich auf einen Austausch von Geiseln – für Manina soll Mino bei Zukata bleiben. Doch bevor es dazu kommt, nutzt Blitz Zukatas Abwesenheit aus und flieht mit dem Kind, um es selbst dem Kaiserpaar wiederzubringen. Auf seiner gefahrvollen Flucht – immer auf der Hut vor Zukata und seinen Männern – erfährt Blitz immer wieder unverhofft Hilfe von den Menschen. Aus einem Kloster nimmt er das Mädchen Ilinias mit, um als Familie unauffälliger reisen zu können, und verliebt sich in sie. Als er schließlich in der Stadt des Kaisers anlangt, ist er bereits verheiratet. Hier trifft er endlich Mino wieder, die Zukata zusammen mit Jamai und dem Zwerg Kroa von Blitz’ Spur abgebracht und schließlich sogar gefangen genommen hat, um Maninas Rückkehr zu ermöglichen. Jetzt endlich erlangt sie auch ihr Gedächtnis wieder und findet den Mut, ihm ihre Liebe zu gestehen, leider zu spät.
Bevor alle auseinandergehen, trifft ein weißer Vogel mit einem Brief aus Rinland ein – das Schiff ist tatsächlich auf der paradiesischen Insel angekommen.
Die Personen dieser Geschichte
A H I N E H L: bedeutungsvolles Kosewort, »der von allen am meisten Geliebte«
A L I K A: eine Kriegerin, die auf Arima lebt und Unkraut jätet, mit Blitz’ Bruder verheiratet
A L I O S: ein Schmied auf der Insel Neiara
B I N A J A T J A: die Besitzerin der Obstplantagen auf der Insel Arima, Minos Mutter
B L I T Z: stammt von der Insel Arima, hat eine Zeitlang unter Zukatas Räubern gelebt und ist jetzt der Erzieher der Prinzessin Manina
E LJ A T I: Blitz’ älterer Bruder, lebt auf Arima
E R I O N: der Sohn des Weinfürsten von Neiara, ein verwöhnter Junge, Spitzname »Blöd«
F A N E S: die Kaiserin von Deret-Aif, eine Riesin
F R I A: eine blonde Riesin aus den Bergen
F R E T: Frias Bruder, aufgrund seiner Stärke der König der Riesen
H Ü R T I: der König von Yos
I L I N I A S: Blitz’ Frau, hat ihre Kindheit im Kloster verbracht, bevor sie von Blitz entführt wurde, kämpferisch und atemberaubend schön
J A M A I: ein Mann aus dem Volk der Zintas, früherer Weggefährte von Mino
K A N U N AE LS C H A T T I K– ein Riese, der mächtige Kaiser von Deret-Aif
K E L O N: der Verwalter des Weinfürsten von Neiara
K E T A: auch Remanaine genannt, ein Riese mit heilenden Händen, der zweitälteste Sohn des Kaisers und seiner verstorbenen Frau Vinja
K R O A: ein Zwerg, der vor Jahren entscheidend zu Maninas Rettung beitrug
L I A D E T T: eine hübsche kleine Gräfin mit losem Mundwerk
L I R A V A H: die alte Lehrerin von Blitz und Mino
M A J A: Minos Tochter, ein Mädchen mit Mut und Musikalität
M A N I N A: die Tochter des Kaiserpaars und trotzdem ein Mensch. Eine Prinzessin durch und durch
M I N O: auch Möwe genannt. Als sie ihr Gedächtnis verloren hatte, zog sie ein paar Jahre mit Keta durchs Land. Unsterblich in Blitz verliebt
M O N T A: der Arzt der Fürstenfamilie von Neiara
N O R H A: der Bruder des Weinfürsten von Neiara, wird als Verwalter auf Arima eingestellt
R I B A: eine Riesin im Gebirge
R I N: erschuf die Welt und hält die Brücke
R U G A N: ist Arzt im Palast des Kaisers, weiß auch nicht alles
S A R I K A: eine Amazone aus Salien, Leibwächterin des Kaisers
S E T T A N: ein Räuber, Zukatas rechte Hand
S I D I N I: die Tochter des Königs von Yos, schon fast zu alt zum Heiraten
S O R A Y N: ein bemerkenswertes Kind, der Einzigartige
T A M A I T: der Sohn von Alika und El Jati
T I N E K: die Weinfürstin von Neiara
T O R I S: ein Mann aus dem Zinta-Volk; mit ihm tröstete Mino sich über Blitz’ Heirat hinweg
V A R I T I: Ketas Frau, gehört zum Volk der Zintas
W E R I E: Hebamme auf Arima, lässt sich nicht gerne helfen
W E R S O M: der König von Sandart
W I K A N T: der Weinfürst von Neiara
Y E R S: ein alter Fischer auf Arima
Z U K A T A: der älteste Sohn des Kaisers, ein gewalttätiger Räuber mit großen Träumen
Zweites Buch: Der Erbe des Riesen
Irgendwo dort liegt die Insel der Träume, Umgeben von tosenden Wogen. Goldweiß des Strandes und Nachtgrün der Bäume Verschmelzen zum flammenden Bogen.
Wer ihn durchschreitet, dem öffnen sich Pforten Zu frühlingsbunt blühenden Gärten, Kleepfade führen zu sommernden Orten, Die warme Vertrautheit bewahrten.
Berge erheben sich uralt und dunkel, Und Bäche wie Silber und Perlen Spielen zu Tale, umsäumt vom Gefunkel Des Taus auf den Blättern der Erlen.
Manche schon segelten mutig durch Meere, Ersehnten, was alle besingen; Einige baten den Wind, sie trotz Schwere Zu jener Insel zu bringen.
Wer ging schon fort ohne Angst, denn so viele, Die kehrten nach Hause, zerschlagen. Wenige kamen ans Ziel aller Ziele, Der Wind kann nur Seeschwalben tragen.
Ich aber stehe im Hafen und lausche Dem Ungestüm schäumender Fluten, Während dort oben Bergbäche rauschen In rotgoldnen Sonnenlichtgluten.
Liebster, wir machen uns gischtweiße Schwingen Und trotzen dem Sturm und den Wellen. Lass uns den Traum aller Träume erringen, Den Trank aus den ewigen Quellen.
1. Das Glück der Inseln
» D I EG L Ü C K L I C H E NI N S E L N « ,sagte der Kapitän. »Obst und Wein. Etwas Besseres findet Ihr nirgends.«
Zukata knurrte nur. Aus dieser Entfernung sahen die Inseln nicht bemerkenswert glücklich aus. Sie waren nichts als zwei blasse, farblose Erhebungen am Horizont. Von hier aus machte es keinen Unterschied, ob sie grün und fruchtbar waren oder schwarz und verbrannt.
»Welche Insel ist es?«, fragte er.
»Die rechte«, antwortete der Kapitän. »Das ist Arima.«
Man konnte jetzt die Steilküste auf der einen Seite erkennen; zur anderen Seite hin lief die Insel flach aus. Dort duckte sich eine Siedlung hinter die Dünen, im Hafen lagen einige kleine Segelschiffe und Boote vor Anker.
»Wir werden sie verbrennen, bevor sie wissen, was geschieht«, zischte Settan. »Wir werden über sie kommen, über die kleinen, dummen Fischer und Gärtner. Dann wird es dir wieder besser gehen, Herr.«
Zukata wandte ihm sein finsteres Gesicht zu. »Was weißt du davon, wie es mir geht? Was willst du davon wissen?«
»Ich … Herr, ich dachte nur …«
»Ich will an Land gehen«, bestimmte Zukata. »Aber nicht im Hafen. Und niemand unternimmt irgendetwas, bevor ich es sage.«
»Wir können ein Boot hinunterlassen …«
Auch den Kapitän der Perlentaucher brachte ein einziger Blick des Riesen zum Schweigen. Da er sich nicht auf die Rolle eines bloßen Befehlsempfängers reduzieren lassen wollte, und um den Respekt seiner Mannschaft nicht zu verlieren, tat er regelmäßig seine Meinung kund und bereute es jedes Mal wieder. In diesen Tagen gehörte Mut dazu, sich in Zukatas Nähe aufzuhalten.
»Ähm, dann – wie Ihr wollt …« Er entfernte sich schleunigst. Settan hielt treu aus. Ihn schickten die Räuber zu Zukata, wenn sie wissen wollten, wie es weiterging. Sie freuten sich schon darauf, nach dieser nervenzermürbenden Schiffsfahrt wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und ihren Frust auf der Insel dort an den harmlosen Leuten auszulassen. Lange genug hatten sie auf engstem Raum miteinander ausgeharrt. Sie waren wie Jagdhunde, die darauf brannten, von der Kette gelassen zu werden. Und er würde sie jetzt bald loslassen, er würde sie auf seine Feinde hetzen.
Unter Zukatas grimmigem Blick wurde Settan klein. »Herr, ich dachte …«
»Ihr bleibt hier!«, befahl Zukata. »Kommt den Inseln nicht näher. Gebt den anderen Schiffen Bescheid!«
Er brauchte kein Ruderboot, um zu der Insel überzusetzen. In der Tat hatte der Plan, den er mit seinen Männern abgesprochen hatte, anders ausgesehen. Er hatte ihnen versprochen, mit drei Schiffen gleichzeitig anzulegen und das Werk der Verwüstung zu beginnen, während das vierte Schiff etwas weiter draußen blieb und darauf achtete, dass niemand entkam. Warum er ihnen jetzt befahl zu warten, warum er ins Wasser sprang und nach Arima schwamm, erklärte er keinem von ihnen. Ohne weiteres mutete er seinen Männern den Verzicht auf den ersehnten Landgang zu. Ob diese Insel zerstört wurde oder nicht und wann das geschah, entschied immer noch er.
Die Unruhe, die seinen ganzen Körper erfüllte, legte sich im kalten Wasser ein wenig. Auch er war zu lange auf diesem Schiff gewesen, statt schnellen Schritts durch die Wälder zu marschieren. Es tat gut, den Kampf gegen die Wellen aufzunehmen. Grün. Ja, er konnte jetzt sehen, wie grün sie war. Ein riesiger Garten, eine Perle mitten im Meer. Das war also der Ort, an den Blitz sich zurückgesehnt hatte, während sie miteinander unterwegs gewesen waren. Das hier war Blitz’ Heimat, das war der Ort, der seine Erinnerungen nährte, der ihm von weitem Kraft gab. Zukata hatte geschworen, Blitz zu verschonen, diesen kleinen Verräter, der ihn so enttäuscht hatte, aber er hatte nicht versprochen, ihn gänzlich unbehelligt zu lassen. Es gab auch andere Möglichkeiten, jemanden zu vernichten, ohne Hand an ihn zu legen. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem Blitz nach ihm suchte, um ihn zu bitten, sein Leben zu nehmen statt das der anderen. Es würde ein Tag kommen, herrlich und grün, ein Tag, an dem Blitz vor ihn hingekrochen kommen würde, um ihn anzuflehen, die Strafe endlich zu vollziehen.
Dies war der Beginn. Er würde Arima zerstören, und was nützte es Blitz dann, dass er in Kirifas am Kaiserhof lebte und dort jedermanns Liebling war? Ein Hund, dem sie den Kopf tätschelten, weil er so brav gewesen war. Der Kaiser und die Kaiserin fütterten ihn, sie ließen ihn mit ihrer kleinen Tochter spielen, die Blitz aus Zukatas Händen gerissen hatte. Blitz lebte nun in diesem Schloss, das Zukata ihm als seinem Ziehsohn hatte öffnen wollen, lebte dort ohne ihn, dort, wo sie alle über den betrogenen Prinzen lachten.
Seine Füße fühlten Grund. Wütend schritt er den Strand hinauf, der an dieser Stelle steinig und menschenleer vor ihm lag. Zornig stapfte er auf all das herrliche Grün zu, auf diesen Garten im Meer, wo man Verräter aufzog, wo sie gediehen und gesund und stark wurden, um ihr elendes Werk zu beginnen.
Er drehte sich um und sah seine Schiffe weit draußen kreuzen. Blitz hatte sich mit dem Falschen angelegt. Überall im ganzen Kaiserreich hatte Zukata seine Leute. Diese Schiffe, die er zu seiner Zeit als Pirat gekapert hatte, waren jahrelang für ihn zur See gefahren. Einen Anteil der Beute hatten die Kapitäne stets für ihn zur Seite gelegt – keiner wagte je, ihn zu betrügen –, und niemand hatte Verwunderung geäußert, als er sie wieder in seinen Dienst gerufen hatte. In Jolis hatte er sie gefunden, dort, wo die Piraten ganze Dörfer ihr Eigen nannten, geduldet von einem König, der blind tat, nachdem er einmal gehörig erschreckt worden war. Man musste nur wissen, wie man mit den Leuten umzugehen hatte. Manche reagierten auf die Verlockung des Goldes besser als auf jede Drohung. Manche wurden empfindlich, wenn man auf ihre Familie zu sprechen kam. Aber irgendwann gehörten sie ihm alle. Alle ohne Ausnahme.
Er wandte sich dem felsigen Strandabschnitt zu, der zwischen großen Steinen in einen Wald überging. Dort ging es zum Steilhang hinauf, in der anderen Richtung lagen der Hafen und die Fischerdörfer.
Zukata hatte nicht damit gerechnet, einen so schönen Wald auf dieser kleinen Insel zu finden, große Bäume, die dem Wind trotzten, nicht nur verkrüppelte Kiefern, sondern hohe, schlanke Laubbäume mit grünen Blättern in allen Schattierungen. Es war hier wärmer als draußen auf dem Meer, seine Kleider trockneten schon an seinem Körper. In der Sonne wuchsen die Plantagen, gezähmte Bäume, die Frucht liefern mussten. Aber es war der wilde Wald, den er liebte, nicht diese beschnittenen Apfelbäume. Die weitverzweigten Stämme und das Dickicht darunter, das sich an die Hosenbeine heftete wie ein bissiger Hund.
Ich bin nicht zahm.
Hatte Blitz das gesagt? Immer hatte er darauf bestanden, dass er anders war als die anderen Räuber, anders als die Männer, auf die Zukata sich verließ.
Der Hang wurde steiler. Von hier aus hatte er einen grandiosen Blick auf das Meer. Die Küste von Drian war nicht zu sehen, aber sehr weit weg konnte sie nicht sein. Dort, auf dem offenen Meer, die Masten der Piratenschiffe. Und wenn er sich umdrehte, konnte er fast die halbe Insel überblicken, über Schafweiden – zunächst hielt er die weißen Flecken für Steine, bis er merkte, dass sie sich bewegten – und einen Teil der Obstgärten bis hin zu ein paar kleinen Dörfern, die sich an den Hang schmiegten.
Die salzige Seeluft füllte seine Lungen.
Und noch weiter hinten die schattenhaften Umrisse der anderen Insel. Neiara.
Er konnte es zerstören. Alles. Diese Insel, die zweite Insel, alles, was sich glücklich nannte und ihn dann verriet. Er dachte über seine Rache nach, aber unter dem blassblauen Himmel und dem ewigen Rauschen der Brandung fühlten sich diese Gedanken nicht mehr heiß und befriedigend an, sondern kühl und fremd. Er konnte es zerstören. Aber vielleicht, dachte er, und dieser neue Gedanke hatte etwas an sich, das ihm über alle Maßen gefiel, vielleicht wäre es noch besser, es zu besitzen.
Eine ganze Weile stand er da und bewegte einen neuen Plan in seinem Inneren. Ich bin nicht zahm, hatte Blitz gesagt, ich bin frei, in mir ist der Traum von den Inseln …
Es gab auch eine andere Möglichkeit, sich zu rächen. Eine viel subtilere, aber genauso wirksame Möglichkeit, Blitz den Boden unter den Füßen wegzureißen. Seinen Männern würde das nicht gefallen. Aber hatte er sich je darum geschert?
Man konnte kein Weingut besitzen, ohne sich für Wein zu interessieren. Wikant probierte den Wein nicht nur, er trank ihn. Den ganzen Becher. Es war sein dritter und bestimmt nicht der letzte. Tinek, seine Frau, öffnete den Mund, um ihm Vorwürfe zu machen – er wusste das, denn er war es gewöhnt –, aber zu seiner Überraschung besann sie sich mitten im Satz.
»Wikant, du solltest nicht …! Ich muss mit dir über Erion reden.«
»Über Blöd?«, fragte er.
»Nenn ihn nicht so!« Aber wenigstens fauchte sie nicht. Sie konnte es nicht leiden, wenn er ihren gemeinsamen Sohn so nannte, aber Erion war nun einmal blöd. Wikant fand, dass er als Vater das Recht hatte, die Dinge beim Namen zu nennen. Erion war in jeder Hinsicht eine Enttäuschung. Er interessierte sich nicht für den Weinanbau. Mittlerweile war er dreizehn und eigentlich alt genug, um in die Lehre zu gehen. Aber er benahm sich immer noch wie ein Kind, das keinerlei Verpflichtungen hatte. Weder interessierte er sich für die Traditionen der ältesten Familie von Neiara noch für sonst irgendetwas, das Wikant als sein Vater hätte fördern können. Er wollte Erion ja gar nicht in den Weinbau zwingen, jedenfalls noch nicht. Aber seinem Sohn zu erlauben, einfach in den Tag hinein zu leben, das ging ebenfalls nicht.
»Gut. Dann reden wir über Blöd.«
Tinek verzog das Gesicht, aber sie hatte wohl wirklich vor, ein ernsthaftes Gespräch zu führen, denn sie ließ sich nicht ablenken.
»Erion möchte Aufseher werden«, sagte sie. »Aber er muss doch erst einmal etwas lernen.«
»Wie kommt er bloß darauf?«, fragte Wikant. »Wie will er etwas beaufsichtigen, von dem er nichts versteht?«
»Er will einfach nur aufpassen, was andere tun.« Sie seufzte. »Wikant, ich glaube, es war ein Fehler, dass wir das Wort Weinfürst ans Gut schlagen ließen. Er ist irgendwie in dem Glauben aufgewachsen, er wäre der Sohn eines Fürsten.«
Wikant griff nach dem nächsten Becher. Er lachte. Nach Tineks ernsthaftem Beginn hatte er mit einer weitaus schlimmeren Nachricht gerechnet. »Lass ihn doch. Er ist ein Kind.« Es ärgerte ihn ja selbst, aber er wusste mittlerweile, dass mit dem Jungen nichts anzufangen war.
»Wikant, verstehst du nicht? Er will nichts lernen, weil er glaubt, er muss das alles nicht wissen! Das Einzige, was überhaupt in seinen Schädel hineingeht, sind diese ganzen königlichen Familien auf dem Festland. Er lernt die Namen von Königen auswendig! Von Herrschaftshäusern! Stammbäume fremder Familien!« Sie machte eine Pause, aber da Wikant nichts sagte, fuhr sie fort: »Er glaubt, er könne sich zurücklehnen und zusehen, wie andere schuften.«
»So wie ich, meinst du.«
»Nein! Nein – nun ja.«
»Blöd«, flüsterte Wikant. Er würde mit dem Jungen ein ernstes Wörtchen reden müssen, und nur, damit Tinek zufrieden war. Nützen würde es sowieso nichts. Bei diesem Schnösel war alles vergebens.
Er wollte gerade trinken, als die Tür heftig aufgestoßen wurde. Vor Schreck zuckte er zusammen und goss sich den Wein über das Hemd. »Ver-«
Er hatte seinen Fluch nicht einmal zu Ende gesprochen, als Kelon hereinstürzte. Kelon war in der Kelterei für alles und jedes zuständig, ein kundiger und verlässlicher Mann, der die Verantwortung übernahm, wenn Wikant sich seinen Traurigkeitsanfällen hingab. Vielleicht stellte sich Blöd einen ähnlichen Posten vor, aber dann hatte der Junge nicht begriffen, wie viel dazu gehörte, überall dabei zu sein und zu überprüfen, wie die Dinge liefen.
Es gehörte nicht zu Kelons Aufgaben, hier einfach so hereinzuplatzen. Höchstens vielleicht, wenn es brannte.
Tinek sprang auf. »Was ist passiert?«
»Piraten!«, rief Kelon. »Sie haben den Hafen blockiert, sie sind überall, sie kommen die Straße hoch – hierher!«
Wikant vergaß sein Hemd. Er stand auf. Und dann stand er da und wusste nicht, was er tun sollte. Sie sahen ihn an, beide, Kelon und Tinek, als wäre er derjenige, der sie retten konnte. Er war der Weinfürst. Er musste etwas tun, den Piraten entgegentreten und sie vertreiben. Aber stattdessen stand er nur da und konnte sich nicht rühren.
»Wikant!«, schrie Tinek. »So tu doch was!«
»Was?«, fragte er zurück. »Wir haben keine Waffen. Oder doch? Im Keller?«
»Dort könnten ein paar Hellebarden liegen«, gab Kelon zu. »Und an der Wand im Empfangssaal hängt ein Schwert.«
»Erion!«, rief Tinek plötzlich. »Wo ist Erion? Erion!« Laut nach ihrem Sohn schreiend rannte sie aus dem Zimmer.
Wikant trat ans Fenster. Von hier aus konnte man das Dorf und den Hafen überblicken; vielleicht war es keine schlechte Idee, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Tatsächlich sah er ein großes fremdes Segelschiff zwischen den kleineren Booten liegen. »Es sieht nicht aus wie ein Piratenschiff«, sagte er zu Kelon. »Vielleicht übertreibst du ein bisschen?«
»Wenn es doch nur so wäre«, seufzte der Mann. »Wikant, wir sollten ein paar Dinge verstecken, die von Wert sind.«
»Hast du das Tor verriegelt?«
»Natürlich.«
Wikant nickte erleichtert. »Dann brauchen wir auch nichts zu verstecken. Durchs Tor kommt niemand.«
Es war ein stabiles Tor aus uralten Eichenbohlen. Warum regten sich alle so auf? Selbst wenn es Piraten waren, die die Insel heimsuchten, würden sie sich an den Dörflern schadlos halten und nicht ins Gut kommen. Er trat zurück an den Tisch, auf dem noch der halbvolle Becher stand. »Wir sollten einfach Ruhe bewahren und …«
Bumm.
Der Schlag war so heftig, dass die Wände vibrierten. Wikants Becher schwappte schon wieder über. »Was war das!«, rief er aus. »Jetzt reicht es aber!«
»Sie sind am Tor«, sagte Kelon. »Ich – ich gehe mal nachsehen.« Es klang, als hätte er lieber gesagt: Ich gehe mich verstecken. Aber Kelon war hier für alles zuständig. Und deshalb tat er seine Pflicht und ging, um einen Blick auf das schützende Tor zu werfen.
Bumm.
Wieder das laute Dröhnen, begleitet von einem Krachen, dass Kelon durch Mark und Bein ging. Er nahm all seinen Mut zusammen, um den Feinden entgegenzutreten. Ein paar Arbeiter hatten tatsächlich die Hellebarden aus dem Lager geholt und bemühten sich, Haltung anzunehmen und wie Soldaten auszusehen. Die Verteidiger standen im Hof und wichen bei jedem Krachen einen Schritt zurück.
»Für den Fürsten!«
Es war nicht Kelon, der gerufen hatte. Wikant drehte sich um und sah Erion dort stehen, mit einem langen Stock bewaffnet, an den er ein Küchenmesser gebunden hatte.
»Was hast du da, einen Besenstiel?«
Der Junge war blass. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm strähnig in die Stirn, aber er versuchte krampfhaft, wie ein Prinz auszusehen. Vielleicht hoffte er, aus seinen Augen würde Mut und Zuversicht strahlen, aber es wäre wirkungsvoller gewesen, wenn er nicht so heftig geblinzelt hätte.
»Blöd! Komm da weg!«
Erion drehte sich um und schrie auf, als er den dunklen Fleck auf dem Hemd seines Vaters bemerkte. »Du bist verletzt! Ich werde dich rächen!«
Der Weinfürst grinste, während er mit vorsichtig tastenden Schritten über den Hof ging. Er schien zu schweben, leichtfüßig und gleichzeitig halb tot, das selige Lächeln eines glücklich Sterbenden auf den Lippen.
Kelon biss die Zähne zusammen und wandte sich an die zitternden Arbeiter.
»Nein«, sagte er. »Nicht für den Fürsten. Für Neiara. Für eure Familien draußen im Dorf. Für jeden einzelnen von uns. Wir sind keine Krieger. Aber wir wissen, was uns erwartet, wenn wir nichts tun.« Dasselbe, was uns erwartet, wenn wir uns wehren, dachte er. Sie werden keinen von uns verschonen. Sie werden uns alle niedermähen. Wenn das wirklich Piraten sind, dann gnade uns Rin.
Bumm.
Es war so dumm, sich ihnen in den Weg zu stellen. Es gab nichts Dümmeres. Aber wenn sie sich verbarrikadierten – irgendwo im Keller, wo die Piraten sie vielleicht nicht finden würden – und später nach oben kamen und sahen, wie das Gesindel im Dorf gewütet hatte … Wer würde dann noch leben wollen?
Bumm. Und das Tor zerbarst. Und dann Stille.
»Für den Fürsten!« Eine helle Jungenstimme hallte durch den Hof. Kelon hielt die Luft an, als er den Sohn seines Arbeitgebers nach vorne rennen sah, die selbstgebastelte Lanze in der Hand. Er erwartete, jeden Moment die Piraten hereinstürzen zu sehen; der Junge lief ihnen direkt in die Arme.
»Nein!« Er hörte Tineks Aufschrei. »Oh nein! Erion!«
Ein Mann schritt über die zersplitterten Balken. Hinter ihm kam eine Horde wilder, bärtiger Gestalten – die Piraten, der Abschaum der Meere. Aber es war ihr Anführer, der alle Blicke auf sich zog, ein Mann, mindestens zwei Kopf größer als die anderen und doppelt so breit: Ein Riese. Sein blondes Haar, zu einem Zopf geflochten, der sorgfältig gestutzte Bart und die Kleidung, die er trug, ließen ihn eher wie einen vornehmen Herrn aussehen als wie einen Piraten. Keine Lumpen, sondern Beinkleider, Wams und Umhang aus allerfeinstem, dunkelblauem Stoff – Kelon erkannte sofort, dass dieser Mann kein gewöhnlicher Räuber war. Und doch, ein einziger Blick in dieses Gesicht genügte und man wünschte sich, es nie wiederzusehen. Zu fliehen und sich zu verstecken und ihm nie, nie wieder zu begegnen. Nicht, weil er hässlich war oder schrecklich anzusehen, sondern weil er lächelte, weil er hier hereinkam und lächelte, und weil ihm in dem Moment, in dem er das Gut betrat, alles hier gehörte, alles und jeder.