Kitabı oku: «Auferstehung», sayfa 11
Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Die Fürstin Sofja Wassiljewna hatte ihr Mittagessen beendet, ein sehr feines und nahrhaftes Diner, das sie stets allein zu sich zu nehmen pflegte, damit sie niemand bei dieser unpoetischen Funktion sähe. Neben ihrer Couchette stand das Kaffeetischchen, und sie rauchte eine Pachitos.
Die Fürstin Sofja Wassiljewna war eine magere, hohe, sich noch immer jung machende Brünette mit langen Zähnen und großen schwarzen Augen.
Man sprach Übles über ihr Verhältnis zu dem Doktor. Nechljudow hatte früher nie daran gedacht. Heute aber geschah, daß er sich dessen nicht nur erinnerte, sondern auch ein Gefühl von unbezwinglichem Ekel bekam, als er neben ihrer Couchette den Arzt mit dem pomadisierten, glänzenden, geteilten Bart erblickte.
Neben Sofja Wassiljewna am kleinen Tische saß auf einem niedrigen weichen Lehnstuhl Kolossow und rührte seinen Kaffee um. Auf dem Tische stand ein Gläschen Likör.
Missy war mit Nechljudow zusammen bei der Mutter eingetreten, blieb aber nicht im Zimmer.
»Wenn maman müde wird und Sie wegjagt, so kommen Sie zu mir«, sagte sie zu Nechljudow gewandt in einem solchen Tone, als wäre zwischen ihnen beiden nichts vorgefallen. Und mit einem heiteren Lächeln schritt sie lautlos über den dicken Teppich und verließ das Zimmer.
»Nun, guten Tag, mein Freund, setzen Sie sich und erzählen Sie mir . . . « sagte die Fürstin Sofja Wassiljewna mit ihrem kunstvollen, verstellten, aber dem natürlichen vollständig ähnlichen Lächeln, welches ihre schönen langen Zähne entblößte, die so geschickt gemacht waren, als wären sie echt. »Ich höre, daß Sie aus dem Gericht in einer sehr trüben Gemütsverfassung zurückgekommen seien. Ich glaube, daß es für Leute von Herz sehr schwer sein muß . . . « sagte sie französisch.
»Ja, das ist wahr«, erwiderte Nechljudow. »Man fühlt sehr oft seine Un . . . Man fühlt, daß man kein Recht hat, andere zu richten . . . «
»Comme c’est vrai!« rief sie aus, als sei sie von der Wahrheit seiner Bemerkung frappiert. Wie immer, suchte sie auch jetzt ihrem Gegenüber zu schmeicheln.
»Nun, und wie steht es denn mit Ihrem Gemälde? Ich interessiere mich dafür sehr«, fügte sie hinzu, »wäre ich nicht so leidend, so wäre ich schon längst bei Ihnen gewesen . . . «
»Ich habe es ganz aufgegeben«, antwortete trocken Nechljudow, dem heute die Unwahrheit ihrer Schmeichelei ebenso offenbar war, wie ihr verheimlichtes Alter. Er konnte durchaus nicht die rechte Stimmung finden, um liebenswürdig zu sein.
»Sehr unrecht von Ihnen. — Wissen Sie, unser berühmter Repin hat mir gesagt, daß er entschieden Talent habe«, wandte sie sich zu Kolossow.
»Daß sie sich nicht schämt, so zu lügen!« dachte Nechljudow stirnrunzelnd.
Nachdem die Fürstin sich überzeugt hatte, daß Nechljudow heute nicht bei Laune sei, und es unmöglich sein würde, ihn in ein angenehmes und interessantes Gespräch hineinzuziehen, wandte sie sich an Kolossow mit der Frage nach seiner Meinung über ein neues Drama. Sie that dieses in einem Ton, als ob die von Kolossow zu erwartende Meinungsäußerung jegliche Zweifel beseitigen, und als ob jedes Wort dieser Äußerung verewigt werden müßte.
Kolossow verurteilte das Drama und sprach bei dieser Gelegenheit seine Ansichten über die Kunst aus. Die Fürstin zeigte sich von der Richtigkeit seines Urteils bewältigt, versuchte zwar den Autor des Dramas zu verteidigen, aber ergab sich sofort wieder, oder fand wenigstens eine vermittelnde Ansicht. Nechljudow sah und hörte zu, aber sah und hörte etwas ganz anderes, als was vorging.
Indem er bald der Fürstin, bald Kolossow zu hörte, sah er erstens, daß sowohl die Fürstin, als auch Kolossow sich eigentlich weder für das Drama, noch für einander interessierten. Wenn sie sprachen, so thaten sie es nur dem physiologischen Bedürfnis zuliebe, nach dem Essen die Zungen- und Kehlmuskeln zu bewegen. Zweitens sah Nechljudow, daß Kolossow, der Schnaps, Wein und Likör getrunken hatte, bereits etwas betrunken war, nicht so betrunken, wie es die selten trinkenden Bauern zu sein pflegen, sondern so, wie es Leute sind, denen der Alkoholgenuß zum gewohnten Bedürfnis geworden ist. Kolossow schwankte nicht, sprach kein dummes Zeug, sondern befand sich nur in einem anormalen, auf geregt-selbstzufriedenem Zustande. Drittens sah Nechljudow, daß die Fürstin während des Gesprächs immerfort beunruhigt zum Fenster hinüberblickte, durch welches sich ein schräger Sonnenstrahl zu ihr hinüberzustehlen begann. Sie fürchtete, daß die Sonne ihr Alter zu grell beleuchten würde.
»Wie wichtig das ist«, sagte sie auf irgend eine Bemerkung Kolossows hin und drückte dabei auf den gleich neben der Couchette angebrachten Knopf der Klingel.
Der Doktor erhob sich und ging, als eine im Hause gut bekannte Persönlichkeit, ohne ein Wort zu sagen, zum Zimmer hinaus. Die Fürstin begleitete ihn mit den Augen und führte das Gespräch weiter.
»Bitte Philipp, ziehen Sie die Gardine zu«, sagte sie, als auf ihr Klingeln der schöne Lakai eintrat, und wies mit den Augen auf die Gardine am Fenster.
»Nein, sagen Sie, was Sie wollen, es ist etwas Mystisches darin, und ohne Mystizismus giebt es keine Poesie«, sprach sie, indem sie mit dem einen ihrer schwarzen Augen geärgert die Manipulationen des Lakais, der die Gardine zuzog, verfolgte.
»Mystizismus ohne Poesie ist Aberglaube, und Poesie ohne Mystizismus Prosa . . . « sagte sie mit einem trüben Lächeln, ohne den Blick von dem mit der Gardine beschäftigten Lakai zu wenden.
»Philipp, nicht diese Gardine . . . Am großen Fenster . . . sagte die Fürstin endlich mit dem Ausdrucke einer Märtyrerin. Sie schien sich offen bar selbst zu bemitleiden wegen der Anstrengung, die sie machen mußte, um diese Worte auszusprechen. Und sogleich führte sie sich zur Beruhigung mit der von Fingerringen bedeckten Hand eine aromatisch rauchende Pachitos an den Mund.
Der muskulöse, schöne Philipp mit dem breiten Brustkasten verneigte sich ein wenig, als ob er sich entschuldigte. Mit weichen Schritten ging er mit seinen starken Beinen, an denen die Waden hervor traten, über den Teppich zum andern Fenster und begann, die Fürstin aufmerksam betrachtend, die Gardine so zu ordnen, daß nicht ein Strahl mehr seine Herrin belästigen könnte. Aber er hatte es wieder nicht recht gemacht, und wieder mußte die gemarterte Fürstin ihr Gespräch über den Mystizismus unterbrechen, und den sie unbarmherzig quälenden, ungeschickten Philipp zurechtweisen. Für einen Augenblick flammte in den Augen Philipps ein Funke auf.
»Der Teufel mag daraus klug werden, was du willst! — Das meint er wahrscheinlich innerlich«, dachte Nechljudow, der das ganze Spiel beobachtet hatte. Aber der schöne und starke Philipp verbiß sogleich wieder seine Ungeduld und fuhr ruhig fort, das zu thun, was ihm die ausgemergelte, kraftlose, durch und durch verkünstelte Fürstin befahl.
»Gewiß, es steckt ein großes Stück Wahrheit in der Lehre Darwins«, sprach, auf dem niedrigen Lehnstuhl ausgestreckt, Kolossow, indem er die Fürstin mit schläfrigen Augen ansah. »Aber er überschreitet die Grenzen . . . «
»Glauben Sie an die Vererbungstheorie?« wandte sich die Fürstin an Nechljudow, der sie durch seine Schweigsamkeit deprimierte.
»An die Vererbungstheorie? Nein . . . « antwortete Nechljudow, nachdem er die Frage aufgefaßt hatte. Er war in diesem Augenblick ganz von sonderbaren Vorstellungen gefangen genommen, die in seiner Phantasie aufstiegen. Neben dem starken, schönen Philipp, den er sich als Modell dachte, stellte er sich den nackten Kolossow vor, mit seinem, einer Wassermelone gleichenden Bauch, dem Kahlkopf und den wie Peitschenschnüre herabhängenden muskellosen Armen. Ebenso stellten sich ihm unklar auch die jetzt mit Samt und Seide bedeckten Schultern der Fürstin so vor, wie sie in Wirklichkeit aussehen müßten. Aber dieses Bild war zu schrecklich, und er gab sich Mühe, es wieder zu bannen.
Die Fürstin maß ihn mit den Augen.
»Übrigens, Missy erwartet Sie«, sagte sie. »Gehen Sie doch zu ihr hinüber, sie wollte Ihnen etwas Neues von Schumann vorspielen . . . Sehr interessant . . . «
»Nichts wollte sie spielen. Zu was sie das alles doch lügt!« dachte Nechljudow, als er sich erhob und die durchscheinende, knöcherne, beringte Hand der Fürstin drückte.
Im Salon begegnete ihm Jekaterina Alexejewna und sing sogleich an zu sprechen:
»Ich sehe, mein Fürst, daß auf Sie die Pflichten eines Geschworenen etwas niederdrückend wirken . . . « sagte sie, wie immer, französisch.
»Ja, nehmen Sie es mir nicht übel, ich bin heute nicht bei Laune und habe nicht das Recht, auch andere durch meinen Mißmut anzustecken«, antwortete Nechljudow.
»Warum sind Sie denn schlechter Laune?«
»Gestatten Sie mir, Sie damit nicht zu belästigen«, sagte er, nach seinem Hut suchend.
»Haben Sie es denn vergessen, daß gerade Sie es immer sagten, daß man die Wahrheit immer aussprechen müsse, und wie viel bittere Wahrheiten Sie uns damals gesagt haben. Warum wollen Sie es denn jetzt nicht thun? — Erinnerst du dich, Missy?« wandte sich Jekaterina Alexejewna an die zu ihnen herausgekommene Missy.
»Weil das damals Scherz war«, antwortete Nechljudow ernst. »Im Scherz geht so was, in der Wirklichkeit sind wir aber, das heißt, bin ich so schlecht, daß ich wenigstens die Wahrheit nicht aussprechen darf.«
»Korrigieren Sie sich nicht, und sagen Sie uns lieber, wieso wir denn so schlecht sind?« sagte Jekaterina Alexejewna, mit den Worten spielend, als ob sie den ernsten Ton Nechljudows nicht merkte.
»Nichts ist schlimmer, als seine üble Laune anerkennen«, meinte Missy. »Ich gestehe mir so etwas nie ein, und bin daher immer bei guter Stimmung. Nun, was ist dabei zu machen, gehen wir zu mir hinüber. Ich werde versuchen, Ihre mauvaise humeur zu vertreiben.«
Nechljudow wurde von einer Empfindung befallen, die dem Gefühl ähnlich sein mochte, das ein Pferd hat, welches man streicht und bürstet, um es zu zäumen und einzuspannen. Ihm war aber heute mehr als je unangenehm, zu ziehen. Er entschuldigte sich, daß er nach Hause müsse, und begann sich zu verabschieden. Missy behielt seine Hand länger als gewöhnlich in der ihrigen.
»Denken Sie immer daran«, sagte sie, »daß das, was Sie bewegt, auch Ihren Freunden nicht gleichgültig ist . . . Kommen Sie morgen?«
»Kaum . . . « sagte Nechljudow. Er errötete beschämt, er wußte nicht, ob um seinet- oder um ihretwillen, und ging eilig hinaus.
»Was ist denn das? Comme cela m’intrigue . . . « meinte Jekaterina Alexejewna, als Nechljudow gegangen war. »Ich muß es herausbekommen. Irgend eine affaire d’amour propre: il est très susceptible, notre cher Mitja.«
»Plutôt une affaire d’amour sale . . . wollte Missy sagen, die mit einem ganz veränderten, erloschenen Gesicht vor sich hin sah. Aber sie wollte sogar vor Jekaterina Alexejewna diesen calembour de mauvais ton nicht machen und sagte nur:
»Wir haben alle unsere guten und schlechten Tage . . . «
»Wird mich wirklich auch dieser betrügen?« dachte sie. »Nach alledem, was gewesen, würde das schlecht von ihm sein . . . «
Wenn Missy hätte erklären sollen, was sie unter den Worten »nach alledem, was gewesen« verstehe, würde sie nichts Bestimmtes haben sagen können. Und doch wußte sie ganz genau, daß er nicht nur Hoffnungen in ihr erweckt, sondern ihr so gut wie ein Versprechen gegeben hatte. Es waren das alles zwar keine bestimmten Worte, sondern nur Blicke, Lächeln, Anspielungen, stumme Zugeständnisse gewesen. Aber dennoch hielt sie Nechljudow für den Ihrigen, und ihn zu verlieren, wäre ihr sehr schwer geworden.
Achtundzwanzigstes Kapitel.
Es ist schändlich und abscheulich, abscheulich und schändlich«, dachte inzwischen Nechljudow, als er zu Fuß nach Hause über die bekannten Straßen zurückkehrte. Das drückende Gefühl, das er während des Gesprächs mit Missy empfunden hatte, verließ ihn noch immer nicht. Er wußte, daß er ihr gegenüber, wenn man so sagen dürfte, formell im Recht war; er hatte ihr nichts gesagt, was ihn binden könnte, ihr keinen Antrag gemacht. Aber dem Wesen der Sache nach, das fühlte er, hatte er sich an sie gebunden, ihr ein Versprechen gegeben. Und dennoch empfand er heute mit allen Fasern seiner Seele, daß er sie nicht heiraten könnte.
»Es ist schändlich und abscheulich, abscheulich und schändlich . . . « sagte er sich wieder, und jetzt nicht nur in Bezug auf sein Verhältnis zu Missy, sondern überhaupt in Bezug auf alles. »Alles ist abscheulich und schändlich . . . « wiederholte er, als er die Treppe seines Hauses betrat.
»Zu Nacht essen werde ich nicht«, sagte er zu Kornej, der ihn in das Speisezimmer begleitete, wo das Gedeck und der Thee bereit standen. »Sie können gehen.«
»Zu Befehl . . . « sagte Kornej, ging aber nicht, sondern begann, den Tisch abzuräumen. Nechljudow betrachtete Kornej mit einem Gefühl des Widerwillens. Er wünschte, daß alle ihn in Ruhe ließen, und es schien, daß alle, wie absichtlich und ihm zum Trotz sich an ihn herandrängten.
Nachdem Kornej mit dem Gedeck gegangen war, wollte Nechljudow an den Samowar herantreten, um den Thee einzuschütten, aber als er die Schritte Agrafena Petrownas vernahm, ging er schleunigst, um ihr nicht zu begegnen, in den Salon hinaus und schlug die Thür hinter sich zu.
Dies Zimmer, der Salon, war dasselbe, in welchem vor drei Monaten seine Mutter verschieden war. Jetzt, als er dieses Zimmer betreten, das von zwei Lampen mit Reflektoren — eine bei dem Porträt seines Vaters, die andere bei dem seiner Mutter — beleuchtet war, erinnerte er sich an seine letzten Beziehungen zur Mutter, und auch diese Beziehungen erschienen ihm unnatürlich und widerwärtig. Auch das also war abscheulich und schändlich. Er dachte daran, wie er in der letzten Zeit ihrer Krankheit ihren Tod geradezu gewünscht hatte. Er hatte sich damals gesagt, daß er dieses nur deshalb wünschte, damit sie von ihrem Leiden Erlösung fände, aber in Wirklichkeit hatte er es gewünscht, um selbst von dem Anblick ihrer Qualen befreit zu werden.
Er wollte in sich eine gute Erinnerung an die Mutter hervorrufen und blickte auf ihr Porträt, das von einem berühmten Künstler für fünftausend Rubel gemalt worden war. Sie war in einer schwarzen Sammetrobe, mit entblößtem Busen dar gestellt. Der Künstler hatte augenscheinlich mit besonderer Sorgfalt die Brust ausgeführt, den Zwischenraum zwischen den beiden Brüsten, den Hals und die Schultern von blendender Schönheit. Das war schon ganz abscheulich und schändlich. Etwas Widerwärtiges und Lästerliches lag in dieser Darstellung der Mutter in Gestalt einer halb entblößten Schönheit, um so widerwärtiger, als in demselben Zimmer vor drei Monaten dieselbe Frau gelegen, eingetrocknet wie eine Mumie, und dennoch das ganze Haus mit einem qualvoll schwerem Geruch erfüllend, den man durch nichts vertreiben konnte . . .
Und er erinnerte sich, wie sie am Tage vor ihrem Tode seine starke weiße Hand in ihr knöchriges, schwarzangelaufenes Händchen genommen, ihm in die Augen gesehen und ihm gesagt hatte:
»Verurteile mich nicht, Mitja, wenn ich nicht richtig gehandelt habe . . . während ihre vom Leiden geblichenen Augen durch Thränen getrübt wurden.
»Welche Scheußlichkeit«, sagte er zu sich selbst, als er nochmals auf das halbentblößte Weib mit den prachtvollen marmornen Schultern und Armen, und dem siegreichen Lächeln einen Blick warf.
Die entblößte Brust auf dem Bilde erinnerte ihn an ein anderes Weib, das er vor einigen Tagen ebenfalls entblößt gesehen hatte. Es war Missy. Sie hatte ihn unter irgend einem Vorwande des Abends zu sich kommen lassen, um sich ihm im Ballkleide zu zeigen, in welchem sie zu einer Soiree fuhr. Er dachte voll Abscheu an ihre schönen Hände und Arme . . . Und dieser grobe, tierische Vater mit seiner Vergangenheit und Grausamkeit, und diese Mutter mit der zweifelhaften Reputation eines Schöngeistes . . . Alles das war widerwärtig und zugleich beschämend. Abscheulich und schändlich, schändlich und abscheulich.
»Nein, nein«, dachte er, »ich muß mich befreien, befreien von meiner falschen Stellung Kortschagins, Marja Wassiljewna, meiner Erbschaft und allem übrigen gegenüber . . . Ja, frei atmen . . . Ins Ausland reisen, nach Rom . . . Mein Bild wieder vornehmen . . . « Die Zweifel an seinem Talent fielen ihm ein . . . »Nun, einerlei, einfach frei aufatmen . . . Zuerst nach Konstantinopel, dann nach Rom, nur um die Geschworenenpflichten so schnell wie möglich abzustreifen. Und die Sache mit dem Advokaten einrichten . . . «
Und plötzlich erstand in seiner Phantasie in ungewöhnlicher Lebendigkeit die Arrestantin mit ihren schwarzen schielenden Augen. Und wie hatte sie bei dem letzten Wort der Angeklagten geweint!
Er löschte und zerdrückte schnell die aus gerauchte Cigarette, zündete sich eine neue an und begann im Zimmer auf und ab zugehen. Und einer nach dem anderen tauchten in seinem Gedächtnis die Augenblicke auf, die er mit Katjuscha durchlebt hatte. Er gedachte des letzten Wiedersehens mit ihr, der Leidenschaft, die sich damals seiner bemächtigt hatte, und der Enttäuschung, die ihr gefolgt war. Er dachte an das weiße Kleid mit dem blauen Bande und an die Frühmesse. »O, ich habe sie geliebt damals in jener Nacht, geliebt mit der guten, reinen, wahrhaften Liebe, ich habe sie auch schon früher geliebt, und noch wie geliebt, damals als ich das erste Mal bei den Tanten war und an meiner Arbeit schrieb!« Und er erinnerte sich seiner selbst, wie er damals war. Er empfand den Hauch jener Jugend, Frische und Lebensfülle, und quälende Trübsal beschlich sein Herz.
Der Unterschied zwischen ihm, wie er damals gewesen, und wie er jetzt war, war ein ungeheuerer. Er war ebenso groß, wenn nicht noch größer, als der Unterschied zwischen jener Katjuscha in der Kirche während der Osternacht und der Prostituierten, die sich dem sibirischen Kaufmanne hingegeben hatte und die heute Morgen verurteilt worden war. Damals war er ein rüstiger, freier Mensch, vor dem sich unendliche Möglichkeiten eröffneten. Jetzt fühlte er sich allenthalben gefesselt durch die Fangnetze eines dummen, leeren, zwecklosen, nichtigen Lebens, aus welchem er keinen Ausgang fand, ja, in den meisten Fällen nicht einmal finden wollte.
Er erinnerte sich, wie er früher einmal stolz auf seine Offenheit und Geradheit gewesen war, wie er sich damals zur Regel gemacht hatte, immer die Wahrheit zu sprechen, und auch wirklich aufrichtig gewesen war, und wie er jetzt ganz in der Lüge steckte, in der entsetzlichsten Lüge, in der Lüge, die von allen Leuten, die ihn umgaben, für Wahrheit ausgegeben wurde. Und es gab aus dieser Lüge keinen Ausweg, wenigstens konnte er ihn nicht sehen. Und er blieb in ihr stecken, gewöhnte sich an sie, fühlte sich wohl in ihr.
Wie sollte er seine Beziehungen zu Marja Wassiljewna, zu ihrem Manne lösen, daß er sich nicht zu schämen brauchte, ihm und seinen Kindern in die Augen zu sehen? Wie sollte er ohne Lüge sein Verhältnis zu Missy lösen? Wie sich heraus arbeiten aus dem Widerspruch zwischen der Ungerechtigkeit des Grundeigentums und dem Besitz des mütterlichen Erbes? Wie feine Sünde Katjuscha gegenüber wieder gut machen? So konnte es doch nicht bleiben. »Ich darf doch eine Frau, die ich geliebt habe, nicht verlassen, und mich damit begnügen, daß ich das Geld dem Advokaten bezahle und sie von der Zwangsarbeit, die sie gar nicht verdient, befreie. Das hieße die Schuld wieder mit Geld tilgen, so, wie ich es damals gethan, als ich geglaubt hatte, daß es so sein müsse!«
Und er erinnerte sich lebhaft des Augenblickes, als er Katjuscha im Korridor eingeholt, ihr das Geld zugesteckt hatte, und dann weggelaufen war. »O, dieses Geld!« dachte er mit demselben Schrecken und Ekel, wie damals, an jenen Augenblick. »O, o! welch eine Scheußlichkeit!« rief er jetzt, wie auch damals aus. »Nur ein Schuft, ein Scheusal konnte das thun! Und ich, ich bin dieser Schuft, dieses Scheusal!« sprach er laut vor sich hin. »Aber bin ich denn wirklich . . . « er hielt im Gehen inne — »bin denn wirklich ich in der That ein Schuft? — Wer denn sonst?« antwortete er sich selbst. »Und ist es denn dieses allein?« fuhr er fort, sich zu überführen. »Sind denn deine Beziehungen zu Marja Wassiljewna und ihrem Manne keine Niederträchtigkeit, keine Schufterei? Und deine Stellungsnahme gegenüber dem Eigentum? Daß du unter dem Vorwande, daß das Geld von der Mutter komme, den Reichtum genießt, welchen du selbst für eine Ungerechtigkeit hältst? Und dein ganzes müßiges Luderleben? Und die Krone von allem, deine an Katjuscha verübte Schandthat? Du Schuft, du Scheusal! Sie, die Menschen, mögen über mich urteilen, wie sie wollen, sie kann ich betrügen, aber mich selbst übertölpele ich nicht!«
Und plötzlich begriff er, daß jener Abscheu, welchen er in der letzten Zeit und besonders heute gegen die Menschen empfand, gegen den Fürsten Kortschagin, gegen die Fürstin, gegen Missy, gegen Kornej, der Abscheu gegen sich selbst war. Und wie seltsam, in diesem Geständnis seiner Niedrigkeit war etwas Krankhaftes und zugleich Freudiges und Beruhigendes.
Nechljudow erfuhr nicht zum ersten Male im Leben das, was er »Seelenwäsche« nannte. Seelenwäsche pflegte er jenen Zustand der Seele zu nennen, da er plötzlich, nach einem größeren Zeitraum, die Verzögerung oder bisweilen auch den Stillstand in seinem inneren Leben erkannte und die Seele von all dem Schmutz zu säubern begann, der durch seine Anhäufung den Stillstand verursacht hatte.
Jedes Mal nach solcher Erweckung stellte Nechljudow sich Regeln auf, die er sich für immer zur Richtschnur nehmen wollte. Er begann ein Tagebuch zu führen und fing ein neues Leben an, welches er nie mehr zu ändern hoffte, — turning a new leaf, wie er zu sagen pflegte.
Aber jedesmal nahmen ihn die Verführungen der Welt wieder gefangen, und ohne es selbst zu merken, fiel er von neuem und zuweilen noch tiefer, als er vordem gestanden hatte.
Auf diese Weise hatte er sich mehrere Mal gereinigt und erhoben; so zum ersten Mal, als er damals den Sommer bei den Tanten verbrachte. Das war damals die aller lebhafteste und begeisterste Erweckung gewesen, und die Folgen derselben hatten lange angehalten. Eine ähnliche Erweckung geschah dann, als er seine staatliche Beamtenstellung aufgegeben hatte und in der Absicht, sein Leben aufzuopfern, während des Krieges in den Militär dienst getreten war. Da war aber die Verschmutzung sehr bald eingetreten. Die darauf folgende und letzte Erweckung war gewesen, als er seinen Abschied genommen, ins Ausland gereist war und sich mit Malerei zu beschäftigen begonnen hatte.
Von da an und bis zum heutigen Tage war eine lange Periode ohne Säuberung verflossen. Und daher war er auch noch nie bis zu einem solchen Grade von Verschmutzung und Zerwürfnis zwischen dem Gebot feines Gewissens und dem Leben, das er führte, gekommen. Und er entsetzte sich, als er den Zwischenraum gewahrte.
Der Zwischenraum war so groß, die Verschmutzung so stark, daß er im ersten Augenblick an der Möglichkeit einer Säuberung verzweifelte. »Ich habe doch schon versucht, mich zu vervollkommnen und besser zu werden, und es ist nichts daraus geworden . . . « sprach in seiner Seele die Stimme des Verführers, »wozu also es noch einmal probieren? Nicht du allein, sondern alle sind so, so ist das Leben«, sagte diese Stimme. Aber jenes freie geistige Wesen, welches allein wahr, allein mächtig, allein ewig ist, war schon in Nechljudow erwacht. Und er konnte nicht umhin, ihm zu glauben. Wie groß sich auch der Unterschied zwischen dem, was er war, und dem, was er sein wollte, erwies, dem erwachten geistigen Wesen erschien alles möglich.
»Ich zerreiße diese Lüge, in die ich verstrickt bin, möge es kosten, was es wolle . . . Ich sage alles und allen die Wahrheit und thue die Wahrheit«, sagte er laut und entschieden. »Ich werde Missy die Wahrheit sagen, sagen, daß ich ein Wüstling bin und sie nicht heiraten kann und umsonst ihre Ruhe gestört habe. Ich werde Marja Wassiljewna, der Frau des Adelsmarschalls — übrigens, ihr brauche ich es nicht zu sagen — ich werde ihrem Manne sagen, daß ich ein Schuft bin und ihn betrogen habe. Mit der Erbschaft werde ich so verfahren, wie es die Wahrheit gebietet. Ihr, Katjuscha, werde ich sagen, daß ich ein Schuft und ihr gegenüber schuldig bin, und ich werde alles thun, was ich kann, um ihre Lage zu erleichtern. Ja, ich werde sie sehen und sie bitten, mir zu vergeben. Ja, ich werde um Verzeihung bitten, wie Kinder bitten . . . «
Er blieb stehen.
»Ich werde sie heiraten, wenn es nötig ist.« Er blieb wieder stehen und faltete die Hände vor der Brust, wie er es als Kind gethan hatte.
Er erhob die Augen und stammelte die Worte des Gebetes:
»Herr, Herr Gott, hilf mir, lehre mich, komme zu mir, Herr, und ziehe in mich ein und läutere mich von allem Übel . . . «
Er betete und bat Gott, ihm zu helfen, ihn zu läutern, und während er dieses that, war das, worum er bat, schon geschehen. Gott, der in ihm lebte, nahm Besitz von seiner Seele. Nechljudow sah nicht nur das Leben bereits frei, rüstig und freudig an, sondern empfand auch die ganze Macht des Guten. Alles, alles Beste, was der Mensch nur thun konnte, fühlte er sich jetzt bereit zu vollbringen.
In seinen Augen standen Thränen, als er sich das alles sagte; gute und schlimme Thränen. Gut waren die Thränen, weil es Thränen der Freude über die Erweckung des geistigen Wesens waren, das alle die Jahre über in ihm geschlummert hatte. Und schlimm waren die Thränen, weil es Thränen der Rührung über sich selbst, über seine eigene Tugend waren.
Ihm wurde heiß. Er trat an das bereits für den nahenden Frühling hergerichtete Fenster und öffnete es. Das Fenster lag zum Garten hinaus. Es war eine stille, frische Mondnacht, auf der Straße rasselte ein Wagen und alles wurde wieder still. Gerade unter dem Fenster sah man den Schatten der entblößten Äste einer hohen Pappel, der in allen seinen Verzweigungen deutlich auf dem Sande eines freien Platzes lag. Links war das Dach eines Wirtschaftsgebäudes, das in dem hellen Mondlicht weiß erschien; vorn verschlangen sich die Äste der Bäume, hinter welchen der schwarze Schatten eines Zaunes lag.
Nechljudow blickte auf den im Mondschein flimmernden Garten, auf das Dach und auf den Schatten der Pappel, horchte hinaus und atmete die frische, belebende Luft ein.
»Wie schön, wie schön! Mein Gott, wie schön!« sprach er von dem, was in feiner Seele war.
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