Kitabı oku: «Ein Sizilianer von festen Prinzipien»
Leonardo Sciascia
Ein Sizilianer von festen Prinzipien
Tod des Inquisitors
Der Mann mit der Sturmmaske
aus dem Italienischen von Monika Lustig unter Verwendung einer Übersetzung von Michael Kraus
Mit einem biographischen Essay von Maike Albath und einer kurzen Abhandlung von Santo Piazzese
Inhalt
Grußwort – Monika Lustig
TOD DES INQUISITORS
Anmerkungen und bibliographische Angaben
Übersetzeranmerkungen
DER MANN MIT DER STURMMASKE
Klarheit, Vernunft und Häresie – Maike Albath
Ironie — ein sizilianisches Instrument des Überlebens – Santo Piazzese
Ein Sizilianer von festen Prinzipien:
Verneigung vor Leonardo Sciascia 8. Januar 1921 Racalmuto – 20. November 1989 Palermo
Monika Lustig
Stella polare … un gigante1. Sein Werk gilt es nun endlich wieder und ganz neu zu lesen, zu entdecken, es gründlich zu erforschen. Seine Linie muss unbedingt fortgeführt werden.2 So und ähnlich feurig klingt es anlässlich des 100. Geburtstags des Maestro di Regalpetra3 – Leonardo Sciascia.
Seine Linie, das ist der mit den Waffen der Literatur geführte Kampf um eine gerechte und freie Gesellschaft unter dem Spannungsbogen »Sizilien – Metapher der Welt«. Er, Sciascia, ein unbestechlicher europäischer Aufklärer, ein Mann von fester Überzeugung4, die Wurzeln tief versenkt im schwefelhaltigen Gestein seiner Insel und dem Meer, ja dem Meer stets den Rücken zugekehrt.
Mit diesem Buch, ein pensierino5 zum festlichen Anlass, wagen wir in diesem Sinne einen kämpferischen Schritt und veröffentlichen erstmalig in deutscher Übersetzung zwei seiner historischen Essays (oder literarischen Fallbeschreibungen), entstanden und veröffentlicht in unterschiedlichen Schaffensphasen, zusammengehalten von der thematischen Klammer Inquisition und Folter, die sich wie ein blut- und feuerroter Faden durch Sciascias Werk zieht6. Tod des Inquisitors (Morte dell’inquisitore, 1964) ist der erste, und gewidmet hat Sciascia »sein kleines Buch den Racalmutesern, den lebenden und den toten, von fester Überzeugung«.
Es kreist um den Fall des rebellischen Augustinermönchs Fra Diego La Matina, Sciascias Held, sein idealer Mitbürger aus fernen Zeiten, welcher im Jahr 1657 unter der spanischen Inquisition in Sizilien (1479–1782), einem regelrechten Anti-Staat7, nach mehreren Schauprozessen, wiederholten Galeerenstrafen, Folter und Hohn seinem Peiniger, dem hochwürdigen Inquisitor Juan López de Cisneros mit eisernen Handschellen den Schädel einschlägt. Vom Heiligen Offizium in Palermo nach allen Regeln der Kunst inquisiert und der Seelenhygiene zugeführt, weigert er sich, seine Seele zu retten. Unablässig theologisch argumentierend verschleißt er eine gehörige Anzahl an hochgelehrtem inquisitorischem Personal und schwört auch angesichts des Feuertods nicht ab. Er ist: »Ketzer nicht angesichts der Religion (die [die Sizilianer] auf ihre Weise befolgen oder nicht befolgen), sondern angesichts des Lebens«. Er hält die Menschenwürde hoch: blieb unerschütterlich:/ er verzog keine Miene, hielt den Hals starr und den Oberkörper steif (Dante). Die vermeintliche Häresie, das wird im Laufe der Einkreisung des Falls deutlich, ist sozialer, politischer Natur, ist eine evangelische und damit höchst gefährliche, umstürzlerische Auslegung des rechten Glaubens.
Tod des Inquisitors war Sciascias liebstes, ihm »teuerstes Werk, ein nicht abgeschlossenes«, über das er sich wieder und wieder den Kopf zerbricht, das er versucht ist, immer neu zu schreiben, und es doch nicht tut. Er wird es nie zu Ende schreiben, wartete er doch immerzu auf ein neues Indiz, eine Erkenntnis, die ihm plötzlich aus den vertrauten Dokumenten hell ins Auge scheint. Doch – ging es ihm tatsächlich und ausschließlich um solch ein faktisches Element?
Wir schließen auf zu diesem Nicht-Abgeschlossenen, erkennen das Offene, das Non-finito als politische Ansage: Über den historischen Rahmen des Terrorregimes der spanischen Inquisition hinausgehend ist mit dem Offenen die Inquisition als solche gemeint. Die Inquisition als grausames, menschenverachtendes System, das immer präsent und perpetuierbar bleibt. Und dazu längst auf keinen religiösen Glauben mehr Bezug zu nehmen braucht. Die Beunruhigung, die diese Erkenntnis bei Sciascia auslöst, hat sich offen und wellenförmig ausgebreitet. Die Wellen seiner Beunruhigung reichen ins Hier und Heute, erfassen uns mit Wucht.
»Ich habe mich für die Inquisition interessiert, weil diese weit davon entfernt ist, nicht mehr in der Welt zu existieren«, kommentiert Sciascia die Herausgabe seines Werks und leitet damit über zum zweiten Essay:
Der Mann mit der Sturmmaske. Eine literarische, schmerzhafte Nachzeichnung des Bekenntnisses (oder Geständnisses) vor dem Solidaritätsvikariat in Santiago de Chile eines nach dem Pinochet-Staatsstreich wendehälsigen Chilenen: Unerkannt hinter seiner Maske deutet er im Stadion, ein riesiges Gefangenenlager unter freiem Himmel, auf ehemalige Genossen, deren Identität den Militärs und Folterknechten längst bekannt ist. Mit dem Fingerzeig auf sie fällt er vermeintlich ihr Todesurteil. Das längst feststeht, er muss es angeblich um den Preis des eigenen Lebens mit seiner Geste bekräftigen und steigert so die Perfidie ins Unerträgliche. Von dieser Last nun meint der Verräter sich durch ein Geständnis befreien zu können; doch letztlich wird aus seiner Anhörung eine abscheuliche Feier der Selbstrechtfertigung.
»Man wollte mit dem Mann mit der Sturmmaske ein unauslöschliches, übermächtiges Abbild des Terrors schaffen. Des Terrors der Denunziation ohne Gesicht, des Verrats ohne Namen. Man wollte mit Vorbedacht und makabrem Scharfsinn das Gespenst der Inquisition heraufbeschwören, das einer jeden Inquisition, das der ewigen und immer raffinierteren Inquisition.«
Der Fall des Fra Diego, den Sciascia mit ironisch-kritischen Kommentaren und nachhallenden Fragen zu den jeweiligen Dokumenten – in die Kerkerwände des Palazzo dello Steri eingeritzte Zeugnisse der Eingekerkerten, Folterprotokolle, seriöse, aber auch tendenziöse Geschichtsbücher, bis hin zu phantasieschäumenden Romanzen – einkreist, wird uns wie ein Sezierwerkzeug in die Hand gegeben. Und der Auftrag lautet: die Machtstrukturen unserer Zeitgeschichte bloßzulegen: die eines Systems8, das aufbaut auf einer mit subtilen und unkontrollierbaren Mitteln betriebenen Entfremdung des Menschen von der, von seiner Natur als vernunftbegabtem, mit kritischem Geist, kommunikativer Vernunft, moralischer Urteilsfähigkeit ausgestattetem Wesen. Angefangen bei der Ausschaltung des buon senso, des gesunden Menschenverstands.
»Selbst die Existenz eines so törichten, alles andere als heiligen Tribunals [das Heilige Offizium] war nur möglich, weil es in seiner Umgebung an jedweder intellektuellen Kraft fehlte. In Wirklichkeit gab es keinerlei Häresie, die zu bekämpfen gewesen wäre9.«
Heldenhaft wäre heute also die Belebung der dem Menschen innewohnenden Kräfte: Vernunft und Kritikvermögen, Zweifel. Mit kritischem Blick tief unter die Oberfläche dessen zu schauen, was wir vor Augen haben, es bis auf die Wurzeln freizulegen. Immer im Bewusstsein der eigenen Wurzeln.
Die Menschenwürde wieder hochhalten, so lautet Sciascias Lektion.
Sciascia erhob seine Stimme an vielen Orten, im literarischen Schreiben, aber auch in den Medien und der aktiven Politik. Als Mitglied der parlamentarischen Ermittlungskommission zur Entführung und Ermordung von Aldo Moro verkündete er 1980 auf dem XXIV. Kongress des Partito Radicale: »[…] leider kann ich nicht zwei Dinge zugleich tun. Und wie ihr seht, aufgrund der Tatsache, mein Amt als Abgeordneter ausüben zu müssen, schreibe ich nicht. Seit über einem Jahr gelingt es mir nicht mehr zu schreiben …« So verließ er Palazzo Montecitorio wieder, also auch den transatlantico, die Wandelhalle, in der die eigentlichen politischen Entscheidungen verabredet werden. Seine unerbittliche Analyse, seinen politischen Verstand, sein moralisches Urteil ließ er weiterhin als geschätzter wie gefürchteter Kommentator in die großen italienischen und internationalen Zeitungen einfließen.
Vermutlich in einer von ihnen bin ich zum ersten Mal auf seinen Namen gestoßen, nachdem ich 1979 auf einer anderen Mittelmeerinsel gelandet war, erste Etappe einer einundzwanzigjährigen italienischen Reise. Kaum dass ich Italienisch lesen konnte, füllte sich mein wanderndes Bücherregal mit Sciascias Romanen und Erzählungen. Heute, angegriffene Preziosen meiner Lehrjahre in der fernen Heimat, stehen sie neben der viele tausend Seiten umfassenden Gesamtausgabe in blauem Leinen; daneben das teilweise auch von mir übersetzte Werk von Sciascias größter Entdeckung als Herausgeber im Verlag Sellerio editore Palermo: der unvergessliche Andrea Camilleri.
Als ich 1993, ein Jahr nach der Ermordung der beiden Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, zum ersten Mal meinen Fuß auf sizilianischen Boden setzte, spürte ich unmittelbar jene vielschichtige arabische Atmosphäre, auf den Märkten, in den Palazzi, in den Gärten, in den Gassen mit ihrem unverwechselbaren Licht. Ich kam trotz der Tragik der, wie viele meinten, vorhersehbaren Ereignisse in den Genuss der Zeugnisse architektonischer und künstlerischer Glanzleistungen: die Zisa, die Chiesa San Giovanni degli Eremiti in Palermo, aber auch die Normannenkathedralen in Monreale und in Cefalù, die stolz ihr arabisches Vermächtnis herzeigen. Ich speiste Couscous in Trapani, kostete in Castelbuono von einem der Produkte der rivoluzione agricola musulmana, der sich die heute nicht mehr wegzudenkenden Reben, Agrumen, Pistazien verdanken – nämlich von dem weißen Pülverchen der Manna-Esche, dem allerlei magische, aphrodisische Wirkung zugeschrieben wird.
Und irgendwann leuchteten die Zeilen von Leonardo Sciascia hell in mein Denken: »Ich habe das Gefühl, dass meine Geburt meinem Aufenthalt hier [in Racalmuto] nachgeordnet ist. Ich war bereits da und wurde dann erst geboren. Es scheint mir, als wüsste ich von meinem Heimatort viel mehr als das, was mein Gedächtnis bewahrt hat und das, was mir andere erzählt haben: etwas Geträumtes, Visionäres, wovon in Fetzen und Fragmenten nicht nur das gegenwärtig ist, was die kurze Genealogie meiner Familie mir vermitteln konnte, sondern auch die gesamte arabische Geschichte des Städtchens. Der Grund dafür ist sehr einfach: Mein Aufenthalt an diesem Ort, und zwar der vor meiner Geburt, beginnt mit den Arabern und durch die Araber.«
Wie tief das arabische Erbe in die Insel eingesickert ist, schildert Sciascia in seinem historischen Roman Das Ägyptische Konzil (Il Consiglio d’Egitto, 1963) um den genialen Fälscher, den maltesischen Mönch Giuseppe Vella, gemeinhin bekannt als der »Arabische Betrug«. Er gilt vielen als sein schönstes Werk und ist ein großartiges, von Ironie getränktes Lehrstück über die Pflicht, uns die Errungenschaften der Zivilisationen – insbesondere die in unverständlichen Sprachen geschriebenen gründlich und mit unverstelltem Blick zu erschließen. Die Folterszene, Opfer der Rechtsgelehrte, der große Aufklärer und jakobinische Verschwörer, Francesco Paolo di Blasi, ist messerscharfe Peinigung für einen humanistischen Geist. Mit großem Gewinn habe ich Das Ägyptische Konzil 2016 für die Andere Bibliothek als Band 377 neu übersetzt.
Sciascias genealogische Festschreibungen reichen weit über seine arabische Vergangenheit hinaus, wenden sich ins Universale. Beim Betrachten des Portraits eines Unbekannten von Antonello da Messina (sein Lieblingsmaler, heute im Museo Mandralisca in Cefalù) schlagen diese eine sozusagen globale Ausrichtung ein. Vincenzo Consolo (1933–2012) hat jenen Unbekannten in seinem Roman Das Lächeln des unbekannten Matrosen (dt. 1996) zu beunruhigendem Leben erweckt.
Diskussionen um die Identität des Mannes, vielleicht gar Symbol eines universellen italienischen Charakters, um die Bedeutung seines Blicks, seiner erotischen Kraft, um das Zweideutige, die sicilianità, hielt Sciascia entgegen: »Wem ähnelt der Unbekannte aus dem Museum Mandralisca? Dem Mafioso vom Land und dem der besseren Viertel, dem Abgeordneten auf den Bänken der Rechten und dem auf denen der Linken, dem Bauern, dem Staranwalt. Er ähnelt dem, der diese Zeilen schreibt (so wurde ihm gesagt) und bestimmt ähnelt er Antonello. Und versucht einmal, den sozialen Stand und das besondere Menschsein dieses Charakters zu bestimmen. Unmöglich. Handelt es sich um einen Adligen oder einen Mann aus dem Volk? Einen Notar oder einen Bauern? Einen ehrlichen Mann oder einen Gauner? Einen Maler Dichter Meuchelmörder?
›Er ähnelt‹, das ist alles.«
1Leitgestirn; ein Gigant.
2Fabio Stassi, zeitgenössischer sizilianischer Autor im Gespräch.
3Titel der bekannten Sciascia-Biographie von Matteo Collura, Mailand 1996.
4Sciascia gehört als Racalmuteser zu den uomini di tenace concetto, wie er sie selbst definiert.
5Kleine Aufmerksamkeit.
6Titus Heydenreich, Die Inquisition in Siziliens Geschichte und Literatur, Tübingen 1987.
Dafür steht auch Sciascias Vorwort zu Alessandro Manzonis Storia della colonna infame (Palermo, 1981). (Geschichte der Schandsäule, aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, mit einem Vorwort von Umberto Eco und einem Nachwort von Michael Stolleis, Mainz 2012, jedoch ohne Sciascia-Vorwort.) Manzoni rekonstruiert darin auf der Grundlage zeitgenössischer Quellen einen Kriminalprozess in Mailand 1630: Zwei angebliche »Pestsalber« sollen, um die Seuche zu verbreiten, die Mauern mit giftigen Substanzen beschmiert haben. Sie wurden aufgrund von unhaltbaren Anschuldigungen gefoltert, verurteilt und auf unvorstellbar grausame Art hingerichtet. Die Schandsäulen dann errichtet anstelle ihrer zerstörten Häuser.
7Diesen Begriff entnehmen wir dem Buch von Francesco Renda, L’Inquisizione in Sicilia, (Palermo, 1997); sinngemäß heißt es im Vorwort: »Die Macht der spanischen Inquisition innerhalb des sizilianischen Staatsgefüges war nicht verfassungskonform oder stand jedenfalls über der Verfassung. Der Anti-Staat missbrauchte seine Macht gegenüber dem Staat. Der theokratische – katholische – absolutistische Staat, die spanische Monarchie, stellte sich dem laizistischen Staat entgegen, der gegenüber den Forderungen der Moderne auf andere Weise offen war. Was in Sizilien ausgefochten wurde, war kein lokales Streitgeplänkel, sondern ein Aspekt und ein Moment des ideologischen und politisch-religiösen Kampfes, der seine Wurzeln sehr tief in der spanischen Geschichte versenkte.«
8Wäre es nicht absolut irreführend, könnte man auch die Begriffe »Supermacht« und »global« mitdenken, aber in Zeiten der Verschwörungstheoretiker wird ja gefährlicherweise wenig gedacht.
9Américo Castro, España en su Historia – Cristianos, moros en judíos, Madrid 1948.
Tod des Inquisitors
Vorwort*
Um es gleich zu bekennen: Diese kurze essayartige Erzählung über ein Ereignis und eine Person der sizilianischen Geschichte, die fast vergessen sind, ist mir das Teuerste von allem, was ich geschrieben habe, und das Einzige, was ich immer wieder lese und worüber ich mir den Kopf zerbreche. Der Grund: Es ist tatsächlich ein nicht abgeschlossenes Buch, eines, das ich nie abschließen werde, das ich immer neu zu schreiben versucht bin, und das ich doch nicht neu schreibe, solange ich darauf warte, noch etwas zu entdecken: ein neues Dokument, eine neue Erkenntnis, die aus mir längst vertrauten Dokumenten aufscheint, irgendein Indiz, eine Eingebung in einem Zustand zwischen Traum und Wachen, wie es Simenons Maigret widerfährt, wenn eine Ermittlung ihn nicht mehr loslässt. Doch abgesehen von dieser Leidenschaft für das noch ungelüftete Geheimnis, das zu lüften mir noch nicht vergönnt ist, muss hier Folgendes vermerkt werden: Mein kleiner Text hat um sich herum so etwas wie ein Vakuum erzeugt, hinter dem Misstrauen, Verärgerung und Groll stehen.
Als ich voriges Jahr in Spanien in den Antiquariaten nach Werken über Azaña und eben auch nach Werken über die Inquisition suchte, musste ich feststellen, dass die Buchhändler nicht mit der Wimper zuckten, wenn ich nach Büchern über den letzten Präsidenten der Republik fragte, jedoch erstarrten, wenn sie die Frage nach Büchern über die Inquisition hörten. In Barcelona ließ sich ein Buchhändler zu der vertraulichen Erklärung hinreißen, dass es heutzutage nicht mehr riskant sei, Bücher über die Republik oder Persönlichkeiten wie Azaña vorrätig zu haben und zu verkaufen (im Übrigen waren in den Schaufenstern sämtlicher Buchhandlungen Das Kapital und die Briefe von Gramsci ausgestellt), was aber die Inquisition angehe, da sei Vorsicht geboten. Und wie es so scheint, ist auch in Italien Vorsicht geboten, denn allerorts gibt es in Sachen Inquisition (nicht die als Institution, sondern Inquisition als Prinzip, als System) Personen und Einrichtungen, die einen »Schwanz aus Stroh« oder »nasse Kohlen«, also Dreck am Stecken, etwas zu verbergen haben: zweifelsohne treffende Redensarten, denkt man an die schönen Feuer von einst. Und da kommt einem die Stelle in den Brautleuten in den Sinn, wo der Mesner auf den Hilferuf Don Abbondios hin Sturm läutet, und jedem der beiden Spitzbuben, die in Lucias Haus im Hinterhalt liegen, »ist, als höre er in diesen Glockenschlägen seinen Namen samt Zu- und Beinamen rufen«. Genauso geschieht es, sobald man das Thema Inquisition anschlägt: Viele Ehrenmänner hören sich sogleich bei Vor- und Nachnamen nebst ihrer Parteibuchnummer aufgerufen. Und ich spreche, das versteht sich, nicht nur von Ehrenmännern katholischen Glaubens. Die Menschheit hat weitere Formen der Inquisition erduldet und erduldet sie noch immer, weswegen, wie der Pole Stanisław Jerzy Lec sagt, die Klugheit danach verlange, nicht über den Strang zu sprechen, weder im Haus des Erhängten noch im Haus des Henkers.
Die Wirkung also, die Tod des Inquisitors auf diese Ehrenmänner gehabt hat, die Überheblichkeit, mit der sie darüber gesprochen oder geschwiegen haben, ist der andere Grund, weshalb mir dieses Buch so am Herzen liegt.
Bleibt noch zu sagen, dass ich unter Befolgung der Hinweise, die mir meine Leser großzügigerweise haben zukommen lassen, einige Korrekturen am Text vorgenommen sowie eine Anmerkung über eine kürzlich gemachte Entdeckung im Palazzo dello Steri in Palermo, dem früheren Sitz der Inquisition, hinzugefügt habe.
1967 – Leonardo Sciascia
Desgleichen berichten wir Euch von den Angelegenheiten der Inquisition und benennen Euch die Schäden, entstanden infolge des Durcheinanders, das der Inquisitor und seine Beamten in diesem Königreich verursachen, zuvörderst hinsichtlich der Art und Weise ihres Vorgehens, und dass wir keinerlei Mittel haben, um uns dagegen zur Wehr zu setzen, also dem größten Chaos der Welt in dieser Stadt ausgeliefert sind, und dass der Inquisitor zusammen mit all den Seinigen nur darauf aus ist, Geld herauszuschinden, nichts sonst. Desgleichen sagen wir Euch, dass wir nie im Leben mit dieser Inquisition einverstanden sein werden …
Der Senat von Palermo
an Antonello Lo Campo, Botschafter bei Karl V.
Pacienza Pane, e tempo
Diese Worte (Geduld / Brot und Zeit), eingeritzt in die Wand einer Zelle des Palazzo Chiaramonte, Sitz des Heiligen Offiziums von 1605 bis 1782, gelingt es Giuseppe Pitré im Jahr 1906 zu entziffern, neben anderen Worten der Verzweiflung, der Angst, der Warnung, der Bitte – zwischen Bildern von Heiligen, von Allegorien, von erinnerten oder erträumten Dingen.
Hab stets den Tod im Sinn.
Auf Erden gibt es doch kein Mittel dagegen.
Sei dir bewusst, hier ziehen sie mit dem Seil hoch und …
Behalt’s im Kopf, hier geben sie das Seil …
Seid gewarnt, hier geben sie als Erstes das Seil …
Denk daran, du bist eben erst angekommen.
Bist du unschuldig, so lade keine Schuld auf dich;
hast du gefehlt, versuche nicht, dich zu entschuldigen;
offenbare die Wahrheit und vertraue auf den Herrn.
Stell dich dumm.
Tod, wo ist dein Sieg?
Drei Zellen voller Inschriften und Zeichnungen, in zwei und mehr Schichten übereinander. Pitré brauchte sechs Monate, um sie zu entziffern, sie zu deuten, sie zuzuordnen; und sein Werk Del Sant’Uffizio a Palermo e di un carcere di esso (Über das Heilige Offizium in Palermo und einen seiner Kerker) war noch nicht endgültig fertiggestellt, als er zehn Jahre später starb (und die posthume, von Giovanni Gentile besorgte Veröffentlichung ist auch noch höchst mangelhaft gedruckt1). Bereits im fortgeschrittenen Alter legte er eine beeindruckende Arbeit über ein beeindruckendes Thema vor; über ein finsteres, namenloses, ungestaltes Drama, und mit Geduld und Hingabe gelang es ihm, einige Gesichter, einige Namen zu Tage zu fördern: den Gelehrten Francesco Baronio (oder Barone), den Dichter Simone Rao. Dem ersten schrieb er bestimmte Heiligenbilder zu, nebst knappen und klaren hagiographischen Erklärungen und Gebeten in lateinischen Distichen; dem zweiten einige im Dialekt verfasste Achtzeiler voller Trostlosigkeit und Verzweiflung. Wie dieser:
Cui trasi in chista orrenda sepultura
vidi rignari la [gran] crudeltati
unni sta scrittu alli segreti mura:
nisciti di spiranza vui chi ntrati;
chà non si sapi s’agghiorna o si scura,
sulu si senti ca si chianci e pati
pirché non si sa mai si vena l’hura
di la desiderata libertati.
(Wer auch immer in dieses schreckliche Grab geworfen
sieht (große) Grausamkeit an der Macht
wo an den Mauern im Verborgenen steht geschrieben:
Lasst fahren alle Hoffnung ihr, die ihr eintretet;
hier weiß niemand, ob es tagt oder dunkelt,
Weinen und Wehklagen nichts sonst sind zu hören,
denn niemand weiß, ob je der ersehnten
Freiheit Stunde kommen wird.)
Wie es aussieht, wussten weder Simone Rao noch die anderen Gefangenen, die an den Wänden der Verliese Zeugnis ihrer Gefühle und Gedanken hinterlassen haben (Pitré nennt diese Inschriften und Zeichnungen Kerker-Palimpseste), die Annehmlichkeiten, die das Heilige Offizium ihnen bot, richtig zu schätzen; hält man sich an die folgende Darstellung, so waren sie gar Verrückte, nicht anders als jene, die heute ihre Namen und Einfälle an den Wänden berühmter Monumente oder öffentlicher Toiletten hinterlassen.
Die Gefängnisse der Inquisition waren nie die finsteren Verliese, wie man sie sich vorstellt; sie bestanden aus geräumigen, hellen, sauberen und möblierten Zellen. In vielen Fällen brachten die Gefangenen ihr eigenes Mobiliar dorthin mit, und denen, die darum ersuchten, war stets der Gebrauch von Büchern, von Papier und Schreibutensilien gestattet.
Worte, die nicht etwa vom letzten Inquisitor oder einem seiner familiari stammen, sondern von einem unserer Zeitgenossen, dem spanischen Schriftsteller Eugeni D’Ors i Rovira, zu finden in einem Buch mit dem Titel Epos de los destinos2: heldenhafte Einzelschicksale, die zusammenfließen im spanischen Heldenschicksal und Spaniens Schicksal formen, es in seinem Wesen begründen. Eines dieser Schicksale ist das des Kardinals [Francisco] Jiménez de Cisneros: Regent von Kastilien beim Tod Ferdinands des Katholischen, Großinquisitor, Gründer der Universität von Alcalá de Henares; eine Hand, wie sich D’Ors in seiner Sprache ausdrückt, die Spanien die Luft zum Atmen genommen hat, ihm aber zur gleichen Zeit eine Stütze war. Wie man aber gleichzeitig einem lebendigen Wesen die Luft zum Atmen nehmen und ihm eine Stütze sein kann, ist ein Geheimnis der Prosa (des Denkens können wir nicht sagen) von D’Ors. Eine Hand, die ein Leben erstickt, hält nichts anderes als einen Leichnam, es sei denn, es fehlt ihr an Kraft, das Werk zu vollbringen. Der Begriff des Erstickens scheint uns daher bei Américo Castro besser erklärt:
Die Inquisition war eine lang andauernde
Heimsuchung, sie machte die intellektuelle Wissbegier
der Spanier noch dürftiger, doch es gelang ihr nicht,
auch nur einen großen Gedanken zu ersticken, der dem
lebendigen Herzen dieses Volkes entstammte3.
Es gelang ihr nicht: So ist es gut. Aber kehren wir zurück zu Pitré, der vom Heiligen Offizium und seinen Kerkern durch eigene Anschauung eine ganz andere Vorstellung hatte als D’Ors.
Die Inschrift Geduld / Brot und Zeit kommentiert er folgendermaßen:
Drei Sachen, die leider unabdingbar sind, um nicht zu verzweifeln, um leben und abwarten zu können; in ihnen braucht man keine andere Bedeutung als die offenherziger Schicksalsergebenheit zu suchen, denn der Gedanke an Vergeltung oder Rache am Tribunal wäre Wahnvorstellung eines kranken Geistes gewesen. Dergleichen Gedanken wird es zwar zu jener Zeit, nicht aber an diesem Ort gegeben haben.
Und doch hat Pitré in der Einleitung zu seiner Studie an einen Mann erinnert, der fähig war, just an diesem Ort Gedanken an Vergeltung und Rache zu hegen: Fra Diego La Matina aus Racalmuto. Nicht nur war er zu solchen Gedanken fähig, sondern setzte sie auch um, und das zum persönlichen Schaden des Inquisitors, des Durchlauchtigsten Herrn Don Juan López de Cisneros.
Mittwoch, den 4. [April 1657]. Begraben ist in der Chiesa Santa Maria degli Angeli der Barfüßerpatres, genannt la Gangia, der Durchlauchtigste Herr Don Juan López Cisneros, Inquisitor in diesem Königreich Sizilien; dem, als er sich in die Geheimverliese des höchsteigenen Palastes der Inquisitoren begab, um nach einigen der Eingekerkerten zu sehen, ein Mönch mit Namen Fra Diego La Matina aus der Gegend von Racalmuto entgegenkam, vom Reformierten Orden des heiligen Augustinus, genannt die Patres der Madonna vom Felsen; und mit wahrhaft teuflischem Ansinnen zerbrach dieser die Handschellen, die er um die Handgelenke trug, und versetzte ihm mit ebenjenen Eisen viele Schläge, insbesondere zwei tödliche, einer gegen die Stirn und den anderen, heftigeren, auf den Schädel, an welchen er [später] denn auch verstarb. An diesem Tod nahm die ganze Stadt mit Tränen und Trauer Anteil, weil der Fall so ungewöhnlich war, hatte doch dieser Herr den Tod gefunden durch die Hand eines so barbarischen und grausamen Menschen. Da lief viel Volk zusammen, ihm die Hände und die Füße zu küssen, denn er galt nun bei allen als Märtyrer, gestorben für den christlichen Glauben, als er hinging, diesem ruchlosen Menschen, der wegen Häresie dort war, einen Besuch abzustatten, und zwar zu keinem anderen Zweck, als ihn über seine Verfehlungen zu belehren und ihn der wahren Buße für sein Seelenheil zuzuführen, wie auch dem Heil seines Leibs durch Verpflegung oder andere Dinge, die er brauchte. Doch jener, unbelehrbar in seiner Verdammnis, getrieben von den Furien der Hölle, erhob die Hände gegen den, der als Verteidiger gegen die Feinde Gottes und als deren Vernichter galt, und zwar dergestalt, dass er ihn auf der Stelle getötet hätte, wären nicht zufällig andere Personen hinzugekommen. Trotz alledem war der fromme Herr mit seinem wahrlich unübertrefflichen Herzen nicht nur unwillig, sich für dieses schmähliche Unrecht zu rächen: Er ließ während der ganzen Zeit seiner Bettlägrigkeit stets bewundernswürdige Anzeichen nicht nur von Vergebung, sondern auch von außerordentlicher Liebe für den Gottlosen erkennen: So bat er alle, ihn nicht zu misshandeln, ja ihm Gutes zu tun, um es ihm eine Pflicht sein zu lassen, seine Missetaten zu bereuen. Das trug dem Inquisitor ein so herausragendes Lob ein, dass man gemeinhin der Ansicht war, er sei heiter und festlich gestimmt als wahrer Märtyrer gestorben, als ihm von jener Hand der Tod zuteil ward, was ihm, wie wir zweifelsohne glauben, im Himmel ein ewiges Leben bescherte, wohin er aufgestiegen ist mit dem schönen Lorbeerkranz des Märtyrers, purpurrot vom eigenen Blute …
Diese Notiz ist dem Tagebuch des Doktor Vincenzo Auria4 entnommen: eines Mannes, der so eng mit dem Heiligen Offizium verstrickt war und bei den Inquisitoren ein so hohes Ansehen genoss, dass es ihm gelang, eine Häresie aus der Behauptung zu machen, der selige Agostino Novello sei in Termini geboren, eine Behauptung, die seiner Entscheidung zuwiderlief, die Geburtsrechte des Seligen der Stadt Palermo5 zu schenken (so seine Worte). Als er aber diese Notiz niederschrieb, war, um bei der Wahrheit zu bleiben, die Streitfrage um den Seligen noch gar nicht aufgekommen: Gleichwohl wird es sehr gewichtige Gründe für seine Dankbarkeit gegenüber dem Heiligen Offizium gegeben haben, dessen familiare er war, wie so viele andere auch (im Jahr 1577 schätzte der Vizekönig Marco Antonio Colonna die Zahl der familiari in Sizilien auf vierundzwanzigtausend: alle Reichen, Adligen und die reichen Verbrecher6).
Doktor Auria ist also bemüht, uns über die zweifelsfreie Heiligkeit von Monsignore de Cisneros hinaus einen Ort vor Augen zu führen, der dem später von Eugeni D’Ors beschriebenen nicht unähnlich ist: ein Kerker, in dem die Gefangenen mit einer gewissen Freiheit umherwandeln, sich ungehindert dem Inquisitor nähern, der kommt, um sich zu erkundigen, wie es denn um ihre Verpflegung bestellt sei und ob sie Klagen oder Wünsche vorzubringen hätten. Das Detail der Handschellen aber macht die idyllische Vision zunichte. Vielleicht hatte man vergessen, sie ihm abzunehmen, vielleicht dachte der Inquisitor just in dem Moment daran, es zu tun: Fest steht, Fra Diego hatte diese Eisenklötze an den Händen. Zum Unglück von Monsignore de Cisneros.