Kitabı oku: «Viktor»

Yazı tipi:

Levi Krongold

Viktor

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Buch:

Danksagung:

Die Dissidenten

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Die Infiltration

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Lion

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Weitere Romane von Levi Krongold

Impressum neobooks

Das Buch:

Levi Krongold

Viktor

Science-Fiction-Roman

Levi Krongold, Psychiater und medizinischer Gutachter eine. »Überwachungsbehörde für Personenschutz« wird mit einem dubiosen Fall betraut. Er soll die offenbar schizophrene Klientin »Suzanne Montenièr« auf ihre geistige Zurechnungsfähigkeit und Konformität mit gesellschaftlich erwünschten Gedankengut überprüfen. Merkwürdigerweise interessiert sich jedoch auch die Sicherheitsabteilung des Geheimdienstes für diese Dame. Als er den Kontakt mit der Klientin aufnehmen will, gerät er durch eine Intrige unversehens in die Hände einer Gruppe, die die herrschende autoritäre Staatsmacht stürzen möchte, die Dissidenten. Dort hat ein mysteriöser »Viktor« das Sagen und dann ist da noch diese hübsche Montenièr!

Danksagung:

Für ihre freundliche und hilfreiche Unterstützung danke ich Frau Klaudia Jacobs, Dr. Frank Weinreich, Frau Angela Volknant und Herrn Peter Lankes, die mir hilfreiche Anregungen zur Fertigstellung dieses Romans gaben.

Widmung:

Dieses Buch widme ich auf dessen ausdrücklichen Wunsch Raskovnik, der mich bereits durch alle meine früheren Romane begleitet hat.

Die Dissidenten
1. Buch

Ich weiß auch nicht, welcher Teufel mich reitet!

Ich schreie die Frau an, die neben mir auf der kleinen Steinmauer vor der Tankstelle sitzt, um den Verkehrslärm der Hauptstraße zu übertönen.

»Ich würde gerne zu Ihnen sagen, dass Sie mir als Frau durchaus sexuell sehr reizvoll erscheinen. Ich könnte mir sogar vorstellen, mit Ihnen drei oder vier Kinder zu zeugen. ...... Leider fürchte ich, dass Sie diese mit ihrer Macke so neurotisieren würden, dass ich von vornherein Bedenken hätte, sie könnten sich niemals zu gesunden, stabilen Menschen entwickeln. Deshalb sage ich es nicht!«

Sie lächelt ein feines unsicheres Lächeln, während sie sich bemüht, die Bedeutung der Satzfetzen zu entschlüsseln, die rumpelnde Lastwagen, wütend hupende Pkws und lautstarke Werbeansagen der allgegenwärtigen überdimensionalen Infotafeln zu ihr durchlassen. Ich rücke den »Applikator«, ein ringförmiges, an einen Heiligenschein erinnerndes Gerät, das auf einer Art Kopfhörer montiert ist, wieder gerade, da er mir bei der jähen Kopfwendung zur Seite in die Stirn zu rutschen droht. Auch sie trägt diese Spule über der Stirn, doch ihr steht sie deutlich besser als mir, finde ich.

Sie sitzt neben mir, ein wenig in sich zusammengesunken in ihrer unförmigen Armeejacke, die jede Körperform retuschiert. Ihre Augen suchen die Worte von meinen Lippen zu lesen, um einen Sinn in der Kakophonie von Lärm und Sprache zu finden. Ihr schlankes Gesicht mit den kurzen mittelbraunen Haaren wirkt fast unscheinbar, doch es sind die Bögen ihrer Augenbrauen und die weibliche Wangenpartie, der Ausdruck ihrer großen verwirrten Augen, die mich gefangen nehmen.

Als sie mich anlächelt und dabei eine Reihe hübscher weißer Zähne entblößt, weiß ich, dass sie kein Wort verstanden hat oder so tut, als ob sie nichts verstanden hätte. Immerhin wird sie nicht böse und springt nicht mit einem Fluch auf den Lippen auf.

»Können wir das jetzt wieder abnehmen?«, schreie ich und weise auf die Apparatur auf meinem Kopf. Sie winkt entschieden, fast panisch ab.

Es ist immerhin erstaunlich, dass uns noch niemand aufgespürt hat, das muss ich zugeben. Sitzen wir doch nun schon mindestens eine halbe Ewigkeit an dieser exponierten Stelle. Wenigstens einer der versteckten Sensoren in der Umgebung hätte Alarm schlagen müssen, weil wir uns nicht ordnungsgemäß weiterbewegen. Sie hätten die Ordnungskräfte in unsere Richtung lenken müssen, um uns zum Weitergehen aufzufordern oder uns einer intensivierten Personenkontrolle zuzuführen.

Aber nichts dergleichen geschieht. Statt dessen sind Gefühle in mir erwacht, die ich von früher kannte, als das hier alles noch nicht so war, wie es jetzt ist. Angenehme Gefühle, unerwünschte Gefühle, sozial geächtete Gefühle.

Sie schaut mich erwartungsvoll an, ein Blick den ich nicht deuten kann. Denkt sie über meine Worte doch nach, hat sie die Botschaft empfangen? Sie öffnet den Mund und muss wohl etwas gesagt haben, was ich nicht verstehe. Ich lehne mich zu ihr hinüber, um sie besser hören zu können, dabei rutscht de. »Applikator« von meinem Kopf. Erschrocken springt sie auf und bekommt ihn zu fassen, bevor er zu Boden rutscht und Gefahr läuft, beschädigt zu werden. Schnell setzt sie ihn mir wieder auf die Stirn. Dabei kommt mir ihr Gesicht so nah, dass ich meine, ihre Lippen auf meinen Wangen zu spüren. Einen kleinen Moment halten wir beide erschrocken inne.

»Kommen Sie, schnell, wir müssen jetzt hier weg!«, sagt sie entschieden und zieht mich am Ärmel hinter sich her.

Die Wohnung, die wir wenig später im soundsovielten Stockwerk eines verlassenen Bürogebäudes betreten, ist nahezu unmöbliert. Kabel mit blanken, kupferglänzenden Enden hängen wie in den Raum greifende Fangarme nutzlos aus den Wänden und der Decke. Eine große Fensterfront nüchterner staubiger Bürofenster ohne jeglichen Zierrat erhellt mit diffusem Licht den Raum und neutralisiert nahezu jeden Schatten.

In einer Zimmerecke entdecke ich eine abgenutzte Kunstledercouch, über die sie einige abgelegte Kleidungsstücke geworfen hat, direkt daneben Kartons mit zusammengewürfeltem Hausrat und weiteren Kleidungsstücken. Den Blick fesselt jedoch eine große Spule, eine fast armbreite Metallschlinge von über einem Meter Durchmesser, die aus einem unförmigen metallisch schwarzen Kasten ragt, von dem ein Kabel zu einer der am Boden befindlichen Steckdosen führt. Eine kleine rotblinkende LED weist darauf hin, dass dieser offenbar in Betrieb ist. Daneben steht eine alte Autobatterie, an die noch die großen roten und schwarzen Metallklemmen eines Starthilfekabels angeschlossen sind, das nun nutzlos auf dem zerschrammten und an einigen Stellen aufgerissenen Linolium des Fußbodens endet.

»Sie können jetzt die Spule abnehmen«, fordert sie mich auf, während sie die ihre bereits vorsichtig auf das freie Ende des Sofas ablegt.

»Hier wohnen Sie?«, frage ich erstaunt.

»Vorerst.«

»Allein?«

Statt auf meine Frage zu antworten, entledigt sie sich schweigend ihrer graugrünen Armeejacke, die sie achtlos über eine der Kisten wirft.

Ich verbiete mir den Gedanken, dass ich ihren schlanken, fast kindlich wirkenden Körper und ihre fließenden Bewegungen anregend finde und frage. »Gibt es noch Strom hier?«

»Glücklicherweise, wer weiß wie lange noch...«

»Und dann?«, forsche ich weiter.

Sie zuckt mit den Schultern und schaut mich prüfend an.

Verlegen und allein mit meinen unterdrückten Fantasien versuche ich mir einen Eindruck von der Perspektive zu machen, die sich von hier oben bietet.

»Gehen sie nicht zu nah ans Fenster. Sie könnten gesehen werden.«

»Ich dürfte gar nicht hier sein«, bemerke ich lakonisch.. »Nein«, antwortet sie knapp.

»Sie auch nicht!«, ergänze ich, ohne in ihre Richtung zu schauen.

»Doch, ich muss hier sein«, entgegnet sie leise. Draußen, soweit man etwas durch die schmierigen Fenster erkennen kann, verschwimmen mattgraue Wohntürme mit schemenhaften Silhouetten entfernter Hochhäuser. Ganz unten, wir sind mindestens im 20. Stockwerk, fließt nur durch schalldichte Fenster von seinem Lärm befreiter endloser Straßenverkehr dahin.

Ich nicke, gedankenverloren, während ich unbeweglich aus dem Fenster auf eine stumm gewordene Welt blicke, die zu einem mysteriösen Trugbild zu entarten scheint, bis mir etwas schwindelt.

Abrupt drehe ich mich zu ihr um. Sie steht noch immer neben dem Sofa und blickt mich ausdruckslos an.

»Und«, fragt sie nach einer ganzen Weile. »glauben Sie mir jetzt?«

Unwillkürlich muss ich einen tiefen Atemzug nehmen. Ich will mich um eine Antwort drücken, weil ich sie nicht verletzen will... oder mich selbst.

»Hmm«, murmel ich etwas unschlüssig und beginne die merkwürdige Apparatur in der Mitte des Raumes zu taxieren. Irgendetwas stört mich an diesem Gerät. Es ist zu groß, zu mächtig, es passt nicht hierher und es passt nicht zu ihr.

»Meinen Sie, es hilft?«

»Sicher!«

»Wodurch?«

»Es gibt ein Störsignal ab, so dass sie mich nicht orten können, soweit ich weiß«, erklärt sie. »Sie können nicht durchdringen zu mir, nicht bis in mich hinein vordringen!«

»Sie?«, frage ich etwas zu spitz.

Sie wendet sich abrupt ab und ballt zornig die Hände. »Sie haben überhaupt nichts verstanden, gehen Sie, gehen Sie jetzt!«

Erschrocken fahre ich zurück. »Oh, Verzeihung, ich wollte Sie ganz bestimmt nicht verärgern!«

Mir ist klar, dass ich sie jetzt nicht allein lassen möchte. Ich schelte mich selbst wegen meiner Überheblichkeit und meiner dummen Bemerkung. Wenn sie bloß nicht darauf besteht, dass ich gehen soll.

»Entschuldigen Sie bitte, wirklich, ich versuche doch, Sie zu verstehen.«

»Nein, Sie lügen! Sie wollten nur sich selbst bestätigen! Sie sind ein eitler Fatzke. Gehen Sie!«

»Bitte, es war nicht böse gemeint, wirklich«, versuche ich es nochmals, doch sie hat sich zornig umgedreht und die Arme über der Brust verschränkt. Unentschlossen nehme ich meine Jacke auf, die ich abgelegt hatte, werfe sie mir über die Schulter und nähere mich ihr einige Schritte, doch als sie immer noch nicht reagiert, gehe ich langsam auf den Ausgang zu.

Ich höre ihr leises Schluchzen, ihr Kopf ist, mir noch immer abgewandt, etwas auf ihre Brust gesunken.

Etwas in mir fasst neuen Mut, ich lasse die Jacke einfach fallen, nähere mich ihr behutsam und lege ihr die Hand sachte auf die Schulter. Sie dreht sich plötzlich zu mir um und verbirgt ihr Gesicht an meiner Schulter, während ihr Körper von Weinkrämpfen geschüttelt wird. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihr vorsichtig über das Haar streichele, sie wie ein kleines Kind leicht wiege und dazu »okay, okay« brumme.

Sie hat so einen zierlichen, fast zerbrechlich wirkenden Körper. Sie tut mir unendlich leid und ich fühle mich schuldig, verlogen und verkommen. Sie hat ja recht, sie hat ja recht!

Eigentlich ist es nicht meine Aufgabe, sie zu verstehen. Es ist meine Aufgabe, sie zu kontrollieren. Ich bin ein Kontrolleur von Amts wegen.

Aber da ist etwas Neues hier im Raum und auch vorher an der Tankstelle. Es ist ein angenehmes Gefühl, wie eine süße Erinnerung an etwas früher Gekanntes, aber lange Vergessenes. Eine Art Kindheitserinnerung, flüchtig wie ein Geruch und doch nicht verloren und es hat mir ihr zu tun. Es ist diese Sehnsucht nach ihrer Zuneigung, dem Kontakt zu ihr und ihrem Körper.

Ich schüttele unwillig den Kopf. Was, wenn sie recht haben sollte? Was, wenn ihre Psychose gar keine, ihr Wahn Wahrheit ist?

Sie hat sich etwas beruhigt und löst sich fast schon etwas zu heftig aus meiner sanften Umarmung.

Ich stehe nur da. Der Raum, den sie gerade noch eingenommen hat, erscheint mir plötzlich endlos kalt, leer und öde. Ich lasse die Arme hängen, die mir unendlich schwer vorkommen.

Sie steht in der Nähe des Fensters, eine schlanke Silhouette, und hält sich die Schultern, als wenn sie friere. »Warum verstehen Sie denn nicht? Warum verstehen sie denn alle nicht?«

Ich antworte nicht. Es fehlen mir einfach die Worte und ich will sie nicht noch einmal provozieren.

Es ist nicht mein Job, sie zu provozieren. Aber was ist eigentlich mein Job? Ich weiß es plötzlich irgendwie nicht mehr. Versuche mich zu erinnern. Warum zum Teufel bin ich ihr eigentlich hierher gefolgt?

2.*

Sie war aufgefallen.

Sicher, sie sollte kontrolliert werden, weil sie aufgefallen war. Eine psychische Anomalie, eine Störung, vielleicht eine Psychose. Ein atypisches Denkmuster. Nichts Ernstes wahrscheinlich, nur eine Routinekontrolle.

Ihre Akte, Suzanne Montenier, die ich neulich bei Dienstbeginn im Amt für Gesundheit und Soziales, Refera. »Medizinische Begutachtung und Rehabilitation«, auf meinem Schreibtisch entdeckte und die den Stapel auf der Ablage für unbearbeitete Fälle auf meiner Linken noch um einige Zentimeter erhöhte, trug allerdings den Vermerk. »Eilt, diskret!«, mit dem dafür üblichen blauen Aufkleber und der roten Diagonalen über der grauen Aktenfolie.

Merkwürdigerweise war sie offenbar auf meinem Schreibtisch von jemanden abgelegt worden und nicht über den zentralen Server eingetaktet, wie die anderen Akten. Denn am Tag zuvor war sie sicher noch nicht dabei gewesen. Außerdem unterschied sie sich schon farblich von den mattroten Folien der übrigen Akten.

Ich blätterte sie seufzend kurz durch, notierte routinemäßig das Eingangsdatum in der Bearbeitungsmaske im PC, der mir daraufhin das Abgabedatum des Berichtes diktierte.

8 Wochen, wie neuerdings üblich.

Aufgrund einer Beschwerde der übergeordneten Personenschutzbehörde waren nun aus der früher üblichen Bearbeitungszeit von 3 Monaten unlängst 8 Wochen geworden, bei gleichzeitiger Reduzierung des Personals. Dennoch betrug die Verfahrensdauer meist mehr als dreimal soviel, was auch irgendwie niemanden wirklich störte.

Nur, wenn mal wieder ein perfider Terroranschlag die Gazetten füllte, wie neulich, als die soundsovielte Bombe mehrere Opfer in einem der neuen Einkaufscenter zur Folge hatte und der oder die Täter nicht geortet werden konnten, weil sie sich mit einer neuen Technik vor den Sonden und Kameras unsichtbar gemacht hatten, dann wirbelte alles in den oberen Etagen der betreffenden Behörde durcheinander, rollten einige Köpfe untergebener Abteilungen, wurden neue Verfahrensweisen oktroyiert, Urlaubstage gestrichen, Versetzungen veranlasst und Bearbeitungsprogramme umgeschrieben, bis alles nach einiger Zeit wieder im alten Trott weiterlief.

So auch jetzt.

Ich strich über meine müden Augenlider, setzte mich seufzend zurück, schaute die absolvierten PC-Zeiten auf meinem Arbeitszeitkonto an, die mir sagten, dass ich mein Monatssoll noch nicht erfüllt hätte und beschloss, trotzdem einen Kaffee trinken zu gehen.

Die Cafeteria des Amtes für Personenüberwachung befindet sich im Eingangsbereich im Erdgeschoss. Sie ist der einzige Vorwand, wenn einem danach ist, für kurze Zeit einmal den PC-Arbeitsplatz zu verlassen und sich Bewegung zu verschaffen. Ansonsten ist wenig Grund geblieben, sich von seinem Computersessel zu erheben. Naja, manchmal fällt eine Aktenfolie vom Stapel und verschwindet unter dem Schreibtisch oder rutscht unter den Aktenschrank. Warum rutschen die Aktenfolien eigentlich immer wieder gerade in die verdammte Ritze unter diesem altertümlichen Schrank? Vielleicht liegt es am Material, diesen dokumentenechten, glatten, unzerstörbaren, reiß- und knautschfesten Folienchips? Immer wieder bin ich gezwungen, den letzten noch gerade mit der Fingerspitze erreichbaren unter der Stoßleiste vorlukenden Zipfel vorsichtig zu fassen und hervorzuziehen, um sie nicht versehentlich und auf alle Zeiten ganz unter den Aktenschrank zu schieben. Dann wünschte ich mir, dass alle Akten noch von der gleichen soliden Substanz wären, wie diejenigen im Schrank, die wohl schon einhundert Jahre darauf warten, endlich digitalisiert zu werden. Aber der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten.

Aus meinem Referat führen zwei altertümliche Aufzüge nach unten, von denen einer, der linke, immer noch nicht repariert und außer Betrieb ist. Er ist genauso alt wie die muffigen Flure der Abteilung und genauso heruntergekommen. Die Gelder für die Sanierung scheinen immer wieder in den anderen vorrangigen Abteilungen zu verschwinden. Auf diese Weise nimmt die hochmütige Missachtung, die unserer Abteilung durch die anderen Referate entgegengebracht wird über bröckelnden Putz und der durch Jahrzehnte ausgeblichenen Verputz der Wände greifbare Gestalt an. Wir gelten im Amt als Sonderlinge, da wir noch persönlichen Kontakt mit Klienten ode. »Kunden« pflegen, wie wir beschönigend sagen, anstatt uns in vornehmer digitaler Distanz zu ihnen zu halten. So gleicht das Gedränge, dass morgens bei Dienstbeginn und abends bei Dienstende vor dem rechten Aufzug entsteht, einem Spießrutenlauf, bei dem die Blicke der anderen Mitarbeiter um so deutlicher ausdrücken, was die Lippen sorgsam verschweigen.

Zur frühen Nachmittagszeit hingegen war der Aufzug meist leerer. So auch jetzt.

Ich versuchte, die beiden Mitarbeiterinnen aus der Abteilun. »Hygiene und Seuchen«, eine ärztliche Kollegin und deren Vorzimmertippse, die sich angeregt über einen Impfverweigerer unterhielten, höflich zu ignorieren, da ich von ihnen auf meinem Arm-Pad nicht angepingt worden war, was deren Bereitschaft zur Kommunikation signalisiert hätte. Ihrem geflüsterten Gespräch war jedoch zu entnehmen, dass der betreffend. »Kunde« zwangsweise zum Impftermin vorgeführt worden war und wohl viel Geschrei veranstaltet hatte. Eine nicht alltägliche Abwechslung im üblichen Büroalltagseinerlei.

Beim Verlassen des Aufzuges nickte ich der ärztlichen Kollegin verständnisvoll zu, was mir einen verwunderten, jedoch nicht unfreundlichen Blick eintrug.

Die Cafeteria war wie immer um diese Zeit fast leer. Drei oder vier Gestalten saßen vor den Monitoren oder warteten vor den Serviereinheiten auf die Ausfertigung ihrer Bestellung.

Ich ließ mich auf einen freien Sessel sinken, legte meinen Codering an das Terminal und wartete die üblichen vier Sekunden auf das Ende des unvermeidlichen Werbetextes, bei dem diesmal eine neue Kaffeesorte, aus garantiert gentechnisch optimierten Kaffeebohnen, mit de. »gewissen Geschmacks-plus« angepriesen wurde. Dann nickte ich der virtuellen Bedienung, deren Konterfei heute ein asiatisches Aussehen hatte, bejahend zu, als sie mich lächelnd fragte, ob es wieder dasselbe sein dürfte wie vor 2 Stunden.

Vor zwei Stunden? Solange hatte ich es schon durchgehalten? Entspannt ließ ich mich zurücksinken und die Simulation auf mich wirken, die die neuesten Fortschritte bei der Umsetzung der Beschlüsse des 85. Kongresses der Regierung seit der Übernahme der Geschäfte durch ChemChi ins Bild setzte, schaltete jedoch bald auf das Konzertprogramm um, auf der Suche nach Vivaldis Frühling, meinem Lieblingssatz, inszeniert durch FengLang mit dem synthetischen Symphonieorchester Schanghai.

Ich ließ mir gerade mit geschlossenen Augen den wohltuenden Duft des vanillierten Kaffeegetränks in die Nase steigen, als ich angeplingt wurde.

»Krongold, bitte begeben Sie sich umgehend mit der Akte Montenièr zu Herrn Dr. Dr. habil Eschner.« Ich zuckte zusammen. Bereits der Name dieses Herrn fühlt sich für mich an wie Zahnschmerzen der übelsten Sorte.

Er ist der Typ, den man ums Verrecken nicht los wird in seinem Leben. Schon in meiner Assistentenzeit in der Psychiatrischen Landesklinik, kurz vor meiner Facharztprüfung zum Psychiater, nervte dieser Hornochse alle Kollegen auf der Station mit seiner überragende. »Intelligenz«, die sich aus dem Nachplappern gerade gelesener Fachartikel und einem ansonsten völliges Dummschwätz zusammensetzte, aber enormen Eindruck bei den Professoren und Chefärzten der Stationen machte. Schon damals duckmäuserte er hinter den Vorgesetzten her, intrigierte nach Leibeskräften, bis er es zum Stellvertreter des Chefarztes geschafft hatte, nicht ohne alle, die ihm im Weg gewesen waren, kaltblütig abserviert zu haben. Ich war einer derjenigen, die seinem Wirken zum Opfer fielen, was zur Folge hatte, dass ich mich unversehens in dieser Behörde wiederfand, im hintersten Winkel des Gebäudes auf die Erlösung durch Berentung wartend. Was leider noch lange hin ist.

Als ich dann vor anderthalb Jahren aus der Tür meines Büros trat und beim Gang zur Cafeteria zufällig einen anderen Weg durch einen sanierten Gebäudetrakt nahm, traf mich fast der Schlag, als ich vor dem Zimmer des Amtsleiters beinahe mit ihm zusammenstieß. Er verließ gerade mit den für ihn üblichen arrogant hochgezogenen Augenbrauen das Chefzimmer, stolperte ärgerlich fast in mich hinein, stutzte und zog die Mundwinkel nach unten.

»Ah, Krongold, im Weg wie immer!« Ich blieb verdutzt stehen.

»Was machen Sie hier?«, entfuhr es mir verblüfft.

Er starrte mich an, wie eine lästige Fliege, die man gerne mit dem Daumen genüsslich zerdrücken möchte. »Arbeiten. Arbeiten mein Lieber. Eine für Sie ungewohnte Beschäftigung, nehme ich an.« Und ohne meine Reaktion abzuwarten, fuhr er fort. »Dadurch lieber Krongold bringt man es eben auch zu was. Sollten Sie vielleicht auch mal versuchen!« Damit wandte er sich ab und schwebte davon.

Ich traf ihn später noch häufiger. Er hatte es wohl innerhalb weniger Monate zum stellvertretenden Leiter des Amtes Gesundheit und Soziales geschafft, dem neben meinem Refera. »Medizinische Begutachtung und Rehabilitation« unter anderem auch das Referat Hygiene und Seuchen untergeordnet ist.

Jedesmal wenn ich ihm begegnete, hatte er gerad. »etwas ganz Wichtiges zu tun und leider gar keine Zeit für mich«. Einmal kam er gerade aus dem Refera. »Gefährdung und Sicherheit«, schwebte mit in die Luft gehobener Nase und einem dicken Ordner in der Hand gewichtig schreitend und sich nach allen Seiten absichernd, ob er denn auch bemerkt werde, an der Cafeteria und an mir vorbei, plingte mich an, nur um mir mitzuteilen, dass er gerade mi. »ganz oben« über mich gesprochen hätte. Natürlich nur mit den besten Empfehlungen. Man müsse ja denen von der Sicherheit nicht immer alles auf die Nase binden. Schließlich kenne man sich ja bereits seit Jahren und er würde auch gerne Kräfte unterstützen, die es selbst nicht nach oben geschafft hätten.

Ich versuchte, den Druck in der Magengegend zu ignorieren, der mich bei seinem Anblick immer wieder quält, und wunderte mich nur. Was hatte ich mit de. »Oberen« des Referat. »Gefährdung und Sicherheit« zu schaffen?

Dieses Referat ist ohnehin ein wenig merkwürdig. Seltsame Geschichten ranken sich um dessen Existenz. Niemand scheint so richtig durchzublicken, was dessen Aufgabengebiet eigentlich ist. Nicht einmal die Mitarbeiter des Referates sind namentlich im Adressverzeichnis des Amtes auf den Mail-Servern aufgeführt. Anstelle des Namens findet sich dort nur ein graues Feld. Weshalb sie im Amt auch al. »die Grauen« bezeichnet werden. Es wird immerhin gemunkelt, dass sie einen direkten Draht zu hohen Regierungskreisen haben sollen, und dass man sich lieber nicht mit diesen Leuten einlassen sollte.

Es soll vorgekommen sein, dass das Arbeitszeitkonto plötzlich auf null gestellt war oder die angehäuften Überstunden plötzlich gegen minus unendlich tendierten, wenn man einem von ihnen irgendwie auf die Füße getreten war, sagt man.

Seufzend erhob ich mich aus meinem Sessel, nachdem die Meldung, ich solle bei Eschner vorstellig werden, inzwischen ungeduldig blinkte und auf Kenntnisnahme bestand, ließ den Kaffee-Vanilla allein weiterduften und begab mich mürrisch an meinen Schreibtisch.

Dort fischte ich die Aktenfolie vom Stapel und hielt sie vor den Scanner.

Suzanne Montenièr, 26 Jahre, ledig, keine Kinder, Studentin der Bioinformatik und Historik, las ich da.

Dem zugehörigen Bild aus der zentralen Meldebehörde, inklusive Genmuster-Code und Fingerabdruck zufolge, insgesamt ein smartes Persönchen.

Diagnose. »Verdacht auf paranoide Schizophrenie, Wahnvorstellungen von Fremdbeeinflussung.« Studium geschmissen, Nachbarn mit ihren Vorstellungen, sie würde von fremden Mächten bestrahlt, belästigt, auffälliges Sozialverhalten und zunehmende soziale Isolierung. Das übliche. Schade eigentlich!

Ich blätterte die restliche Akte lustlos durch und fragte mich, warum da so ein Bohei drum gemacht wird? Derartige Fälle sind relativ häufig geworden und kommen direkt nach den Angsterkrankungen von Leuten, die sich nicht mehr aus dem Haus trauen, weil sie befürchten, an der nächsten U-Bahnstation oder im Kaufhaus von einer heimtückisch im Mülleimer hinterlegten Bombe irgendeiner Terrorgruppe zerrissen zu werden. Letztere Erkrankung entbehrte leider nicht einer gewissen Berechtigung, führte aber bei den meisten Menschen nur dazu, dass sie sich in der Öffentlichkeit vorsichtiger bewegten, nicht jedoch das Haus gar nicht mehr verließen.

Außerdem, wer musste außer Post- und Paktetzustellern noch groß das Haus verlassen? Wer dennoch raus ging, etwa um seinen Robohund Gassi zu führen, der hatte schließlich die Security-App, die mögliche Gefährdungsstellen auf dem geplanten Fußweg in Form kleiner Bombensymbole darstellte. Außerdem gab es inzwischen kaum eine größere Straßenkreuzung, keinen Eingangsvorplatz öffentlicher Gebäude, keine Bahnstation mehr ohne die üblichen Videokameras, die deutlich die Präsenz der Polizeigewalt demonstrierten. Und schließlich schleppte jeder irgend ein technisches Gerät mit sich herum, das die Bewegungsdaten kontinuierlich, offen oder versteckt, wie man munkelt, weitermeldete.

Dennoch passierten mitunter diese mysteriösen Anschläge, bei denen es einzelnen Terroristen immer wieder gelang, unerkannt zu verschwinden, nachdem sie unschuldige Passanten ins Jenseits gebombt hatten.

Manchmal bis zu zwei oder drei Anschläge im Monat mit gleichbleibender Tendenz. Auch dazu gab es die passende Terror-App.

Was ich bei diesen diversen Terror- und Gegenterrorgruppen bis heute nicht verstanden habe, war, warum sie es meist auf die Oma von nebenan, die Schulkinder einer Grundschule, die Besucher von Kaufhäusern oder Theaterveranstaltungen, also unschuldige, unbeteiligte Menschen abgesehen hatten, jedoch nie Parlamentarier oder Chefetagen von großen Konzernen ins Visier ihres Zorns nahmen, die, wenn überhaupt jemand, für das ganze gesellschaftliche Durcheinander eher verantwortlich waren.

Sei's drum.

Ich nahm mir die Akte nochmals vor, die ich schon lustlos auf de. »Akteneingang« zurückgeworfen hatte, und ließ mir die letzte, die gelbe Auftragsseite anzeigen, wo genauere Angaben zur Art der Kontaktaufnahme ausgeführt waren und der Untersuchungsauftrag präzisiert wurde.

Das Kreuzchen war vo. »Kontaktaufnahme vor Ort, da Einladung mehrmals erfolglos« gesetzt, gefolgt von mehreren Daten derartiger vergeblicher Einladungsversuche.

Ich frage mich immer wieder, weshalb es immer noch Handakten gibt, wo doch letztlich alles im PC bearbeitet werden muss? Aber derartige Fragen stellt man in einer Bundesbehörde besser nicht, um sich nicht die Aufstiegschancen zu vermasseln.

Vorgehensweise, Doppelpunkt, 4a, rot unterstrichen, mehrere dick gemalte Ausrufezeichen, Unterschrift, i.V. Dr. med., Dr. phil., habil. Eschner!

Ich schaute erschüttert nochmals auf die Unterschrift, aber es war kein Zweifel möglich, da stand Eschner! Vor meinen geistigen Ohren erschallte ein dämonisches, boshaftes nachhallendes Gelächter aus einem zahnlosen nach Schwefeldampf stinkenden Mund.

Ich spürte das dringende Bedürfnis, fünf Liter Wasser auf einmal zu trinken, um genug Saft in der Blase zu haben, um ihm an die Bürotür zu pinkeln, wenn ich nun zu ihm ging,.

Der Code: 4a bedeutet nämlich nichts anderes, als. »Nähere Anweisungen vom Abteilungsleiter entgegen nehmen, vertraulich.«

Dies hieß, aus meiner Bürotür zu treten, zu der feindlichen Tür des Dr. Dr. Eschner zu gehen und zu klopfen. Zu warten, weil durch die schalldichten Türen keine Antwort zu vernehmen ist, nochmals zu klopfen, wieder zu warten, dann die Türklinke vorsichtig herunter zu drücken, in devoter Haltung vorsichtig den Kopf zum Zimmer hinein zu stecken, um sich darauf gefasst zu machen, unwirsch nach draußen gewinkt zu werden, weil der feine Herr gerade etwas höchst Wichtiges zu erledigen hat, etwa sich die Fingernägel zu feilen, ein Telefongespräch mit jemand sehr, sehr Hohem zu erledigen oder sonst was.

Ich spürte, wie sich mein schlecht verheiltes chronisches Magenleiden wieder bei mir meldete.

Üblicherweise ist es so, dass man einen Klienten, den man zu begutachten hat, einfach einlädt, ins Amt zu kommen. Dieser erscheint entweder allein, wenn die seelische Erkrankung es zulässt, oder in Begleitung eines Angehörigen oder Betreuers, wenn die Erkrankung schwerer zu sein scheint.Sinn der Überprüfung ist es, das Ausmaß der seelischen Störung zu beurteilen und zu entscheiden, ob der- oder diejenige soweit keine Gefahr für die Allgemeinheit oder sich selbst darstellt, ob alle therapeutischen Maßnahmen ergriffen wurden, derer man heute mächtig ist, und ob eine vertiefte rehabilitative Maßnahme notwendig sein wird, um das gewünschte Ergebnis, nämlich die aktive Teilnahme an der digitalen Interaktion, dem sozialen Leben und dessen Verpflichtungen oder gar dem Berufsleben zu ermöglichen.

Nur in wenigen Ausnahmefällen bewegt man seinen Amtsarsch aus dem Sessel und sucht den Klienten in seinem Wohnumfeld auf. Dies tut niemand gerne, wird auch nicht besonders honoriert, kostet Zeit und Nerven, insbesondere wenn man sich in die Niederungen des unteren sozialen Milieus begeben muss. Noch seltener wird ein Klient gar mit polizeilichen Mitteln gesucht und vorgeführt, so dass ein Weg in die Verwahrungspsychiatrie notwendig wird. Dort geht es zumindest etwas manierlicher zu, jedenfalls für den Gutachter.

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