Kitabı oku: «Falling Skye (Bd. 1)»
Für meine Eltern – weil ihr mich immer ermutigt habt, meinen Träumen zu folgen.
eISBN 978-3-649-63641-0
© 2020 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
Text: Lina Frisch
Covergestaltung: Frauke Schneider
Lektorat: Frauke Reitze
Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim
Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-63344-0.
LINA FRISCH
FALLING
KANNST DU DEINEM VERSTAND TRAUEN?
SKYE
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Nachwort
Die Autorin
Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man genau weiß, was gleich passieren wird – und man das Unausweichliche trotzdem nicht verhindern kann. Der Boden fliegt auf mich zu und ich schließe die Augen. Es war nur ein falscher Schritt! Winzige Steinchen zerkratzen meine Handflächen, bevor ich aufschlage und mit pochendem Kopf liegen bleibe. Der Rhythmus von siebzehn Paar Füßen lässt den Rasen des Stadions unter mir vibrieren und ich betrachte die störrischen Grashalme zwischen meinen Fingern.
»Sie ist hingefallen!«, schrillt Fionas Stimme über den Platz.
Mein Körper fühlt sich schwer an, als würde das Gewicht des Universums mich auf die harte Erde des Stadions drücken.
»Skye Anderson, was dauert da so lange?«, höre ich den Coach rufen.
Ich richte mich auf. Die anderen Läufer sind schon bei der nächsten Marke angelangt, ich werde das Feld niemals wieder aufholen. Aber Coach Verse hat recht: Es ist nicht das Fallen, vor dem wir uns fürchten sollten, das hat er uns oft genug eingebläut. Es ist das Liegenbleiben.
Meine Füße beginnen, sich in gewohnter Gleichmäßigkeit vom Boden abzustoßen. Ich bin nicht dazu gemacht, einfach aufzugeben, auch wenn ich heute keine Chance mehr habe, meinen Rekord zu halten. Die Gruppe der Läufer ist mittlerweile am Ende des Stadions angelangt. Kurz hintereinander ertönen siebzehn durchdringende Signale, als Jasmine und die anderen wenden, um nun auf das Ziel in meinem Rücken zuzulaufen. Ich hebe den Blick und sehe sie dicht an dicht auf mich zusprinten. Ihre Gesichter sind gerötet. Es sieht komisch aus, wie manche vor Anstrengung ihre Augenbrauen zusammenziehen. Niemand macht Anstalten, eine Lücke für mich zu lassen, aber das habe ich auch nicht erwartet. Trotzdem weigern sich meine Beine, langsamer zu werden. Wenn ich jetzt ausweiche, lande ich am Ende der Liste! Das kann ich nicht zulassen. Die anderen kommen immer näher, eine Mauer aus Menschen, und so langsam spüre ich Panik in mir aufsteigen.
»Du musst einfach einen kühlen Kopf bewahren.« Ich lächle, als ich an Elias’ Universallösung für jede Situation denke, so aussichtslos sie auch scheinen mag. Es wäre ein Fehler, jetzt zur Tribüne hinüberzusehen, aber ich weiß auch so, dass er am Rand der vierten Bank sitzt: beinahe direkt hinter der Bande, doch nicht zu nah, um wirklich interessiert zu wirken; seine kurzen Haare wie immer noch feucht vom Wasser der Schwimmhalle, dunkel glänzend wie in den Sommern, in denen wir uns mit Seilen vom Felsen aus ins Wasser des verbotenen Sees geschwungen haben. Lianensee.
Mit einem Mal weiß ich, was zu tun ist. Vielleicht bin ich verrückt geworden, aber alles ist besser, als einfach stehen zu bleiben. Entschlossen taxiere ich den Abstand zwischen mir und den Läufern, dann treffe ich meine Wahl. Es ist nicht verrückt, korrigiere ich mich. Was ich vorhabe, ist rational.
Ich brauche zwei Seitwärtsschritte, um mich zwischen den beiden stärksten Sprintern zu positionieren. Alle anderen wären nicht kräftig genug, so viel ist sicher. Jasmines Augen verengen sich zu Schlitzen. Colin hingegen scheint das Hindernis auf seinem Weg nicht einmal zu bemerken. Sein Blick ist auf die Anzeigetafel fixiert. Wahrscheinlich versucht er in den letzten Sekunden noch, seinen Rekord zu brechen. Rationale streben nach mehr, wollen sich ständig verbessern. Colin weiß das, und genau wie ich tut er schon jetzt alles, um zu beweisen, zu welchem Trait er gehört.
Als nur noch wenige Meter zwischen mir und den anderen liegen, beschleunige ich mein Tempo. Ich strecke die Arme aus, stütze mich nur für einen winzigen Moment auf Jasmines knochiger und Colins muskulöser Schulter ab, bevor ich meine Beine durch die Lücke zwischen ihren Oberkörpern schwinge. Ohne zurückzublicken, lasse ich meine rechte Hand eine Minute und drei Sekunden später gegen die Marke knallen, wende und sprinte als Letzte auf das Ziel zu. Ich zwinge mich, die Blicke der anderen auszublenden, die hinter der Anzeigetafel nach ihren Wasserflaschen greifen und jeden meiner Schritte verfolgen. Manche von ihnen werden hoffen, dass ich ein zweites Mal falle.
»Es war die einzige Möglichkeit«, keuche ich noch in der Sekunde, in der ich die Lichtschranke passiere und mein Name grün auf der Anzeige über unseren Köpfen aufleuchtet. Mit tiefen Zügen hole ich Luft, um das stechende Gefühl aus meiner Lunge zu vertreiben.
Colin wirft mir einen seiner üblichen herablassenden Blicke zu. »Sieh mal einer an, sie hat ein schlechtes Gewissen!« Er grinst. »Nur Anfänger entschuldigen sich für Leistung. Oh warte, das stimmt nicht – Anfänger und Emotionale.«
Ich krame genervt nach meiner Wasserflasche und schlucke meinen Ärger hinunter, während Elias’ bester Freund sich neben den anderen Jungen auf den Boden fallen lässt. Ich bin keine Emotionale!
»Vielleicht fühlt sie sich ja auch mit gutem Grund schuldig.« Die Lautstärke seiner Stimme verrät, dass der Kommentar nicht für die anderen Jungen gedacht ist. Ich beiße die Zähne zusammen in der festen Absicht, mich nicht provozieren zu lassen. »Immerhin hätte niemand von uns ihre Lösung nutzen können.« Colins Blick wandert von einem seiner Freunde zum nächsten. Jeder einzelne von ihnen wiegt mindestens doppelt so viel wie ich. »Und das, wo unserer Miss Frauenpower doch Gleichberechtigung so wichtig ist.« Colins Freunde lachen, als er bei den letzten Worten meine Stimme imitiert. Idioten.
Auf der Anzeigetafel erscheint die heutige Rangliste und die Gespräche um mich herum verstummen. Nur Jasmine redet weiter auf den Coach ein, doch auch der schaut zur Tafel. Ich folge seinem Blick und traue meinen Augen kaum, als ich meinen eigenen Namen an seinem angestammten Platz an der Spitze der Mädchen stehen sehe. Wie kann das sein?
»Gut gemacht.« Ich zucke zusammen, weil ich nicht bemerkt habe, wie Fiona sich zu mir gestellt hat. »Ich wünschte, ich wäre nur annähernd so schnell wie du.«
Vielleicht hättest du dich einfach nicht umdrehen sollen, als ich hingefallen bin, denke ich und fühle mich sofort schlecht. Es war freundlich von ihr, sich um mich zu sorgen. Manchmal muss ich mich selbst daran erinnern, dass nicht jeder rational sein kann.
Ein Wutschrei lässt uns herumfahren, und ich sehe gerade noch, wie Jasmine nach einem Blick auf die Anzeige fluchend in der Umkleide verschwindet. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wende ich mich ab, denn immerhin bin ich für die Zehntelsekunden verantwortlich, die sie heute ihren Rekord gekostet haben. Jasmine hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass nach der Testung ein R auf ihrem Handgelenk landen soll, und ein paar der Mädchen werfen sich vielsagende Blicke zu, als ausgerechnet sie mit Wucht die Tür der Umkleide hinter sich zuknallt.
»Okay, Leute, ich will kein Gejammer über Muskelkater hören. Wer sich nicht dehnt, ist selbst schuld«, durchbricht Coach Verse die Stille.
Ich stehle mich ein paar Meter von der Gruppe weg und tue so, als müsste ich mich an der Bande festhalten, während ich auf einem Bein stehend nach meinem Fußgelenk greife. Die angenehme Müdigkeit, die sich nach dem Laufen über mich zu legen pflegt wie eine Decke, verschwindet, als eine kühle Hand beiläufig meine warme streift. Wir wechseln einen kurzen Blick, dann verliere ich das Gleichgewicht und Elias grinst.
»Ich warte an der Bushaltestelle auf dich, in Ordnung?«
Er lässt mir keine Zeit zu antworten und nimmt zwei Stufen auf einmal, als er die Treppen der Tribüne hinaufläuft, bevor irgendjemand seine Anwesenheit bemerkt hat. Ich sehe ihm nach und spüre ein Pochen in meiner Brust, das nichts mit dem anstrengenden Training zu tun hat.
»Skye?«
Ich bin froh, dass der Sprint eine Erklärung für die alberne Hitze liefert, die meine Wangen garantiert schon wieder puterrot gefärbt hat. Hastig zwinge ich mir das Lächeln vom Gesicht, gegen das ich in Elias’ Nähe so wenig unternehmen kann, und drehe mich zu Coach Verse um. Seine Züge sind wie immer undurchschaubar, während er darauf wartet, dass sich der Platz um uns herum leert.
»Das war eine reife Leistung heute«, sagt er schließlich und bückt sich, um die Markierungen aus dem Rasen zu ziehen.
»Aber ich bin hingefallen«, erwidere ich verwirrt. Ich habe damit gerechnet, einen Verweis wegen der Behinderung der anderen Läufer zu bekommen – kein Lob.
»Du hast die Situation bestmöglich gerettet. Alles glasklar analysiert. Was glaubst du, warum dein Name an der Spitze gelandet ist?« Der Coach richtet sich auf und wirft die Markierungen in einen Eimer. »Laufen ist ein rationaler Sport. Es geht nicht nur um Zeiten, sondern vielmehr darum, die eigenen Grenzen zu überwinden.«
»Und einen kühlen Kopf zu bewahren«, füge ich hinzu.
Coach Verse nickt.
»Ganz Samuel Andersons Tochter, nicht wahr? Grüß deinen Vater von mir und richte ihm aus, dass wir für die neue Trackbahn sehr dankbar sind.«
Ich nicke, während mein Blick noch einmal zur Anzeigetafel flackert. Ich weiß, was von mir erwartet wird. Durch den Namen meines Vaters wird eben nicht alles einfacher.
»Du schaffst das schon, Skye.« Coach Verse ist meinem Blick gefolgt und schaltet die Anzeige mit einem Befehl seines Smartphones aus, sodass die Rangliste des Teams vor meinen Augen verschwindet.
»Es ist bloß …« Ich zögere. Rationale zeigen keine Unsicherheit! »Das Laufen erhöht meine Chancen auf einen Platz an der Cremonte-Uni nur dann, wenn ich meine Bestzeit halte oder mich steigere. Dieser Patzer hat mich heute eine Minute gekostet, ganz egal, wie rational ich meinen Fehler ausgebügelt habe.«
Coach Verse schiebt sein blaues Schweißband aus der Stirn, das er immer trägt, obwohl niemand ihn jemals laufen gesehen hat. Ich erwarte eine Strategie, wie ich noch mehr aus mir herausholen kann, doch stattdessen weicht er meinem Blick aus. Wenn ich nicht wüsste, dass ich mich irren muss, würde ich den merkwürdigen Ausdruck in seinem Gesicht als Traurigkeit deuten.
»Coach?«, frage ich zaghaft und er zuckt zusammen.
»Die Cremonte-Uni, hm? Mach dir darum keine Sorgen. Ich habe selten eine Schülerin trainiert, die sich so sicher war, zu welchem Trait sie gehört.« Coach Verse verzieht seine Mundwinkel zu einem unverbindlichen Lächeln, als würden wir über das Wetter sprechen, doch es erreicht seine Augen nicht. Er wirft einen Blick über seine Schulter, bevor er hastig mit gesenkter Stimme fortfährt: »Hör zu, Skye. Das Konsilium interessiert sich nicht dafür, wie schnell du läufst. Du hast rational gehandelt, und das ist alles, was zählen wird.«
Das Konsilium. Ein ehrfürchtiger Schauer zieht sich über meinen Rücken. Niemand weiß etwas Genaues über den Vorgang der Testung im Athene-Zentrum, außer, dass diese Gruppe hoch ausgebildeter Psychologen dafür verantwortlich ist, die Ausrichtung unserer Persönlichkeit zu bestimmen – unseren Trait. Das Konsilium wird darüber urteilen, welches Leben zu mir passt: das einer Rationalen oder das einer Emotionalen.
Coach Verse presst seine schmalen Lippen aufeinander. »Denk an meine Worte. Und pass auf dich auf.«
Ich nicke, verwirrt von der plötzlichen Ernsthaftigkeit in seiner Stimme.
»Bis morgen, Coach.« Ich lächle ihm zu, bevor ich mich in die Umkleideräume begebe und die zum Glück noch weit entfernte Testung aus meinen Gedanken vertreibe.
Mittlerweile müssten die Duschen leer sein, überlege ich, während die Gummisohlen meiner Sportschuhe unangenehm auf den Fliesen quietschen. Ich sollte mich beeilen, denn Dad hat mich gebeten, heute pünktlich zu Hause zu sein, damit wir zusammen essen können. In letzter Zeit kommt er oft so spät aus dem Büro, dass ich längst schlafe, und morgens ist alles, was ich von ihm sehe, die leere Kaffeetasse auf der Anrichte. Er glaubt, ich würde unter seiner ständigen Abwesenheit leiden, aber ich verstehe, wie wichtig seine Arbeit im Parlament ist. Und außerdem bin ich nicht allein. Ich muss unwillkürlich lächeln, als ich an die Abende neben Elias auf der breiten Fensterbank seines Zimmers denke. Gegen nichts in der Welt würde ich diese Stunden eintauschen wollen! Ich schlängele mich an den Mädchen in Handtüchern und Flip-Flops vorbei, schnappe mir meine Sporttasche und steuere auf die Duschen zu.
»Pass auf, mit wem du dich anlegst.«
Überrascht schaue ich auf.
»Wie bitte?« Die Dampfwolken um mich herum machen es schwer, den Schatten vor mir zu identifizieren.
»Glaub bloß nicht, dass ich deine kleine Sabotageaktion einfach so hinnehme.« Jasmine deutet mit dem Finger auf mich. »Ich werde Jahrgangsbeste sein, dieses und auch nächstes Jahr. Ich werde einen Platz an der Cremonte-Uni bekommen. Steh mir dabei besser nicht im Weg!«
Ich sehe mich um, doch Jasmine und ich sind allein im Duschraum.
»Auf dem Campus gibt es mit Sicherheit Platz genug für uns beide«, sage ich versöhnlich, denn ich habe wirklich keine Lust, auch noch meine Studienzeit in einem unfreiwilligen Zickenkrieg zu verbringen.
»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht ganz so sicher.« Jasmine mustert mich. »Die Cremonte ist eine Uni für die zukünftigen Führer dieses Landes. Für Rationale, die unter Druck nicht nachgeben. Du hast vorhin die richtige Entscheidung getroffen, indem du meine Zeit deinem Erfolg geopfert hast.« Mit honigsüßer Stimme flüstert sie mir ins Ohr: »Aber du hast ein schlechtes Gewissen, nicht wahr?« Jasmine richtet ihr Handtuch. Was fällt ihr ein, mich darüber zu belehren, was Rationalität ausmacht! Als wüsste ich nicht selbst, was ein R von seiner Trägerin verlangt. »Und pass besser auf, dass du dich nicht zu sehr mit Fiona anfreundest«, raunt sie mir zu, während sie sich zum Gehen wendet. »Nicht, dass ihre Emotionalität noch auf dich abfärbt – oder ihr lahmarschiger Laufstil. Dieses Team kann wirklich keine zwei Loser vertragen.«
Die Summe von Jasmines kleineren und größeren Gemeinheiten wird in meiner Erinnerung lebendig. Ich straffe meine Schultern.
»Rationale sind vielleicht ehrgeizig«, sage ich leise und deutlich. »Aber sie sind keine kaltherzigen Menschen.«
Jasmine dreht sich noch einmal um. Spöttisch verzieht sie die frisch nachgeschminkten Lippen. »Danke für den Ratschlag der Expertin. Sonst noch was?«
»Ja, allerdings«, zische ich. »Du solltest an deiner Impulsivität arbeiten. Es wäre ja schließlich blöd, wenn dir so ein Ausrutscher wie eben im Athene-Zentrum passiert und du am Ende mit einem E dastehst.«
Jasmine starrt mich ungläubig an, aber ich bin die Regeln der Highschool-Monarchie leid, die sie zu unserer selbst gewählten Königin machen. Und ich bin es leid, die Klappe zu halten, damit Elias sich nicht zwischen seinen Freunden entscheiden muss. »Ach, noch etwas: Lass gefälligst endlich Fiona in Ruhe!«
Ich kann mir ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen, als ich der erstarrten Jasmine den Rücken zukehre und sie ohne ein weiteres Wort im Eingang des Duschraums stehen lasse.
Unter der Dusche spüre ich plötzlich, wie erschöpft ich eigentlich bin. Die Prüfungen zum Ende des Schuljahres, das ungewöhnlich anstrengende Training und mein herannahender sechzehnter Geburtstag fordern ihren Tribut. Seufzend schließe ich die Augen, lege den Kopf in den Nacken und lasse das heiße Wasser auf mein Gesicht prasseln. Ich muss mir dringend noch eine Ausrede zurechtlegen, warum ich dieses Jahr wieder keine Party gebe. Elias wird enttäuscht sein, aber es geht nun mal nicht. Das kann ich Dad nicht antun. Meine Gedanken wandern von meinem Vater zu Coach Verse, dem Dank, den ich Dad ausrichten soll – und der seltsamen Verabschiedung. »Pass auf dich auf.« War das nur eine einfache Floskel? Es klang fast wie eine Warnung. Ich schüttle den Kopf. Das kann nicht sein. Wovor müsste ich schon gewarnt werden?
Ein Scheppern lässt mich aufschrecken. Ich drehe das Wasser ab und taste nach meinem Handtuch, doch als sich der Dampf auflöst, ist niemand im Raum zu sehen. Schulterzuckend trockne ich mich ab, als meine nackten Füße beinahe über meine Wasserflasche stolpern. Der Inhalt meiner Tasche liegt kreuz und quer auf dem Boden verteilt, und ich bücke mich fluchend, um mein Tablet, das zum Glück in seiner Hülle geschützt ist, die leere Papiertüte, in die mein Sandwich eingewickelt war, und die nun klitschnasse Schuluniform wieder hineinzustopfen. Die Tasche an mich gedrückt, laufe ich zurück in die Umkleide und ziehe mich an, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Über die Jahre habe ich schon viele Rachemanöver von Jasmine gesehen, nur bin ich bisher selten ihr Opfer gewesen. Zumindest dann nicht, wenn Elias in der Nähe war.
Nach einem Blick auf meine durchnässte Uniform schließe ich meine Jacke kurzerhand direkt über meinem Sport-BH und will schon den Reißverschluss der Tasche zuziehen, als mir das leere Seitenfach auffällt, in dem normalerweise mein Handy steckt.
Ich schaue mich um, doch mittlerweile ist nur noch eine Hand voll Nachzüglerinnen in der Umkleide. Fiona verabschiedet sich mit ihrem üblichen Lächeln, und ich antworte abwesend, ohne wirklich gehört zu haben, was sie gesagt hat. Wo ist mein Handy? Ich fahre mir durch die nassen Haare. Was, wenn meine Fotos und die Chatverläufe mit Elias in falsche Hände geraten? Nicht, dass er mir jemals etwas geschrieben hätte, aus dem mehr herauszulesen wäre, aber man würde zweifellos bemerken, wie oft ich mir die Bilder von uns ansehe. Und was ich dem Onlinetagebuch Tell Your Story anvertraue, obwohl ich schon seit Jahren behaupte, die App gelöscht zu haben. Langsam werde ich nervös. Dad wäre außer sich, wenn er wüsste, was in mir vorgeht! Laut meinem Vater ist es nie zu früh, sich Gedanken darüber zu machen, womit man sich seine Zukunft ruiniert. Ganz zu schweigen von dem Spießroutenlauf, zu dem Jasmine und ihr Gefolge mein Leben an der Serenity-Highschool machen würden, wenn sie von meiner geheimen Schwäche wüssten.
Mit wachsender Unruhe laufe ich zurück in den Duschraum, doch auf den nassen Fliesen ist nichts zurückgeblieben. Panik macht sich in mir breit, während ich die Fächer absuche – aber dann stoße ich erleichtert den Atem aus und greife nach dem schwarzen Handy in der hintersten Ecke der Ablagen. Es muss aus meiner Tasche gerutscht sein, als ich sie in das Fach geschoben habe.
Eine gelbe Servicemeldung ploppt auf und ich lösche sie vom Bildschirm, ohne die Nachricht zu lesen. Für nervige Updates habe ich jetzt wirklich keine Geduld mehr übrig. Langsam beginnt mein Puls, sich zu beruhigen. Es ist alles gerade noch einmal gut gegangen. Mein Geheimnis ist sicher.
Die grüne Linie ist wie immer zu voll, um noch einen Sitzplatz zu ergattern. Als wir den Lincoln Tunnel durchquert haben und der Bus viel zu schnell durch die engen Straßen von Upperlake braust, verliere ich das Gleichgewicht und stolpere gegen Elias.
»Entschuldige.«
Sein Gesicht ist keinen Zentimeter von meinem entfernt und ich halte den Atem an. Ich sollte nach einer der Stangen greifen, um mich festzuhalten, aber meine Arme haben aufgehört, meinem Gehirn zu gehorchen. Spürt er, was mit mir los ist?
»Hier.« Elias schiebt mich ein Stück von sich und hebt meine zu Boden gefallene Tasche auf.
Ich lächle und wende mich ab, als wäre nichts geschehen. Der Bus öffnet seine Türen und ich springe auf den Bürgersteig.
Elias und ich sind Freunde, weise ich mich zurecht. Mehr als das, wir sind die besten Freunde. Meine verwirrenden Gefühle dürfen das nicht kaputt machen!
»Mum und Dad wollen am Samstag im Central Park picknicken«, sagt Elias, während wir an den gepflegten Vorgärten unserer Straße entlanglaufen. »Zumindest, wenn das Wetter so schön bleibt.« Als ich nichts erwidere, fügt er hinzu: »Das war eine Einladung. Mum sagt, sie macht auch ihre Zitronenlimonade. Ich weiß doch, wie sehr du das künstliche Zeug von eatdaily hasst.«
Er zwinkert mir zu und ich beschließe, den seltsamen Moment im Bus zu vergessen. Wahrscheinlich hat Elias mich noch nicht einmal mit Absicht von sich geschoben.
»Wie sollte ich bei einer so herzlichen Bitte Nein sagen?«, lache ich.
Elias räuspert sich und springt mir in den Weg. »Skye Anderson, würdest du mir die Ehre erweisen, mich auf einen unendlich langweiligen Familienausflug zu begleiten und damit meinen freien Tag zu retten?«
»Solange es sich dabei nicht um eine Tarnung für eine Überraschungsparty handelt, gern.«
Beim Anblick von Elias’ zerknirschtem Gesichtsausdruck stöhne ich auf. Jedes Jahr stelle ich klar, dass ich meinen Geburtstag nicht feiern will, und jedes Jahr sucht Elias nach einem Weg, um mich zu überreden.
»Wenigstens den sechzehnten, Skye.«
Ich schüttle den Kopf. Das Lachen ist mir vergangen. »Ich glaube nicht, dass sich Dads Meinung zum Thema Geburtstagspartys geändert hat.«
»Deshalb feiern wir ja auch bei mir!« Elias legt seine Hand auf meinen Arm und sagt leise: »Du kannst dich nicht bis in alle Ewigkeit für etwas bestrafen, das nicht deine Schuld ist.«
Woher willst du wissen, dass es nicht meine Schuld war?, denke ich bitter.
»Nächstes Jahr, okay?«, verhandele ich. »Außerdem klingt ein Picknick im Grünen viel mehr nach dem, was ich mir unter einem schönen Tag vorstelle, als eine bescheuerte Party.«
Vor allem, wenn Jasmine auf der Gästeliste steht, füge ich in Gedanken hinzu.
Elias gibt sich mit erhobenen Händen geschlagen. »Dann fange ich wohl besser an, Backen zu üben, damit ich auch etwas zum Picknick beisteuern kann.«
»Dabei würde ich wirklich gern zusehen, aber heute muss ich zu Hause essen. Dad hat versprochen, ausnahmsweise pünktlich Feierabend zu machen.«
Wir sind an der Hecke angekommen, die unser Grundstück und das von Elias’ Familie voneinander trennt.
»Vielleicht lässt Samuel dich ja später noch rüberkommen«, meint Elias. »Colin, Jas und ein paar von den anderen kommen vorbei. Nichts Großes, wir wollen nach den Prüfungen nur ein bisschen entspannen.«
Jas. Wie alle Jungen ist Elias blind, wenn es darum geht, Jasmines Fassade zu durchschauen.
»Mal sehen. Ich bin ziemlich kaputt.«
Meistens reiße ich mich bei solchen Treffen zusammen, lächle und unterhalte mich mit Kelly über den Unterschied zwischen Bronzer und Rouge, während ich Colins schneidende Kommentare und Jasmines falsche Freundlichkeit ignoriere. Aber nach dem seltsamen Training heute habe ich dafür einfach nicht mehr genügend Energie.
»Dann sehen wir uns morgen. Kelly und Zahra werden dich vermissen.«
Elias dreht sich um, und auf einmal wünsche ich mir, unseren Abschied noch ein paar Sekunden hinauszögern zu können.
»Grüß die anderen von mir, ja?«, sage ich und winke ihm zu, bevor ich schweren Herzens die Stufen zur Veranda unseres Hauses hinaufeile.
Dreieinhalb Stunden und ein steifes Abendessen später schlüpfe ich in meinen Schlafanzug und trete ans Fenster. Draußen ist es dunkel geworden, und der Lichtkegel, der sich von Elias’ Haustür bis zur Straße erstreckt, zieht meinen Blick an wie Lampen eine Motte. Ich beobachte die kleine Traube von Leuten auf dem Gehweg. Elias verabschiedet sich von einem nach dem anderen per Handschlag, bis Colin ihm als Letztes gegen den Arm boxt und zu Jasmine ins Auto steigt. Keiner der beiden wohnt weiter als ein paar Querstraßen entfernt, aber Jasmine hat vor ein paar Monaten ihren Führerschein gemacht und lässt seitdem keine Gelegenheit aus, um ihr weißes Cabrio zu präsentieren.
Bevor mich jemand entdeckt, trete ich vom Fenster zurück und lasse mich auf mein Bett fallen. Dads Schreibtischstuhl wird im Raum nebenan hin und her geschoben. Selbst für Dad ist es eigentlich zu spät, um noch zu arbeiten. Als ich ihm beim Essen von meiner Matheprüfung erzählt habe, hat er nur hier und da zerstreut genickt und wahrscheinlich nicht einmal gehört, dass ich eine halbe Stunde vor der Zeit fertig geworden bin. Er wird immer so, wenn mein Geburtstag herannaht, den wir seit vier Jahren nicht mehr gefeiert haben.
Ich drehe mich auf die Seite und entriegle den Sperrbildschirm meines Smartphones. »Bist du noch wach?«, tippe ich, lösche die Buchstaben aber gleich wieder. Natürlich ist er noch wach.
»Kannst du nicht schlafen?«
Eine kleine Welle Glück durchströmt mich, als Elias’ Nachricht aufleuchtet.
»Zu viele Gedanken«, antworte ich, obwohl ich eigentlich etwas anderes schreiben will. Dad fängt wieder an, meine Mum zu vermissen.
»Die Ergebnisse sind da«, reißt Elias’ nächste Nachricht mich aus der Vergangenheit.
Jetzt schon? Ich setze mich auf. »Gucken wir morgen zusammen?«, tippe ich mit fliegenden Fingern und Elias’ Antwort trifft gleichzeitig mit meiner ein.
»Komm zum Frühstück rüber, dann sehen wir zusammen nach.«
Danke, dass du für mich da bist.
»Gute Nacht«, tippe ich stattdessen gerade noch rechtzeitig, bevor das Internet zur Sperrstunde abgeschaltet wird, und schließe mit dem unvermeidlichen Lächeln auf meinen Lippen die Augen.