Kitabı oku: «Nebel - Ein Reich ohne Schatten», sayfa 2
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Der Tag, an dem sich alles ändert
Ich werfe einen Blick auf meinen Wecker. Es wird Zeit, dass ich aus dem Bett komme. Die Schule beginnt zwar erst in eineinhalb Stunden beginnen und wie jeden Morgen wird mich mein Vater dorthin fahren, aber ich brauche immer Ewigkeiten, um mich fertig zu machen, all meine Klamotten anzuziehen und die vollständigen drei Kilogramm Schminke aufzutragen – okay, das ist jetzt vielleicht ein bisschen übertrieben, aber das ganze Make-up, das ich mir ins Gesicht schmiere, ist wirklich viel!
„Resa!“, ruft meine Mutter durch die geschlossene Zimmertür. „Du musst jetzt aufstehen!“ Ja, jetzt wird es wirklich Zeit, dass ich aus den Federn komme, denn wenn meine Mutter nach mir rufen muss, bedeutet das, dass mit ihr nicht mehr zu spaßen ist. Sie hasst es nicht nur, einem Bescheid sagen zu müssen, wenn das Essen fertig ist, nein, sie mag es auch nicht, wenn man verschläft, Verabredungen verpasst oder zu spät zur Schule kommt.
Entschlossen schwinge ich meine Beine aus dem Bett, reibe mir noch den letzten Rest Schlafsand aus den Augen und verschwinde erst einmal ins Bad. Als ich mich einige Zeit später an den Frühstückstisch setze, stelle ich fest, dass ich einmal mehr die Letzte bin. Doch meine Familie ist das gewohnt und so lässt sich noch nicht einmal Mike zu einer Spöttelei hinreißen. Das Frühstück verläuft wie sonst, schweigsam, jeder starrt gedankenverloren auf seinen Teller, der mit einem Goldrand verziert ist, und niemand hält es ernsthaft für nötig, ein gepflegtes Tischgespräch zu führen.
Als wir im schicken, nagelneuen Audi meines Vaters sitzen und ich mich mit einem letzten Blick in den Spiegel vergewissere, dass meine Frisur anständig aussieht, beginne ich, mir wie jeden Morgen auf der Hinfahrt zur Schule auszumalen, was der heutige Tag wohl bringen wird.
Ich glaube, dieser Tag ist der erste, an dem nicht das passieren wird, was ich mir kurz zuvor im Auto vorgestellt habe. Wenn ich versuche, mir Dinge zu überlegen, stimmen die Gedanken mit den darauffolgenden Geschehnissen eigentlich immer überein. Eigentlich. Heute ist der erste Tag in meinem Leben, an dem etwas Unvorhersehbares passieren wird, ein unglaublicher Tag.
Als mein Vater mit einem kleinen Ruck seinen Audi anhält, stehen schon einige Schüler und Schülerinnen am Parkplatz und warten auf mich. Bevor ich aussteige und mir meinen neuen Rucksack auf den Rücken schwinge, setze ich mein freundlichstes Lächeln auf. Es ist mein Standardlächeln, hinter dem ich meine Gefühle perfekt verbergen kann. Niemand sieht wirklich, was in mir vorgeht, das merkt derjenige nur, wenn der Atem meiner Rache seine Wange streift, also wenn sein schlechter Ruf ihm schon vorauseilt. Außerdem ermöglicht es mir, auf jeden sofort freundlich und nett zu wirken, obwohl ich gerade mal „Hallo“ gesagt habe. Und mit einem Lächeln im Gesicht sehe ich eben noch eine Spur besser aus als ohnehin schon.
Mit einem Blick in die Runde stelle ich fest, dass der innerste Kreis meiner Clique vollständig versammelt ist: meine Freundinnen Nina, Ellie, Leonie und Sandra. „Resa, schön, dass du da bist!“, werde ich wie jeden Morgen stürmisch begrüßt.
Trotzdem merke ich, dass etwas nicht so ist wie sonst. Das hängt nicht mit der Begrüßung zusammen, sondern mit den Gesichtern, die meine Freundinnen hinter der Routine verbergen wollen. Ich habe zwar nicht sonderlich viel Ahnung von den Stimmungen anderer, aber ich kenne Nina, Ellie, Leonie und Sandra mittlerweile gut genug, um zu sehen, dass etwas nicht in Ordnung ist und sie es mir nicht sagen wollen. Und dann ist da noch dieses miese, gemeine, zwickende Gefühl in meiner Magengegend.
Das Lächeln verschwindet von meinem Gesicht wie ein Bild, das man von der Tafel wischt. Stattdessen macht sich ein forschender Ausdruck darin breit. Er ist so kalt, dass mir ein Schauer den Rücken hinunterläuft, als meine Mundwinkel in ihre natürliche Position hinuntersinken. „Was ist hier los?“
Auch das Strahlen meiner Klassenkameraden verschwindet mit einem Schlag. Das liegt allerdings weniger an meinen Worten, weder an deren Schärfe und Kälte noch an deren Bedeutung, sondern vielmehr an der Tatsache, dass ich nicht lächele. Außerdem werden die Mädchen totenstill. Es ist, als wären wir auf einem Friedhof, und passend dazu senken sie nun auch betreten ihre Köpfe. Wie Marionetten, deren Puppenspieler die Hände abgeschlagen wurden.
Mein forschender Blick schweift über die Reihen der Schüler, allesamt stehen sie da, still, totenstill, mit gesenktem Kopf, hochgezogenen Schultern, den Blick fest auf die Schuhe gerichtet. Ich kann nur noch ihre Scheitel sehen und die Sandhügel, die sie verlegen mit den Füßen aufhäufen. Es ist unübersehbar, dass sie etwas wissen, das ich nicht weiß. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich und plötzlich wünsche ich mir, ich hätte nichts gefrühstückt. Die Banane und der fettarme Joghurt in meinem Magen beginnen, sich zusammenzuziehen, und mein Blut scheint in meine Beine zu sickern. Für einen Moment ist mein Gehirn wie leer gefegt. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was passiert ist, dass meine Clique so verlegen und unsicher wirkt.
Ellie hebt schließlich den Blick und sieht mir direkt in die Augen. Dieser Blick ist besorgt und resigniert. Sie weiß, dass das, was sie so erschreckt hat, mir ebenso zusetzen wird. „Ich zeige es dir.“ Ihre Stimme ist leise, brüchig. Doch dann wendet sie sich noch einmal zu mir um. „Es ... es wird dir nicht gefallen“, murmelt sie noch.
Ich folge ihr über den Parkplatz, der Ring um meine Brust wird enger bei dem Gedanken an Ellies Blick. Meine Freundin führt mich auf das blau gestrichene Schulgebäude zu, dann weicht sie ein wenig vom eigentlichen Weg ab. Ihr ausgestreckter Arm weist auf ein riesiges Plakat, das jemand mit Kabelbindern am Zaun, der die ganze Schule umgibt, befestigt hat. Mir sticht sofort etwas ins Auge. „Gleichheit“ ist das Wort, das mich so aus der Fassung bringt.
„Siehst du?“ Ellie schaut mich an. „Jetzt fängt es auch bei uns an!“
Ich nicke, ich bin immer noch sprachlos. Gleichheit ist eines der Dinge, für die ich am wenigsten übrig habe. Ich höre oft, wie Leute, die offenbar nichts Besseres zu tun haben, irgendwelche Protestaktionen starten, Banken blockieren oder auf Parkplätzen übernachten, bloß wegen ein paar armer Schlucker, die man nicht noch ärmer machen darf.
Ich unterdrücke ein Würgen und beginne, das Plakat zu lesen. In roten Lettern auf einem grünen Hintergrund schreit es: „Wegen der Gleichheit aller Schülerinnen und Schüler wird Schulkleidung eingeführt!“ Daneben hängt ein Foto von einem sehr tristen, hässlichen Poloshirt und es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass ich dieses blaue ... Ding wohl für den Rest meines Lebens in der Schule anziehen muss. Unter dem Foto steht in kleineren blauen Buchstaben: „Nähere Informationen zur eingeführten Kleiderordnung wird die Schulleitung bald geben.“
Ich sehe überhaupt nicht ein, dass eine solche Entscheidung manchmal durchaus Sinn ergibt, sondern höre weg, wenn jemand versucht, mir den Zweck der Gleichheit zu erklären. Auf einer Schule zu sein, die für so ein Gehabe nichts übrig hat, machte mich immer sehr froh, aber heute scheint der Tag zu sein, an dem sich dies ändert ... Dass es andere Schulen in Deutschland gibt, die die einheitliche Kleidung einführen wollen oder es bereits getan haben, das habe ich schon gehört, aber es hat mich nicht interessiert. Dass das nun aber auf meine Schule überschwappen soll, damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet.
„Was sollen wir jetzt machen?“ Fragend sieht Ellie mich an.
Zum ersten Mal im Leben weiß ich keine Antwort, und das aus zwei Gründen. Erstens, weil mir vor Schreck meine Schlagfertigkeit abhandengekommen ist. Zweitens weiß ich zwar nicht wirklich auf alles eine Antwort, aber sonst kann ich zumindest einen coolen Kommentar dazu abgeben. Nur heute, heute bleibt Ellies Frage in der Luft stehen.
Meine anderen Klassenkameraden kommen langsam nach, alle mit eingezogenen Köpfen, den Blick fest auf den Boden gerichtet, als fühlten sie sich für dieses Plakat verantwortlich, und im Moment denke ich auch, dass nicht der Anbringer dieses Plakats die Schuld an meiner Ratlosigkeit trägt, sondern meine Mitschülerinnen und Mitschüler. Die meisten anderen Kids werden unter meinem Blick immer kleiner, ihr Hals wird zwischen ihren Schultern immer kürzer, die Schultern wandern nach oben und der Blick wird schuldbewusster.
„Ich glaube, wir sollten aufgeben, wir schaffen es ja doch nicht, diesen Quatsch aufzuhalten“, murmelt Nina.
Ich starre sie an, als hätte sie ihren Verstand verloren, und in diesem Moment denke ich das auch. Und dann sehe ich das Plakat wieder an, denke daran, wie unsere Schule mal gewesen ist und dass es wohl Dinge gibt, die sich nicht aufhalten lassen. Das sind die Momente, in denen man sich einfach in seiner Villa verstecken, die Rollläden zuziehen und niemandem die Tür öffnen will. Aber auch das würde nicht funktionieren. Mir fällt wieder ein, dass Nina normalerweise nicht aufgibt, sie ist eine entschlossenere Person als alle anderen, die ich kenne. Und dennoch hat sie es getan. Sie hat aufgegeben.
Eigentlich hätte ich hoffnungslos, niedergeschlagen sein müssen, weil wir beschlossen haben, uns nicht dagegen zu wehren, dass wir in Zukunft alle in derselben Trauerkleidung in die Schule gehen werden. Stattdessen werde ich wütend. Meine Hände krampfen sich in meinen Hosentaschen zusammen und hinterlassen Spuren auf meinen Oberschenkeln. Meine Augen habe ich so fest zusammengekniffen, dass ich kaum etwas sehen kann. Und trotz meiner Wut spuken die Gedanken in meinem Hinterkopf herum, die Gedanken der Hoffnungslosigkeit, die wohl kommen werden, wenn meine Wut verraucht ist. Ich habe niemals erwartet, dass Nina je aufgeben würde. Und doch ist der Tag gekommen, der Tag, an dem sich zumindest das ändert ...
„Also, heute wollen wir uns noch einmal mit der möglichst gleichmäßigen Verteilung des Geldes innerhalb und zwischen Industrie- und Entwicklungsländern beschäftigen.“
„So? Wollen wir das?“, denke ich bloß.
Tja, so beginnt unsere Erdkundelehrerin die sechste Stunde und die Wut, die sich seit dem Morgen etwas abgeschwächt hat, beginnt wieder, in mir zu brodeln. Und tatsächlich setzt sich unsere Lehrerin intensiv mit den globalen Folgen der ungleichmäßigen Verteilung des Geldes auseinander, während meine Augen schmaler und schmaler werden. Ich kann noch nicht einmal mein alltägliches Lächeln aufsetzen, ich empfinde nur blanke Wut. Wut auf die Lehrerin, die uns das eingebrockt hat, Wut auf die Politiker oder wer eben sonst die Lehrpläne schreibt und dafür verantwortlich ist, dass wir nun in Zukunft in Trauerkluft in die Schule kommen werden. Ich kann und will das alles nicht verstehen, aber mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als mich damit zu arrangieren. Doch bis ich mich damit abgefunden habe, wird diese Wut wohl jeden armen Menschen treffen, der mir über den Weg läuft.
Mein Zorn umgibt mich, wie die Atmosphäre die Erde umgibt. Er knistert in der Luft und tritt in elektrischen Blitzen zutage, zumindest erscheint es mir so. Er schmeckt wie heißes Feuer auf der Zunge und riecht verkokelt. Ich labe mich an dieser Wut, sie erfüllt mich mit der Befriedigung, dass, obwohl ich aufgegeben habe, sie alle Schuldigen irgendwann treffen wird. Und das nicht bloß wegen der Sache mit der Schulkleidung, sondern wann immer jemand mir etwas einbrocken wird, das überhaupt nicht meiner Meinung entspricht, wird meine Wut ihn treffen und ... na ja, er wird sich wünschen, es nicht getan zu haben. Ein Brennen macht sich auf meiner Haut breit. Es ist wie das Lodern von Feuer, von brennender Wut.
Meine Erdkundelehrerin sagt gerade: „Es ist unheimlich, wirklich unheimlich wichtig, dass wir uns um die gleichmäßige Verteilung des Geldes kümmern, denn das ist überlebenswichtig für viele von uns ...“
Niemals habe ich geglaubt, dass sich meine Erdkundelehrerin Frau Vender jemals auf die Seite dieser Gleichheitsfanatiker stellt, der Leute, die für diese Schulkleidung verantwortlich sind. Frau Vender trägt nur teure Markenkleidung und wahrscheinlich werden auch die Lehrer auf irgendeine Weise dieser neuen Kleidungsordnung unterworfen werden. Von diesem Kram, über den sie gerade redet, habe ich ja letztlich keine Ahnung, aber ich glaube zu verstehen, dass wir auf einmal den armen Leuten unser Geld abgeben sollen. Wir, die wir hart dafür gearbeitet haben, sollen das, was wir uns verdient haben, abgeben? Das dürfte Frau Vender doch genauso wenig passen wie mir.
„Resa, kann ich kurz mit dir über etwas sprechen?“ Die Stimme meiner Erdkundelehrerin hat etwas Einfühlsames an sich, sie klingt verständnisvoll, warm und freundlich.
Ich will schon genervt aufseufzen, doch ich halte mich zurück. Ich schaffe es sogar, mein Lächeln aufzusetzen, von dem ich geglaubt habe, dass ich es verloren hätte. „Worum geht es denn?“ Aber ich schaffe es nicht, den schleimigen Tonfall, den ich normalerweise benutze, zu treffen.
„Ich mache mir Sorgen um dich“, erklärt mir Frau Vender. Ich setze ein unwissendes Gesicht auf, als wüsste ich tatsächlich nicht, was sie meint. „Es geht darum, dass du dich heute gar nicht am Unterricht beteiligt hast, wie du es sonst tust.“ Der Blick von Frau Vender ist ernsthaft besorgt.
„Oh!“ Ich klinge zwar überrascht, bin es aber nicht. Ich weiß selbst, dass meine mündliche Mitarbeit in dieser Stunde wirklich zu wünschen übrig gelassen hat. Allerdings stört mich das herzlich wenig, ich habe einfach keinen Bock, mich mit Gleichheit und so weiter auseinanderzusetzen.
„Was war denn los? Geht es dir nicht gut? Bist du krank? Möchtest du nach Hause gehen? Oder stimmt etwas mit deinen Freundinnen nicht? Hast du vielleicht Liebeskummer? Du kannst wirklich gern mit mir darüber reden, dazu sind wir Lehrer schließlich da.“ Frau Vender überschüttet mich geradezu mit Fragen, nicht nur mit denen, die aus ihrem Mund herausgesprudelt kommen, auch mit der einen unausgesprochenen in ihrem Blick und ihrer Gestik: „Resa von Schwarzberg, was ist mit dir los?“
Allerdings lässt mich diese Fragerei vollkommen kalt. Ich denke noch nicht einmal im Traum daran, mit meiner Lehrerin darüber zu reden, ob ich mit jemandem ein Problem habe. Normalerweise schreie ich ja niemanden an, ich verbreite nur hinter seinem Rücken die übelsten Gerüchte, aber wenn man mich so herausfordert wie jetzt Frau Vender, tut es mir leid, dann werde ich sie eben doch anschreien.
„Sie wollen also wissen, was mich bedrückt?“, frage ich mit hochgezogenen Brauen. Ich will, dass meine Erdkundelehrerin ein wenig vorgewarnt ist, wenn ich sie gleich anbrüllen werde.
„Sicher ... Aber natürlich nur, wenn du das möchtest ...“
„Nun gut.“ Meine Stimme wird gefährlich ruhig. „Die Antwort ist, dass ich keine Nerven für solch miserablen Unterricht habe.“
„Wie, du meinst, dass ich meinen Unterricht schlecht mache, weil ich zu streng bin?“ Frau Vender scheint wirklich schockiert zu sein. Mit so einer Antwort hat sie einfach nicht gerechnet.
„Nein“, zische ich so energisch und impulsiv, dass einige Tropfen Spucke durch die Luft fliegen, was mir an jedem anderen Tag furchtbar peinlich gewesen wäre, aber, wie ich schon erwähnt habe, heute ist einfach alles anders ...
„Und was ist es dann?“, fragt meine Erdkundelehrerin. Sie klingt unsicher, was wahrscheinlich an der geballten Ablehnung liegt, die mein Spucken ausgedrückt hat.
„Ich hasse dieses Gleichheitstheater“, keife ich, drehe mich um und stolziere davon.
Frau Vender bleibt noch eine Zeit lang stehen und sieht mir kopfschüttelnd nach. Ihr verständnisloser Blick brennt Löcher in meine schicke, neue Bluse. Ich weiß auch, weshalb sie mir so erschrocken nachsieht. Sie kann es einfach nicht fassen, dass ich mich gegen sie gestellt habe und so respektlos mit ihr umgegangen bin. Sie hat nicht gedacht, dass sie jemals erleben würde, wie ich, die größte Schleimerin überhaupt, die Dreistigkeit besitze, ihr so ins Gesicht zu keifen. Sie hat wirklich nicht gedacht, dass dieser Tag mal kommen würde, dass der Tag mal kommen würde, an dem sich alles ändert ...
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Die alte Frau sitzt in ihrem Wohnzimmer und spielt nervös mit ihren Händen herum. Sie fragt sich, ob sie wirklich bereit dazu ist, all diese Dinge zu erfahren. Wie soll sie es ihr nur sagen? Sie weiß es einfach nicht, und Luke und Luna fragen, das geht ja nun nicht mehr, das würde nur sie tun können. Soll sie ihn ihr also tatsächlich geben? Ist ihre Enkelin wirklich bereit dazu, diese andere Welt kennenzulernen, die Wahrheit kennenzulernen? Die Wahrheit, die einen tatsächlich umwirft.
Außerdem, was ist, wenn sie sich geirrt hat, wenn sie doch die Falsche ist, wenn doch jemand anderes diese überaus große und mit Strapazen angefüllte Reise antreten sollte? Gedankenverloren streicht die alte Frau über die beiden parallelen Narben auf dem Handrücken und ihr Blick wandert zu den beiden Wasserflecken auf ihrem Fußboden.
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Großmutter
„Mama, muss das sein?“ Es ist der Nachmittag des Tages, an dem irgendwie alles ganz falsch gelaufen ist, und ich sitze mit meiner Mutter und unserem Fahrer im Auto. Wir sind auf dem Weg zu meiner Oma ... äh, Pardon, Großmutter.
„Ja, Schätzchen, das muss sein! Wir haben meine Mutter jetzt schon zwei Wochen nicht gesehen“, entgegnet Mama entschieden.
„Und weshalb können wir nicht einfach shoppen gehen oder so? Das ist viel interessanter ... und außerdem ...“
Meine Mutter unterbricht mich: „Aber du gehst praktisch jeden Tag shoppen, und dass wir meine Mutter besuchen, kommt wirklich deutlich seltener vor, und jetzt hat sich Fernando ja auch noch Zeit genommen.“ Fernando ist unser Fahrer, obwohl das eigentlich bloß sein „Künstlername“ ist.
„Aber wir können doch einfach in einen anderen Stadtteil von Berlin gehen, um da zu shoppen, und da kann uns Fernando ja hinbringen ...“
„Ich weiß nicht, warum ich mich vor meiner eigenen Tochter rechtfertigen muss!“ Die Stimme meiner Mutter ist schneidend und kalt. Hätte ich ein bisschen genauer auf ihren Tonfall geachtet, hätte ich Mama nicht einfach so widersprochen.
„Aber es war schon in der Schule so bescheuert und da muss der Tag doch nicht genauso bescheuert weitergehen!“
„Fernando, Sie müssen jetzt links abbiegen, Sie könnten doch einfach Ihr Navigationsgerät einschalten, dann muss ich nicht das Ihre spielen.“ Das ist die einzige Antwort, die mir Mama auf meinen Einwand hin gibt.
„Aber Frau von Schwarzberg ... Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass das alte Navigationsgerät kaputtgegangen ist und ich bis jetzt noch keine Zeit hatte, ein neues zu kaufen.“ So führen meine Mutter und Fernando ein mehr oder weniger hitziges Gespräch über das Navigationsgerät, das aus recht unerfindlichen Gründen nicht mehr funktioniert, während ich nur auf meinem Rücksitz vor mich hin gammele.
Meine Oma heißt Jasmin von Schwarzberg. Sie ist die Mutter meiner Mutter, und seltsamerweise hat meine Mama sich meinem Vater gegenüber durchgesetzt und er hat ihren Namen angenommen. Jasmin von Schwarzberg gilt als wunderliche Frau, die mit dreiunddreißig plötzlich auf unerklärliche Weise verschwunden ist, und als sie zurückkehrte, hat sie ihren Mann verlassen und sich bloß noch zwangsweise um ihre Tochter gekümmert. Angeblich soll sie vor diesem Verschwinden sehr auf ihr Äußeres bedacht gewesen sein, immer viel Geld in der Tasche gehabt und so wie wir mitten in Berlin gewohnt haben. Auch sonst soll sie mir und meiner Mutter sehr geähnelt haben. Das sagt sogar meine Mutter, aber nach diesem Verschwinden soll alles anders geworden sein. Plötzlich hat sich meine Oma für Naturschutzgebiete, Umweltschutz und soziale Probleme interessiert, was sie sehr zu meinem Leidwesen noch immer tut, und ihr Geld an gemeinnützige Organisationen gespendet, und zwar nicht, weil es angesagt ist, sondern weil sie helfen will. Alles soll anders gewesen sein und das Seltsamste ist, dass sie angeblich nicht sagen kann, wo sie gewesen und wie sie verschwunden ist, genauso wenig, wie sie sagen kann, wie sie wieder zurückgekehrt ist. All diese Dinge sind große, vollkommen im Schatten liegende Geheimnisse.
Ob ich das glaube?
Nun, Fakt ist, dass meine Oma – ’tschuldigung, Großmutter – vor ihrem Verschwinden tatsächlich so gedacht hat wie wir und dass niemand weiß, wo sie gewesen ist. Die Gerüchte, dass sie durch ein Double ersetzt worden oder gestorben und wieder auferstanden sei, bezweifele ich, aber leider ist meine Großmutter eine sehr wunderliche, alte Frau und ich bange um ihren Verstand.
Ich setze, wie immer wenn wir bei meiner Großmutter sind, mein undurchsichtiges, gekonntes Lächeln auf, allerdings verrutscht es mir ein wenig. Ich bin mir sicher, dass meine Großmutter dies überhaupt nicht wahrnehmen wird, schließlich ist sie eine verrückte, alte Frau. Allerdings scheint zumindest für einige Augenblicke doch alles zu sein wie sonst. Natürlich habe ich nicht vergessen, was in der Schule passiert ist, aber es ist in den Hintergrund meines Denkens gerutscht und ich will mich auf das konzentrieren, was vor mir liegt: ein aufregender und vielleicht auch ein wenig verrückter Nachmittag bei meiner Großmutter, bei der ich mir hundertprozentig sicher bin, dass sie eine Schraube locker hat.
Fernando öffnet meine Tür, lächelt mir freundlich zu und sagt ein wenig scherzhaft: „Wenn die Dame nun aussteigen wolle!“
„Kommst du, Resa?“, ruft meine Mutter. Sie steht bereits auf der kleinen Treppenstufe des Landhäuschens meiner Großmutter und beugt sich vor, um diese – sehr förmlich – auf beide Wangen zu küssen. „Der Kaffee wird kalt!“ Ich hasse es, wenn meine Mutter so tut, als wäre ich schwer von Begriff, und ich ärgere mich auch über mich selbst, dass ich so lange in Gedanken war und nicht ausgestiegen bin.
Ich schiebe mit einem Ruck die Beine aus dem Auto, und als ich vor der Treppenstufe stehe, höre ich Fernando mit dem Auto wegfahren. Ich mache mir nicht mehr die Mühe, mich umzudrehen. Stattdessen trete ich auf meine Großmutter zu und umarme diese. Ich finde, ich könnte sie wirklich Oma nennen, aber das darf ich ja nicht und meine Mutter nimmt alles sehr ernst, wenn es darum geht, die Wünsche meiner Großmutter zu erfüllen. Anscheinend denkt sie, meine Großmutter wird so vielleicht wieder ihren Verstand zurückerlangen.
Als sich meine Oma – sorry, Großmutter – aus meiner Umarmung befreit, die sehr steif gewesen ist, beugt sie sich vor und sieht mir prüfend in die Augen. Dann murmelt sie so leise, dass außer ihr selbst nur ich es hören kann: „Kind, Hass ist nicht gut, er lässt uns eigennützig und unüberlegt handeln.“
Was habe ich über den Geisteszustand meiner Großmutter gesagt?
„Möchtest du noch Kaffee, Malena?“ Die Frage meiner Großmutter ist an Mama gerichtet, die daraufhin den Kopf schüttelt und freundlich erwidert: „Nein, danke.“
„Wirklich nicht?“, hakt sie nach.
„Nein wirklich nicht. Weißt du, ich mache gerade zwar keine Diät, dennoch ich muss auf meine Figur achten und da kann ich nicht Milchkaffee en masse in mich hineinschütten. Das sieht man in drei Tagen sofort.“
„Aber er muss weg“, entgegnet meine Großmutter sehr freundlich, die Augenbraue fragend nach oben gezogen. Doch danach fährt sie ebenso freundlich wie zuvor fort: „Wenn du nichts möchtest, nehme ich den Rest, oder möchtest du, Resa?“
„Nein, danke. Erstens nicht, weil ich keinen Kaffee mag, und zweitens, weil er meiner Figur ebenso schadet wie Mamas.“
Meine Großmutter zieht bei dieser Antwort überrascht die zweite Augenbraue nach oben. „Du machst dir Sorgen um deine Figur? Ich würde sagen, du bist zu dünn und nicht zu dick.“
„Ich habe auch nicht gesagt, dass ich zu dick bin, ich meinte nur, dass ich nicht zunehmen darf.“ Meine Stimme ist scharf und eiskalt.
„Also, ehrlich gesagt, Malena, ich finde, du solltest dir wirklich Sorgen um das Wohlbefinden deiner Tochter machen. Sie ist einfach zu dünn.“
Insgeheim denke ich: „Gut, dann muss ich mich nicht drum kümmern, darf Mama sich damit rumärgern.“
„Lass sie doch einfach, Jasmin. Es ist ihre eigene Sache, wir mischen uns schließlich auch nicht in deine Sachen ein.“ Meine Mutter klingt wie immer freundlich und höflich, aber auch energisch und distanziert. Ihrer Meinung nach ist das einer der besten Wege, etwas zu erreichen. Stets schön freundlich bleiben und hinter dieser Fassade schon mal schön Druck aufbauen, sodass dem Gegenüber gar nichts anderes übrig bleibt, als zuzustimmen.
„Natürlich ist es ihre Sache.“ Meine Großmutter scheint noch nicht mal am Rande das Gefühl zu haben, dass sie unter Druck steht. „Allerdings würde ich mir an deiner Stelle ernsthaft Sorgen um sie machen, und ich sage dir, wenn sie so weitermacht, wird sich das denkbar schlecht auf ihre Gesundheit auswirken, ich spreche aus Erfahrung.“
„Ja, das mag sein, und dennoch mache ich mir keine Sorgen um sie, weil ich ihr vertraue.“ Meine Mutter beißt sich ein wenig auf die Unterlippe, wie immer wenn sie wütend ist, aber sonst ist ihr nichts anzusehen. Man muss sie schon sehr gut kennen, um das zu sehen.
„Großmutter, weißt du, wie es deinen Geschwistern geht?“ Ich habe keinen Bock auf einen Streit zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter, und so einfach funktioniert die Ablenkung. Es klappt jedes Mal.
„Schätzchen?“
„Ja, Mama?“ Ich sehe meine Mutter fragend an.
Diese erhebt sich von ihrem Stuhl und sagt: „Weißt du, ich muss noch mal los, einige Dinge einkaufen, und ich kann dich dahin nicht mitnehmen, deshalb könntest du vielleicht hierbleiben. Natürlich nur, wenn das geht, Jasmin?“
Meine Mutter klingt schon so, als rechne sie fest mit Protest. Und den bekommt sie auch.
„Aber Mama, ich mag nicht hierbleiben!“, jammere ich mit dem Ton einer Sechsjährigen, die im Laden vor einer Barbiepuppe steht, die ihr keiner kaufen will.
„Aber ich kann dich nicht mitnehmen, Schätzchen!“ Meine Mutter fährt mir durch die blonden Haare – ich hasse das!
„Lass deine Finger aus meinen Haaren!“, schnauze ich schon fast automatisch.
„Also, von mir aus kann Resa gern dableiben“, mischt sich nun auch meine Großmutter mit ein. „Wir werden uns gut amüsieren, nicht wahr?“ Sie zwinkert mir lächelnd zu.
Jetzt will ich überhaupt nicht mehr dableiben, nicht, wenn sich meine Großmutter schon überlegt, was wir machen können. Jetzt bekomme ich richtig Angst. Vorhin ist es reine Bockigkeit gewesen, wegen der ich nicht habe herkommen wollen. Ich habe einfach keine Lust gehabt. Ich habe mich allerdings innerlich schon damit abgefunden dazubleiben, auf dem Sofa zu liegen, mit den Stöpseln meines nagelneuen iPods in den Ohren, doch nun habe ich richtige Angst!
„Mama, ich will aber nicht hierbleiben!“ Ich klinge geradezu weinerlich.
„Ach, Schätzchen!“ Meine Mutter fährt mir wieder durchs Haar, woraufhin ich mit meiner Gabel nach ihren Fingern schlage. „Ach, Schätzchen!“, seufzt meine Mutter noch ein zweites Mal. „Ich kann dich nicht mitnehmen, hier geht es um Geschäfte, die nur abgewickelt werden dürfen, wenn man zu zweit ist, sie gehen dich nichts an und du darfst nicht mitkommen.“
Es ist nicht zu überhören, dass ich ihr keinen Kompromiss abringen kann, trotzdem versuche ich es.
„Mama, kann mich nicht Fernando abholen?“, bettele ich.
Meine Mutter hat schon einen Widerspruch auf der Zunge liegen und hebt bereits an, mich streng zu ermahnen, wahrscheinlich gefolgt von einer Drohung, die sie wohl auch wahr machen wird, wenn ich jetzt nicht anständig bin.
„Resa, du hast es gehört, deine Mutter hat wichtige Geschäfte zu erledigen, bei denen du nicht dabei sein solltest. Bleib doch einfach hier. Das ist das Beste für alle Beteiligten.“
Mir steht der Mund offen! So ruhig und dennoch so entschieden habe ich meine Oma – Pardon, Großmutter – noch nie reden gehört. Das ist dermaßen entschlossen gewesen, dass ich es nicht wage, ihr auch nur ansatzweise zu widersprechen.
Meine Mutter nickt, steht nun endgültig auf, schultert ihre Umhängetasche und verabschiedet sich mit zwei Küsschen auf die faltigen Wangen bei meiner Großmutter und einer kurzen Umarmung bei mir.
Ich zucke zusammen, als die Tür mit einem Rums ins Schloss fällt. Ich habe Angst vor der alten Frau, die mich freundlich anlächelt. Mir kommt es vor, als wäre es das Lächeln einer Hexe, das heimtückische Grinsen einer Kannibalin, bevor sie ihr Opfer brutal verschlingt. Ich fürchte mich vor der Frau, die jetzt den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse schlürft, diese dann abstellt und sich mit einem kurzen Ächzen von ihrem Stuhl erhebt. Ich erzittere vor der Frau, die nun auf mich zukommt, die Hände ausgestreckt, als wolle sie mich gleich damit schnappen, festhalten, zerdrücken, zerfleischen, kurz gesagt, qualvoll töten. In diesem Moment habe ich die schlimmsten Gedanken. Ich befürchte, meine Großmutter könnte für mich nun lebensbedrohlich werden, und in diesem Moment überlege ich wirklich, ob ich entweder mit dem Teller, der vor mir auf dem Tisch steht, das Fenster einschlagen oder mir einen Weg in den Flur und damit zu meinem Handy freikämpfen sollte, um die Polizei zu rufen.
„Bei dem, über das ich mit der reden will, handelt es sich um eine überaus ernste Sache.“ Das eröffnet mir meine Großmutter, als sie auf ihrem schäbigen, alten, wie ich finde, äußerst ekligen und dreckigen Sofa sitzt, die Beine übereinander geschlagen, den Blick direkt in meine Augen gerichtet, während ich noch mit mir selbst kämpfe. Ich will unbedingt hier raus, kann aber keinen Ausweg finden. „Es handelt sich hierbei um dein Talent und um deine Bestimmung, um das, was du dir zu deinem Lebensziel machen solltest, um das, was deinen Lebensweg leiten und bestimmen soll, immer wenn du an einer Weggabelung stehst.“ Ich sehe meine Großmutter an wie ein Auto. Was hat sie das denn zu interessieren? Schließlich hat sie schon immer eine ausgeprägte Abneigung Klamotten, dem Beliebtsein und dem Großstadtleben allgemein entgegengebracht, und das halte ich ja für meine Bestimmung und mein Talent.