Kitabı oku: «Zwei Freunde», sayfa 3
Wichmann querte die Residenzstraße und suchte zum Abendessen die stille Weinstube auf, die er von seiner Studienzeit her noch kannte. Aber er fand nicht die Ruhe, lange am Tisch zu sitzen. Draußen war es immer noch lebhaft wie am Tag, ja lebhafter als bei Tag. Die großen Gefängnisse der Berufstätigen, die Ministerien, Geschäftshäuser, Fabriken, hatten sich geleert, und da schwärmte nun herum, was sich Mensch nannte … Mensch? Stenotypistin, Kontorist, Mechaniker, Beamter, Freundin, Ehefrau, Dirne – Mensch? Und einmal waren sie doch alle nackt geboren und mußten nackt sterben, und auf ihrem Grabstein stand ein großes Fragezeichen. Vielleicht waren dem barocken Heiligen mit seinem reichen Faltengewand daheim im geheimrätlichen Zimmer die Finger abgebrochen, als er in nächtlicher Stunde ein solches Fragezeichen in die Luft schrieb.
Oskar Wichmann tauchte in der nur matt beleuchteten Ungewißheit der Parkwege unter. Er zuckte etwas, als eine Frauenschulter die seine streifte. »Liebling?« fragte es im Dämmer. Wichmann verabscheute das starke und billige Parfüm. Er faßte die Mappe unterm Arm fester und ging weiter, ohne sich umzusehen. Auch seine Schritte waren leise auf den Erdwegen, leiser als auf dem Pflaster der Straßen. Die Luft war feucht. Im dürren Laub raschelte es. Eine Ratte? Die Enten und die Amseln waren längst schlafen gegangen.
Wichmanns Füße tappten tief; er war auf den Reitweg geraten. Der moorige Teich mit dem Schilfufer schimmerte rechts von ihm … Er hätte ihn links lassen müssen, wie er sich zu erinnern glaubte. Unschlüssig blieb er stehen. Er hatte seinen Weg verfehlt.
»Alphonse …«
Es war nur ein Hauch, den ein weicher Flügel der Phantasie zu ihm trug. Keine Dirne, die sich frech an ihm rieb … gar nichts … nur eine Stimme der Bäume und des aufziehenden Monds.
Der Teich blinkte auf im Himmelsschein, die Schilfblätter neigten sich vor dem Nachtgestirn, und ein schlafender Schwan träumte mit leisem Zucken im Gefieder.
»Alphonse …«
Der Lauscher wagte nicht, sich zu rühren.
Erst als seine Finger kalt wurden und er ahnte, daß die Nymphen ihn gefoppt hatten, kehrte er um und suchte im hilfreichen Mondschein den Weg, der ihn zu der Kreuderstraße zurückführte.
Das Erlebnis war sehr merkwürdig gewesen.
Wichmann ließ es langsam in sich ausschwingen. Als er die heimische Straße gefunden hatte, schlenderte er auf der linken Seite, auf der Seite des Ahornbaums und des schmiedeeisernen Tores, an die er sich erinnerte, und schaute hinüber zu seinem Hause. In dem Zimmer, das er im Hochparterre bewohnte, ging eben das elektrische Licht an. Er erkannte die bronzene Deckenbeleuchtung und Martha, die die schweren Gardinen schloß. An dem Verlöschen der hellen Ritzen war zu erkennen, daß das Licht wieder ausgeschaltet wurde.
Der Reiz, das Eigene zu beobachten, hielt den Heimkehrenden noch an seinem Platz fest; mehr als diesen Beweggrund seines Verhaltens gestand sich sein Bewußtsein nicht ein. Seine Augen streichelten das gediegene alte Wohnhaus mit den hohen Fenstern und Räumen, das vielleicht mit der Straßenlaterne zusammen von dem alten Herrn Geheimrat mit dem weißen Krausbart träumte, der hier gewohnt hatte und mit seinen federnden Schritten und dem zierlichen Spazierstock hier aus und ein gegangen war, bis er zwischen sechs schwarzen Brettern Raum fand und nur noch sein Bild auf den Tisch schaute, an dem die allein gebliebene Gattin einem höflich zuhörenden Assessor von ihm erzählte. Es jährte sich der Tag, an dem Oskar Wichmann am Sterbebett des eigenen Vaters dem Tode begegnet war.
Im nächtlichen Nebel schien das Haus, das er betrachtete, selbst nur wie ein Spuk; die Fliederbüsche und Mandelbäumchen im Vorgarten verschwammen mit den Schatten der Steinfront, und die wallenden Schleier umgarnten das Laternenlicht immer mehr, so daß es sich still in sich selbst zurückzog. Das Dunkel der Herbstnacht siegte in der Straße. Oskar Wichmann fröstelte von neuem.
»Alphonse?«
Er stand immer noch still. Er sah niemanden und hörte nichts. Der Wind hatte sich gelegt, und auch das Rauschen im Ahorn war verstummt. Kein Laut.
Er löste den Rücken von dem Gartenzaun ab, an den er sich unbewußt gelehnt hatte, und ging langsam über die Straße hinüber.
Sein Schlüssel drehte sich im Schloß; die große Tür schnarrte beim Öffnen, und er stieg die steile, teppichbelegte Treppe im Schein der matten und ihn doch fast blendenden Beleuchtung bis zu der Wohnungstür. Martha öffnete, ehe er aufschließen konnte. Sie mußte sein Kommen beobachtet haben. Wichmann empfand diese Erkenntnis als störend.
Die gereizte Empfindung verflog wieder, als er dem Bilde des Geheimrats gegenüber an dem großen Tisch saß, der fast die Bezeichnung Tafel verdiente, und mit der verwitweten Geheimrätin zusammen das Gebäck verzehrte, das sie ihm freundlich noch auftischte. Es war ihm zunächst nicht nach dieser Gesellschaft zumute gewesen, aber die Fürsorge der alten Dame tat dem von zu Hause Verwöhnten dann doch wohl.
Wichmann erzählte wenig von seinem Tag und ließ sich gern mit einer Zigarette schweigend in einen Sessel nieder. Die Eindrücke waren zu vielfältig gewesen, um schon verarbeitet zu sein. Die Geheimrätin begann eine Patience zu legen, und Wichmann sah ihr zu, während die lebhaften Bilder des ehrgeizigen Korts und der mondänen Bibliothekarin, der Eindruck Grevenhagen und die Ahnung Boschhofer sich vor ihm hoben und senkten und mit seinen eigenen Hoffnungen und Plänen vermischten und er endlich Grevenhagen als Staatssekretär und sich selbst als Ministerialdirektor sah, während Korts … Nein, Korts war dabei nicht unterzubringen, obwohl Wichmann für den Mann mit der ungebrochenen Sicherheit etwas übrig hatte.
Unter den seidenbezogenen Daunen lag es sich heute überraschend gut. Es war doch der richtige Entschluß gewesen, einen verhältnismäßig großen Teil der Einkünfte zu opfern und in dieses Haus zu ziehen.
Alphonse …
Wichmann hatte den Ellbogen aufgestützt und hielt das Blatt mit dem grünen Fragezeichen hoch über seine Augen; die Stehlampe gab ihren geduldigen Schein dazu. Dieses Fragezeichen schwebte über der Karriere seines Vorgesetzten, über den Hoffnungen des schüchternen Baier, des ehrgeizigen Korts, der leichtsinnigen Bibliothekarin und letzten Endes auch über seiner eigenen. Wenn er den Sinn entzifferte …?
Der Assessor unter der Daunendecke setzte sich auf und starrte auf das Blatt. Aber es kam ihm kein erleuchtender Gedanke. Morgen vielleicht, in der Frühe vor Dienstbeginn, würde er schärfer denken können.
Wichmann ordnete die vier Blätter wieder in die blaue Mappe, legte sie auf den Rauchtisch neben seiner Couch und löschte die beiden Birnen unter dem seidenen Schirm der Stehlampe.
Müde legte er sich zurück.
Durch das Dunkel des Zimmers zogen sich vor die geschlossenen Lider des Einschlafenden wieder Gestalten und Farben. Er lag mit dem Kopf gegen die Fensterseite; wenn er den rechten Arm hob, griff er an die Wand, die mit einer Bastmatte gegen die Folgen solcher Versuche geschützt war. Die Gleichheit der Tastempfindung gaukelte seinen entschlummernden Sinnen vor, daß er in der Heimat in seinem Knabenbett liege und die ältere Schwester, die Mutterstelle vertrat, das Zimmer verlassen und das Licht gelöscht habe. In der Überzeugung, daß das Nesthäkchen Oskar einschlafe, war sie gegangen, für den Jungen aber fing damit die heimlichste Stunde an, in der seine Seele durch die Länder und Meere zog. Nur, wenn am nächsten Tag eine Prüfungsarbeit in der Schule vorgesehen war, hatte der Junge auch diese eigentümliche Spannung in sich gespürt, dieses Hinundhergerissenwerden zwischen den bunten Wunsch träumen und der vorbereitenden Überlegung für den Alltag, das ihn heute nicht zur Ruhe kommen ließ. Die Kraft der freien Vorstellung und die Strenge des Denkens, Gleichgültigkeit gegen das praktische Leben, vor dessen Schwierigkeiten ihn Vermögen und Stellung des Vaters immer beschützt hatten, aber auch ein schnell gekränkter Ehrgeiz wohnten damals wie heute unversöhnt in seinem Innern. Sein Ich hatte noch nicht jene Stärke, mit der es verschieden gerichtete Begabungen und Triebe zu einer Ordnung zusammenfassen konnte. Wie ein junges und munteres Gespann unter schwacher Kutscherhand liefen Phantasie, Verstand und Vernunft nebeneinanderher und brachten den Wagen vorläufig schnell, aber nicht ganz sicher vorwärts.
Gedanken und Gefühle lösten sich erst nach Mitternacht. Sie sanken zur Ruhe wie die Blätter, die der Wind umgetrieben hat und die in still werdenden Lüften auf die empfangende Erde schweben. Wichmann wußte nichts mehr von sich.
Als er nach dieser Nacht erwachte, war er sogleich hell bei Sinnen. Seine Hand stellte den Wecker ab, ehe der sein mißtönendes Geplärr erheben konnte, und brachte dann, mit etwas Strecken und Rucken der Schultern, die blaue Mappe vom Rauchtisch herüber auf die Daunendecke. Die beiden Birnen der Stehlampe wehrten sich mit ihrem Strahlen unter grünem Schirm gegen den Dämmerschein, den ihr künstliches Licht auflösen wollte.
Dem Boschhofer ist alles zuzutrauen …! hatte Baier gesagt.
Oskar Wichmann versuchte, in die Seele des fremden Mannes hineinzukriechen. Boschhofer hatte ein Exposé erhalten von einem Ministerialrat, der sein Vorgänger in der Abteilungsleitung und jetzt sein Untergebener war und den er aus irgendwelchen Gründen nicht schätzte. Der Inhalt des Exposés behagte Boschhofer nicht, er hatte sich nicht bereit finden wollen, es an den Staatssekretär weiterzugeben. Der Ministerialrat bestand darauf, daß Boschhofer es der höheren Stelle vorlege … hatte er das Recht dazu als Untergebener? Neuerdings ja … er verlangte es jedenfalls, Boschhofer tobte und entschloß sich endlich, dem Verlangen nachzugeben. Ohne Zweifel in der Absicht, den Staatssekretär von vornherein gegen die Darlegungen Grevenhagens einzunehmen. Wichmann glaubte, den Mastochsen-König, den Herrn der öligen Lundheimer, vor diesen Blättern sitzen zu sehen. Von oben herab, über die Fülle seines Leibes schaute er auf die Buchstabentypen der Adlermaschine, den kurzen weichen Blei angriffslustig in der Hand. Er durfte nicht alles durchstreichen, was ihm mißfiel, dann hätte er die ganze Ausarbeitung durchstrichen und zerrissen, aber er durfte anstreichen, was seiner eigenen Meinung dienen konnte … Vorläufig, ja, nach den bis jetzt greifbaren Daten, war die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Arbeitslosenversicherung gering … gering, Herr Ministerialrat, gering, das müssen Sie selbst als die einzig feststehende Tatsache nennen … dick unterstrichen gering … alles andere ist gewollte Schwarzmalerei …
Mit dem suggestiven Strich auf der zweiten Seite gingen die Blätter zum Herrn Staatssekretär. Aber dieser Kleinigkeitskrämer war von Boschhofers Schwung nicht so rasch mitzureißen. Bedenklich, mit der Hartnäckigkeit des Ängstlichen malte, nein, stach er ein grünes Fragezeichen.
War es so gewesen?
Die Bilder standen eindringlich vor Wichmanns Augen. So mußte es gewesen sein.
Und nun? Sollte der Ministerialrat Grevenhagen seinem Feind und Vorgesetzten, Herrn Boschhofer, Josef Boschhofer, versichern: Der Herr Staatssekretär haben nicht die Ausführungen des Exposés, sondern haben Ihren dicken Strich beschnüffelt und bezweifelt, Herr Ministerialdirektor?
Lieber Himmel! Aber Grevenhagen würde ja wissen, was er zu tun hatte.
Wichmann legte die Unheil kündenden Blätter wieder sorgsam in die Mappe und fuhr aus den Federn, um die Stehlampe auszuschalten und die Gardinen aufzuziehen. Der Wecker, dem der Triumph seines Tages entrissen worden war, hatte sich gerächt und war heimlich in erstaunlichem Tempo vorangeeilt. Wichmann mußte sich schleunigst fertigmachen.
Die kühle Morgenluft, die zum offenen Fenster hereinströmte, und das kalte Wasser, das in der Wanne über ihn hinwegrieselte, zogen seinen Körper zusammen und strafften ihn.
Er hatte nach dem wohltuenden Frühstück einen lächerlichen Einfall und steckte dem barocken Heiligen eine Zigarette zwischen die übriggebliebenen Finger, auf die Gefahr hin, von der Geheimratswitwe künftig als ein ruchloser Charakter verabscheut zu werden.
Heute mußte die Aktenmappe aus Schweinsleder, Abschiedsgeschenk der älteren Schwester, der der »kleine Bruder« entkommen war, zum Dienst antreten. Die Blätter mit dem grünen Fragezeichen waren ihr erster Inhalt.
2
Ein Motor lief an und verursachte ein Geräusch in der Morgenstille der Kreuderstraße. Wichmann, schon in Hut und Handschuhen, warf noch einen Blick durch das Fenster. Ein dunkles Kabriolett entschwand eben in Parkrichtung.
Nun aber schnell. Es war acht Minuten vor halb neun Uhr. Er wollte nicht die Manieren der Lotte Hüsch annehmen.
Der Weg ließ sich angenehm gehen, wenn die Morgensonne um die erhobene Nase spielte. Der Assessor betrat am zweiten Tage seines Dienstes das helle Gebäude mit eiligen Schritten durch den Nebeneingang in der Ottostraße und begab sich in seine möblierte Zelle.
Hut und Aktentasche gehörten in den Schrank, die blaue Mappe in den Schreibtisch. Das Fenster konnte etwas weiter geöffnet werden. Auf dem »Eingangsplatz« des Aktenbocks hatten sich heute schon viele Mappen angefunden; die Amtsgehilfen begannen den Dienst eine halbe Stunde früher. Der Assessor blätterte die Eingänge flüchtig durch. Blaustift: »Herrn Wi z. K … G.« – »Herrn Wi z. K … G.« Der Ministerialrat gab seinem Mitarbeiter Verordnungen, Erlasse und Schriftstücke, die mit einem vorzubereitenden Gesetz zusammenhingen, »zur Kenntnis.« Wichmann las und machte sich Notizen, während er die blaue Mappe in der Mittelschublade seines Tisches wußte. Er war sich nicht schlüssig, ob er sich zur Berichterstattung über seine kriminalistischen Denkergebnisse bei dem Ministerialrat anmelden oder ob er dessen Anruf abwarten solle. Seine Unentschlossenheit führte dazu, daß er wartete.
Das Telefon rief.
»Wichmann.«
»Vorzimmer Ministerialdirektor Boschhofer. Der Ministerialdirektor bittet Sie, in einer Viertelstunde zu ihm zu kommen.«
»Jawohl. Danke.«
In einer Viertelstunde. Na schön.
Sollte er Grevenhagen oder wenigstens Fräulein du Prel davon unterrichten? Vielleicht suchte der Ministerialrat seinen Assessor und die blaue Mappe eben in den fünf Minuten, die dieser sich zur Vorstellung bei Boschhofer aufhalten würde.
Der Apparat von Fräulein du Prel war besetzt.
Wichmann blätterte in den Schriftstücken, die er vor sich hatte, ohne Aufmerksamkeit weiter. Der Anruf war um neun Uhr fünfundvierzig erfolgt. Drei Minuten vor zehn Uhr wollte der Assessor sich auf den Weg in den ersten Stock machen.
Der Apparat von Fräulein du Prel war noch immer oder schon wieder besetzt. Er würde der Sekretärin im Vorbeigehen Bescheid sagen. Den Schlüssel zur mittleren Schreibtischschublade steckte er zu sich.
Es war an der Zeit. Wichmann verließ sein Zimmer, ging den dunklen Korridor entlang und unterrichtete Fräulein du Prel, die schwarz gekleidet, zart und unnahbar wie am Vortag in ihrem hellen Zimmer saß. Der Zinnienstrauß am Fenster blühte noch frisch.
Wichmann ging die Vordertreppe zum ersten Stock hinunter.
Nr. 69, Front gegen den Königsplatz; braun gebeizte Türen mit den Namensschildchen. Vorzimmer … Wichmann machte eine sehr leichte Verbeugung, der mit entgegen kommendem Lächeln gedankt wurde. Laura Lundheimer war in dem Alter, in dem man die Jugend zu schätzen beginnt. Der herzförmige Ausschnitt ließ die Ansätze des Busens erkennen; um das gepuderte Gesicht mit den vollen Wangen waren industrieblonde Locken gruppiert, mit dem Wunsch zu gefallen, doch nicht so schick, wie die Hände von Fräulein Hüsch sie legen konnten.
»Bitte … der Ministerialdirektor ist frei.«
Wichmann trat ein.
Die indifferente und respektvolle Miene, die dem neu angestellten Assessor angesichts des ihm vorgesetzten Ministerialdirektors zukam, war ein Schild vor Wichmanns Empfindungen. Dieser amtlich angenommene Ausdruck aber, mit dem er eine Verwirrung seines Innern verbarg, steigerte diese Verwirrung nur, denn der Natur des jungen Mannes war Heuchelei noch fremd. Er fühlte sich befangen in den Fäden seiner eigenen Gedanken und Gefühle, die er der Phantasievorstellung »Boschhofer« gegenüber gehegt hatte, und vermochte es nicht mehr, dem Manne, vor dem er stand, frei in die Augen zu sehen.
»Nehmen Sie Platz.«
Da kein schlichter Stuhl in der Nähe war, rückte Wichmann den lederbezogenen Sessel, der neben dem Schreibtisch stand, zurecht und ließ sich nieder. Der Sessel war kurzbeinig. Der Assessor versank darin und schaute, aus unnatürlicher Tiefe, hinauf zu der unnatürlichen Höhe der Masse Boschhofer und den runden Brillengläsern.
»Sie sind zu uns einberufen worden. Ich würde gern von Ihnen hören, was Sie von Ihrer Arbeit hier erwarten.« Die Stimme klang volltönend zwischen vollen Lippen hervor. Der Sprecher hatte die Ellbogen auf die Lehnen seines Schreibtischstuhles gestützt, und seine Finger berührten sich vor dem gewölbten Leib. Wichmann schätzte auf annähernd zwei Zentner, dennoch wirkte der Koloß nicht unförmig, die Größe glich aus.
»Ich hoffe, eine neue Materie kennenzulernen und dabei einiges Nützliche zu leisten.« Wichmann war unzufrieden mit sich; er fand seine Antwort schülerhaft.
»Sie müssen selbständig sein und Ideen haben … Energie, Initiative entwickeln … Ministerialrat Nischan hat Wert auf Ihre Einberufung gelegt. Es ist mein Prinzip, die Jugend zu uns heranzuholen, endlich einmal frisches Blut in unseren alten Bau! Sind Ihnen schon Arbeiten übertragen worden?«
»Eine Zusammenstellung zu den kommenden Etatverhandlungen … habe ich Herrn Ministerialrat Grevenhagen vorgelegt.«
Der Ministerialdirektor schien den anderen Namen zu überhören. »Sie müssen sich nicht in Ihr Referat hineinwühlen wie ein Maulwurf, der für alles andere blind wird. Schauen Sie sich um, ein Beamter muß mit allem Bescheid wissen heute! Haben Sie sich schon für Wirtschaft und für Konjunktur interessiert?«
»Nebenbei – ja.«
Der Antwortende erinnerte sich daran, daß ihm eine ähnliche Frage aus anderem Mund am Tage zuvor gestellt worden war.
»Ich habe da … das können Sie sich einmal ansehen … vertraulich …« Aus einem Seitenzug des Schreibtischs kamen vier geheftete Blätter hervor.
»Hier … hm … – …« Boschhofers mächtige Pfoten blätterten und griffen nach einem Stift, »… da … schauen Sie sich das einmal an … oder … hm …« Die Masse des Leibes schob sich vor, und die Pranke malte eine rote Schlange. »Was sagen Sie dazu … warum mache ich hier ein Fragezeichen?«
Oskar Wichmann nahm die Blätter in die Hand.
Die Buchstaben hatten andere Typen, sie waren nicht mit der Adlermaschine geschrieben.
Die Zahl der Hauptunterstützungsempfänger in der Arbeitslosenversicherung … Rotes Fragezeichen.
»Um mich hereinzulegen, Herr Ministerialdirektor.«
Wichmann war zumute wie im Gebirge bei einem Sprung über einen Abgrund.
»Haho … um Sie hereinzulegen! Lieber Herr Assessor …« Boschhofer wurde beweglich und beugte sich weit über die Schreibtischplatte hinüber zu dem jungen Mann, der in dem kurzbeinigen Sessel saß und den kalten Schweiß in den Handflächen fühlte. »Hoha … Sie haben es hinter den Ohren. Das gefällt mir! Nur nicht verblüffen lassen! Ich sage manchmal etwas, nur um den andern zu prüfen, um zu sehen, ob er selbständig denken kann. Hereinzulegen, ausgezeichnet! Sie werden Ihren Weg machen, junger Mann! Denken Sie einmal daran, daß ich Ihnen das gesagt habe. Hereinzulegen! Hoha. Lesen Sie nur das ganze Blatt … und sagen Sie, was Sie dazu meinen.«
»Der Inhalt ist mir bekannt, Herr Ministerialdirektor.«
Boschhofer lehnte sich zurück, die Lehne knackte. »Ach so? Bekannt?! Um so besser. Nun?«
»Es ist das erstemal, daß ich auf die Voraussicht einer wirtschaftlichen Katastrophe gestoßen bin, Herr Ministerialdirektor.«
»Soso, das erstemal. Und?«
»Die Darlegungen scheinen ebenso verblüffend wie einleuchtend.«
»So. Meinen Sie. Wer kann denn ein Interesse an einer Katastrophe haben? Verstehen Sie mich? Ein Interesse?«
»Niemand, Herr Ministerialdirektor. Weder die amerikanischen Gläubiger, die ihr Geld hier investieren, noch wir selbst, die das Ledigwerden von Verpflichtungen durch Zahlungsunfähigkeit mit großem Elend büßen müßten.«
»Sehr zierlich ausgedrückt … aber Sie haben recht. Niemand hat ein Interesse daran außer einigen Narren. Es grenzt an Vaterlandsverrat, solche Dinge an die Wand zu malen … verstehen Sie? Wollen Sie mir Ihre Formulierungen einmal kurz schriftlich niederlegen? Für mich persönlich?«
Wichmann strich über die Armstütze des Sessels. Seine Augen hatten sich gesenkt. »Ich arbeite in dem Referat von Herrn Ministerialrat Grevenhagen, Herr Ministerialdirektor.«
»Grävenhagen …?«
Wichmann erschrak. Der Götze vor ihm hatte die Maske gewechselt.
»Ah so. Grävenhagen? Dann war das ein Irrtum … Und jetzt haben Sie Angst vor dem Grävenhagen, was?«
Wichmann ärgerte die respektlose Art, in der Boschhofer von Wichmanns Vorgesetztem sprach. »Angst? Ich habe keine Ursache, Herr Ministerialdirektor.«
»Der Grävenhagen hält seine jungen Leute sehr unselbständig. Bleiben Sie nicht im Zustand eines Schulkindes. Ich rate Ihnen das! Wovor fürchten Sie sich denn? Zehn Jahre Altersunterschied machen den Kohl nicht fett und den Verstand nicht immer schärfer. Sie müssen sich auf Ihr eigenes Urteil verlassen, Herr Assessor. In Ihrem Alter ist der Grävenhagen schon was weiß ich gewesen. Nun? Wie steht’s?«
»Ich habe anzunehmen, daß Sie, Herr Ministerialdirektor, mir einen dienstlichen Auftrag erteilen wollen?«
»Ich will gar nichts … Bewahren Sie Ihre Unschuld, mein Kind. Wie formulierten Sie das vorhin so hübsch? Einen Augenblick …«
Die Pranke drückte auf den Knopf, die Zwischentür öffnete sich, und Frau Lundheimers industrieblonde Locken erschienen.
»Bitte schreiben Sie …«
Die Dame nahm an dem runden Tisch Platz, der zwischen Ledersofa und Klubsesseln stand.
»Schreiben Sie: ›An einem wirtschaftlichen Zusammenbruch kann niemand interessiert sein, und er wird daher auch verhindert werden, selbst wenn sich einige Tendenzen dazu zeigen sollten. Die amerikanischen Gläubiger, deren Kapital hier investiert ist, haben an der Erhaltung des wirtschaftlichen Aufschwungs ein ebenso großes Interesse wie die deutsche Wirtschaft selbst, die das Ledigwerden von einigen Zahlungsverpflichtungen nicht mit einer Katastrophe erkaufen kann oder will. Jede andre Auffassung ist Desperadopolitik und amtlich aufs schärfste abzulehnen, wo sie auch hervortreten mag … Ja, schreiben Sie das vorläufig einmal. Mit einem Durchschlag.«
Frau Lundheimer zog sich zurück.
»Nun, mein Herr Assessor …«
Wichmann stand auf.
»Sie können mir etwas darüber erzählen, wo Sie eigentlich herkommen. Ihr Vater war bei den Christlichen Gewerkschaften?«
Das ›Nein, sondern … ‹ konnte Wichmann nicht aussprechen, denn das Telefon rief. Der Ministerialdirektor nahm den Hörer ans Ohr.
»Ach so … ist schon Viertel nach zehn Uhr? Ja, ich lasse bitten.«
Wichmann machte einen erneuten Versuch, sich zurückzuziehen, der aber von Boschhofer verhindert wurde. »Warum so eilig, mein junger Mann? Wohin zieht es Sie? Herr Grävenhagen wird gleich hier sein. Ich erinnere mich wieder, daß ich ihn bestellt habe. Es handelt sich um die Angelegenheit, über die wir eben sprachen. Vielleicht können Sie uns dabei weiter nützlich sein.«
Wichmann ergab sich und stellte sich zur Seite, abseits vom Schreibtisch und von der Tür.
Seine Unruhe war so stark, daß sie ihm fühlbar die Nerven zusammenzog, während seine Augen kleiner wurden, um das Innere nicht nach außen scheinen zu lassen.
Grevenhagen trat durch das Vorzimmer ein. Die Besonderheit seiner Erscheinung wirkte durch den Gegensatz zu Boschhofer auf Wichmanns eindrucksfähiges Empfinden noch stärker als das erstemal. Als die Schultern der schlanken Gestalt eine Verbeugung vor dem Ministerialdirektor angedeutet hatten und die blauen Augen Wichmann streiften, trieb es dem Assessor beim respektvollen Gruß das Blut in die Wangen. Er dachte daran, daß Boschhofers List ihm Gedanken entlockt hatte, die jetzt die Waffen einer vergifteten Argumentation gegen Grevenhagen werden konnten. Wer hatte ein Interesse an einem wirtschaftlichen Zusammenbruch? Niemand, nein, niemand. Aber das Interesse stand auch nicht zur Debatte, sondern um die Erkenntnis sollte es gehen. Das hatte er Boschhofer nicht ins Gesicht gesagt.
Wichmann fühlte, wie er glühte vor Scham über seine Halbheit und Unterlegenheit. Grevenhagen mußte ihn für einen Schleicher halten. Der Gedanke verwirrte ihn derart, daß der Ministerialrat über die äußeren Anzeichen von Wichmanns Verlegenheit zu stutzen schien. Dem Assessor entging das nicht, und das Bewußtsein, daß Grevenhagen jetzt bei ihm ein böses Gewissen, sei es, worum es wolle, vermuten werde, steigerte seine stumme Erregung.
Der Ministerialrat nahm Platz. Er zog aus einer Ecke einen einfachen Stuhl hervor, der Wichmann entgangen war, und saß nun, ein Bein über das andere geschlagen, nicht zu nahe bei Boschhofers Schreibtisch. Sein heller Anzug, den Wichmann mit abirrenden Gedanken auf englisches Tuch sagenhafter Qualität einschätzte, die genau dazu abgestimmten Seidensocken und die Halbschuhe waren mit dem grauen Haar das Bild zurückhaltender Eleganz. Die weißen Hände mit dem Siegelring hatten sich zusammen gelegt. Grevenhagen wartete mit einer gewissen reservierten Anmaßung. Wichmann fiel Boschhofers Bemerkung ein »Zehn Jahre Altersunterschied …« Grevenhagen war höchstens sechsunddreißig Jahre alt.
»Ich danke Ihnen, Herr Kollege, daß Sie gekommen sind …« Die Stimme des Mastochsenkönigs rollte. »Sie haben daran gedacht, mir Ihr Exposé noch einmal mitzubringen?«
»Herr Wichmann …« Grevenhagen sah seinen Assessor an.
Dem Assessor genügte die Namensnennung, um sich sofort auf den Weg zu machen.
»Halt … Herr Kollege Grävenhagen, weiß Herr Wichmann, wo Sie das Stück verschlossen haben?«
»Ich nehme an, daß er weiß, wo er es eingeschlossen hat. Ich habe mir erlaubt, es ihm zum Durchlesen zu geben.«
»Ach … haben Sie den Text auch anderen Herren zur Kenntnis gegeben? Ich hatte Sie doch um äußerste Diskretion in der Behandlung gebeten!«
Mehr hörte Wichmann nicht mehr. Er schloß die Zwischentür sehr sorgsam hinter sich, eilte an der bunt gekleideten Frau Lundheimer vorbei und sprang die weich belegten Treppen über zwei und drei Stufen hinauf bis zum oberen Stockwerk. Als er in seinem Zimmer anlangte, klopfte ihm das Herz. Er griff in die falsche Tasche und fand den Schlüssel nicht gleich. Äußerste Diskretion! Aber eine Abschrift anfertigen lassen und sie selbst Herrn Wichmann zeigen … Herr Ministerialdirektor Boschhofer, das ist etwas anderes, als was Ministerialrat Grevenhagen getan hat?!
Endlich faßte die Hand den Schreibtischschlüssel und schloß die Mittelschublade auf. Wichmann schüttelte eine unbegründete Angst ab, daß sich das Schriftstück nicht mehr an seinem Platz befinden könne. Hier … die wohlbekannte blaue Mappe, darin die vier Blätter, eins, zwei … drei … vier … auf dem zweiten das grüne Fragezeichen. Alles in Ordnung, Gott sei gelobt.
Wichmann lief zurück. Ein Mann mit der Haltung eines preußischen Gardegrenadiers begegnete ihm und verfolgte offenbar mißachtend und unwillig die würdelose Eile des Anfängers. War das Pöschko? So mußte Pöschko aussehen.
Vorbei.
Wichmann trat unangemeldet wieder in das Zimmer des Ministerialdirektors ein.
Grevenhagen und Boschhofer saßen sich schweigend gegenüber. Die Stimmung im Raum war nicht friedlicher geworden.
»Ah …« Der Ministerialdirektor streckte die Hand aus. »Danke.« Er öffnete die blaue Mappe und blätterte zur zweiten Seite. »Wollen Sie bitte noch etwas Platz nehmen, Herr Wichmann? Wenn Sie keine sehr dringende Abhaltung haben. Bitte … hier.«
Wichmann versank in dem ihm schon verhaßt gewordenen kurzbeinigen Sessel. Er hatte ihn so gerückt, daß er Grevenhagen nicht den Rücken zukehrte.
»Ja – das Fragezeichen, Herr Kollege Grävenhagen.« – Boschhofer konnte das geschlossene »e« nicht sprechen; er sagte immer »Grävenhagen«. – »Sie waren so freundlich, Herr Kollege, das Fragezeichen inzwischen aufzuklären? Ich bin um halb zwölf Uhr zum Herrn Staatssekretär bestellt.«
»Sie können dem Herrn Staatssekretär versichern, Herr Ministerialdirektor, daß der beanstandete Satz sachlich völlig einwandfrei ist.«
»Das mag ja sein. Aber ich bat Sie, das Fragezeichen aufzuklären! Der Herr Staatssekretär erwartet ohne Zweifel, daß wir seine Bedenken beheben.«
»Der Satz ist unbedenklich.«
Boschhofer schüttelte den Kopf und wiegte die mächtigen Schultern. »Es handelt sich um die Bedenken des Herrn Staatssekretärs. Wir müssen dazu Stellung nehmen.«
»Dann bitte ich darum, mir diese Bedenken sachlich zu erläutern.«
»Aber Herr Kollege, eben darum habe ich ja Sie hierher gebeten! Ich bin kein Fachmann, meine Aufgabe ist Organisation, Leitung! Ich muß mich in den Sachfragen auf Sie verlassen können. Sie haben dieses Exposé verfaßt. Auf Ihr Verlangen habe ich es dem Staatssekretär vorgelegt. Ohne Zweifel werden Sie – und niemand besser als Sie – auch erraten können, welche Bedenken dem Herrn bei diesem Satz hier aufgestiegen sein können!«
»Ich wiederhole: Der Satz ist unbedenklich. Das kann Ihnen jeder Student im zweiten Semester sagen, wenn er die Statistik verfolgt.«
»Herr Kollege – ich bitte, in meiner Gegenwart nicht Äußerungen zu tun, die auf eine Verächtlichmachung des Herrn Staatssekretärs hinauslaufen können! Ich weiß, daß Sie das nicht beabsichtigen. Aber jedenfalls, Sie erklären sich – zu meinem großen Bedauern – außerstande, die Bedenken des Herrn Staatssekretärs zu zerstreuen.«
»Ich nehme an, daß sich diese Bedenken nicht auf die von mir gemachte Tatsachenfeststellung in dem bezeichneten Satz beziehen.«