Kitabı oku: «Angsttier»

Yazı tipi:

Lola Randl

Angsttier

Roman

Unverkäufliches Leseexemplar

Erscheinungstermin 17. Februar 2022

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Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Da wurde seine Reue so groß,

dass ihm Zorn und Tobsucht ins Hirn schoss.

Er vergaß Anstand und Erziehung,

zerrte sein Gewand vom Leib, bis er völlig entblößt war.

So lief er über das Gefilde nackt in die Wildnis.

Iwein von Hartmann von Aue

I

Wenn man Eiszeit sagt, meint man meistens eigentlich Kaltzeit und wenn man ehrlich ist, weiß kein Mensch, wann und wie Kaltzeiten entstehen.

Zuerst wurden die Sommer nur ein bisschen kühler, aber hundert Jahre später waren sie dann schon richtig kalt und bald froren nicht nur die Seen, sondern auch die Flüsse zu und tauten nicht wieder auf. Mit jedem Niederschlag, der meist als Schnee fiel, wurde die Schicht ein bisschen dicker, und weiter oben im Norden waren manche Eisplatten schon kilometerdick.

Die Straße ging jetzt schon eine gefühlte Ewigkeit immer geradeaus durch einen Kiefernwald. Nicht einmal eine Gelegenheit irgendwohin abzubiegen gab es, und so fuhren sie immer weiter und Jakob redete ohne Unterlass.

»Alles ist flüssig«, sagte er und machte eine kleine Kunstpause, um seiner Behauptung die richtige Wirkung zu verleihen. »Also natürlich ist nicht alles flüssig, aber die Gletscher schon.« Er beschrieb, wie sich die mächtigen Eisschilde nach Eurasien hineinschoben, wie sie durch die Gebirge flossen, sich in die Ebenen und in die Meere ergossen und alles unter sich begruben, was sich ihnen in den Weg stellte. Bäume, Sträucher, die Hütten der Ureinwohner, einfach alles wurde zermahlen. Nur die großen Steine widersetzten sich ihrem Untergang und schliffen sich zu runden Kugeln ab.

Friedel hatte schon Schwierigkeiten, sich das vorzustellen. »Wie kann etwas Flüssiges so stark sein?«, fragte sie und machte Jakob damit glücklich.

Eigentlich war es ganz erholsam, dass es mal nichts zu sehen gab, keine Häuser, über die man sich begeistern konnte, keine Grundstücke oder verlassene Höfe. Sonst schauten sie immer nach rechts und nach links, fuhren langsamer oder sogar nochmal zurück. Sie liebten es so übers Land zu fahren und zu fantasieren, wo man leben könnte, aber auf die Dauer war es auch ein bisschen anstrengend.

Als sie schon gar nicht mehr daran dachten, machte die Straße eine Kurve, ging bergab und nach einer weiteren Kurve, als es wieder bergauf ging, lichtete sich der Wald und der Blick auf eine weite, hügelige Landschaft tat sich auf. Vielleicht lag es an dem endlos monotonen Waldstück, aber dieser Anblick schien Jakob das Zauberhafteste, was er seit Langem gesehen hatte. Die Landstraße war größtenteils mit Kopfsteinplaster belegt und rechts und links von uralten Bäumen gesäumt. Die Felder ringsum wurden immer wieder von Baumgruppen und Büschen unterbrochen und an den Wegrändern lagen Ansammlungen von großen Steinen. Dieses Szenarium kam ihnen im ersten Moment ganz unwirklich vor, ganz anders als die gewohnte Kulturlandschaft mit ihren rechteckigen Flurstücken, und Jakob dachte wieder an die Eiszeit, oder vielmehr Kaltzeit, deren letzte Ausläufer diese Gegend geformt hatten.

Das erste Dorf, in das sie dann kamen, schien ein ganz normales Straßendorf zu sein und fast wären sie einfach nur durchgefahren, aber dann entdeckte Jakob eine kleine Kirche, die komplett aus den Steinen gebaut war, die hier überall herumlagen. Während Jakob das alte Gemäuer inspizierte, wollte Friedel sich den Dorfladen ansehen. Auf der Infotafel an der Kirche war vom Abdruck einer Tatze die Rede, die in einem der Steine über dem Eingang zu finden sein sollte. Weil die Tatze nur drei Zehen hatte, war den Menschen klar, dass es sich um einen Abdruck des Teufels handelte, der die Kirche zum Einsturz hatte bringen wollen. Weil aber die Gläubigen in der Kirche inbrünstig gebetet hätten, musste der Teufel schließlich aufgeben. Jakob war ein paar Schritte zurückgegangen, um den Abdruck zu suchen, aber noch bevor er ihn finden konnte, winkte Friedel ihn zu sich rüber.

Liebe Mutter,

Du wirst es nicht glauben: Wir ziehen aufs Land! Ja, Du hast ganz richtig gehört. Unsere Tage in der Stadt sind gezählt, und warum auch nicht. Ich kann ja schreiben, wo ich will, und Friedel macht jetzt auch immer mehr Homeoffice und muss nur noch ganz ab und zu in der Agentur sein. Schon die Ausflüge am Wochenende sind ganz wunderbar und die Zeit zusammen ist ein schöner Vorgeschmack darauf, wie es einmal sein wird, wenn wir erst das Richtige gefunden haben. Vielleicht trete ich sogar in die freiwillige Feuerwehr ein, oder in den Angelverein. Da wunderst Du Dich über Deinen Jungen, dass ich mal so etwas mache, stimmt’s?

Dein Jakob

Auf den Immobilienportalen waren die Preise für Häuser, die nicht allzu weit von der Stadt entfernt waren, bereits ins Astronomische gestiegen. Ihre einzige Chance, noch etwas Erschwingliches zu finden, war herumzufahren, sich durchzufragen und darauf zu hoffen, irgendwann auf ein Haus zu stoßen, das noch ganz frisch zu verkaufen oder aus irgendwelchen anderen Gründen noch unentdeckt geblieben war. Die Leute hier auf dem Land waren allerdings von Natur aus eher redefaul, um nicht zu sagen abweisend. Es war also unerlässlich, die Initiative zu ergreifen, und jetzt kam ihnen zugute, was Jakob in der Stadt manchmal ein bisschen auf die Nerven ging: Friedels offene und zugewandte Art.

Der Laden war in einem flachen Anbau aus den sechziger oder siebziger Jahren untergebracht, der sich an ein unscheinbares Arbeiterhaus mit grau-braunem Putz lehnte. Als Jakob dazukam, erzählte der Ladenbesitzer gerade etwas über eine Softeismaschine, die sich nicht mehr lohne, sodass er jetzt immer eine ganze Ladung in Plastikschälchen rauslasse und in den Tiefkühler stecke. Während sie auf dem steinhart gefrorenen Maracuja-Softeis herumkratzten, erzählte der Mann weiter, dass er die Woche über mit einer Kernbohrfirma in der Stadt arbeite. Jakob wusste wirklich nicht, warum Friedel ihn herübergewunken hatte, sie schien aber ganz in ihrem Element zu sein und kitzelte aus dem Dorfladenbesitzer noch heraus, dass er um halb fünf Uhr früh mit drei anderen zusammen losfuhr, um dann ab sieben auf einer Großbaustelle Löcher in Beton und Steinmauern zu schneiden. Jakob musste sie erst mit einem kritischen Blick fixieren, um ihr ihre Mission wieder ins Gedächtnis zu rufen. Als sie dann noch erfahren hatten, dass der Mann hauptsächlich Schnaps an die Säufer verkaufte, die keine Fahrerlaubnis mehr hatten, hakte Friedel endlich nach, was denn das für ein Haus sei, von dem er anfangs gesprochen hatte, und ob sie da vielleicht mal hinfahren könnten. Der Mann stockte und schien zu überlegen, dann ruderte er zurück. Es sei doch ganz schön runtergekommen und auch ziemlich abgelegen, mit nur einem anderen Haus gegenüber. Die meisten würden dort nicht wohnen wollen. »Aber warum denn?«, tat Friedel unbesorgt und versicherte, dass sie sowieso viel selbst machen wollten und die Ruhe dringend benötigten. Der Mann zuckte nur mit den Achseln. »Von mir haben Sie das aber nicht«, sagte er und beschrieb ihnen den Weg.

Sie mussten noch ein Dorf weiter fahren, dann einen abschüssigen Hohlweg hinunter, der mit Betonplatten belegt war, und weiter bis zu den beiden letzten Häusern, bevor der Weg in den Wald abbog. Sie parkten mit etwas Abstand und spazierten dann ganz unauffällig am Haus vorbei, quer über eine Wiese, eine Anhöhe hinauf. Wenn man sie so sähe, wäre natürlich völlig klar, was sie vorhatten, dachte Jakob.

Sie kamen auf eine Lichtung und setzten sich jeder auf einen Baumstumpf. Von hier aus konnten sie das ganze Dorf überblicken. Es bestand aus ungefähr zwei Dutzend Häusern, drumherum erstreckten sich die Felder. Es war ein sonnenklarer warmer Frühlingstag und am Horizont konnte man auch noch die nächste Ansammlung von Häusern, das nächste Dorf erkennen. Jakob atmete tief ein und hielt die Luft an. Wie würden sie am besten vorgehen? Sollten sie sich gleich offenbaren oder erst irgendwann im Laufe des Gesprächs auf das Haus zu sprechen kommen? Er war davon ausgegangen, sie würden das jetzt ganz genau beratschlagen, aber Friedel breitete die Arme aus und rannte einfach los, den Hügel hinunter. Offen für alles, was kommt, ohne Skript, ohne Taktik. Was für eine aufgesetzte Geste, diese ausgebreiteten Arme, dachte Jakob. Schlimmer aber war, dass sie ihn hier einfach so sitzenließ. Er spürte einen leichten Groll in sich aufsteigen und hatte nicht wenig Lust, aus Trotz noch eine Weile hier oben hocken zu bleiben, aber was hätte das bringen sollen? Also stand er auf und stapfte ihr hinterher, mit durchgestreckten Knien den Hügel hinunter. Diese etwas ungesunde Art zu gehen verschaffte ihm eine gewisse Genugtuung.

Als sie davorstanden, wirkte das Haus im ersten Moment ernüchternd. Der scharfkantige Spritzputz war zu großen Teilen abgefallen, die Plastikfenster aus DDR-Produktion mit Gardinen verhangen. Am Giebel wuchsen an einem rostigen Metallgitter Rosenbüsche hoch, die schon lange nicht mehr geschnitten worden waren. Alles sah schäbig aus und wirkte wenig einladend. Das Beste war das hügelige Feld, das sich hinter dem Haus erstreckte. In einer der Senken hatte sich Wasser gesammelt und es war ein kleiner Teich entstanden, auf dem etwas verloren zwei Schwäne schwammen. Wie groß diese Tiere doch waren, oder war nur der Tümpel so klein?

Ohne zu zögern, hatte Friedel den Knopf der Funkklingel gedrückt, der auf den glänzenden Edelstahlbriefkasten geklebt war. Kurz darauf bewegten sich die Gardinen, aber die Person dahinter wollte sich offensichtlich nicht zeigen. Jakob wäre in diesem Moment zurück zum Auto gegangen, aber Friedel klingelte gleich noch zweimal hinterher. Nicht viel später kam tatsächlich eine alte Frau hinter dem Haus hervor, tat aber eher so, als ob sie zufällig nach vorne käme und nicht weil Friedel geklingelt hatte. Ihr Strickoberteil, mit einem für ihr Alter recht großen Ausschnitt, hatte sie in die gesprenkelte Freizeithose gesteckt und diese so weit es ging nach oben gezogen. Sie wirkte wenig überrascht, dass sie da standen, und schlurfte mit ihren Plastikclogs und einem Eimer in der Hand zu ihnen ans Gartentor. Nachdem Jakob Hallo gesagt hatte und die Frau nicht reagierte, war er etwas aus dem Konzept gebracht, das es ja gar nicht gab. Vor allem aber lenkte ihn die Bewegung im Eimer ab, den die Frau hinter dem Türchen abgestellt hatte. Als er genauer hinsah, erkannte er, dass das Gefäß voller Schnecken war. Einige krochen bereits oben auf dem Rand herum, die anderen, weiter unten, waren nur ein matschiges Bündel aus Gehäusen und Kriechfüßen.

»Fressen wohl das Gemüse?«, fragte Jakob, um die Konversation doch noch in Gang zu bringen.

»Sind für die Enten«, antwortete die Frau knapp und schien damit das Gespräch schon wieder beenden zu wollen. Jetzt war es gut, dass Friedel die Führung übernahm und loslegte, wie toll doch das Haus sei und dass der nette Ladenbesitzer ihnen gesagt habe, dass es vielleicht zu verkaufen ist. Und überhaupt, dass sie ein junges Paar seien, ihr Leben radikal verändern wollen, sich niederlassen und so weiter und so fort, das volle Programm.

»Der Makler hat schon wen«, unterbrach die Frau sie in ihrem Redeschwall. Friedel stockte. »Aha, Sie haben einen Makler beauftragt? Dann können wir ja vielleicht auch mal mit dem sprechen.«

»Ich sag doch, der hat schon wen.«

Im Grunde tat Jakob die Frau ein bisschen leid, und er kam sich vor, als wollte er sie vertreiben. Dabei wünschte sie sich wahrscheinlich nichts sehnlicher, als mit einem Batzen Geld endlich für immer von hier zu verschwinden.

»Was für ein schöner Baum, so viele Kirschen«, setzte Friedel neu an und schaute zur üppigen Krone des alten Kirschbaums, der weiter hinten im Garten stand.

»Sauerkirschen. Wollen sie welche?«

Und ob sie welche wollten.

»Dann kriegt das Miststück sie wenigstens nicht«, nickte die Alte in Richtung des Hauses gegenüber.

Auf den ersten Blick sah das Nachbarhaus unbewohnt aus, als ob jemand mitten in der Renovierung aufgegeben hätte. Zwei ehemalige Fensteröffnungen waren mit weißen Steinen zugemauert und bis einen Meter über dem Boden klebte blankes Styropor am Sockel. Eine angelehnte Holzstiege führte ein paar Stufen zu einer Terrassentür hinauf, die in die Wand eingesetzt worden war. Im Kontrast zum Haus war der Rasen frisch gemäht und unkrautfrei, eine kleine Gruppe von Zypressen akkurat geschnitten.

Jakob musste anerkennen, dass Friedel mit ihrem Nichtplan ganz gut gelegen hatte. Zumindest redete die alte Frau jetzt ohne Unterlass, während sie die Kirschen pflückten. Jakob beobachtete von der wackeligen Stehleiter aus, wie Friedel sich bemühte, an den richtigen Stellen zu nicken, und er nickte dann auch und sagte »Ach ja« oder »Mhm«, wenn es ihm passend erschien. Das war gar nicht so einfach, die meisten Geschichten setzten etwas voraus, das sie nicht wussten, oder endeten irgendwo mittendrin. Oft war auch nicht klar, ob etwas nun gut oder schlecht zu bewerten war. Am Ende hatten sie auf jeden Fall mitbekommen, dass die Frau von gegenüber auf immer und ewig in Ungnade gefallen war, während ihr Sohn wohl ein ganz feiner Kerl sei und für irgendetwas nichts konnte, das sich Jakob nicht erschloss. Eine ganze Weile nickten und grinsten sie noch, bis endlich der Eimer so weit mit Kirschen gefüllt war, dass man es vertreten konnte, die Aufgabe als beendet anzusehen. Stillschweigend waren Friedel und er übereingekommen, vorerst nicht noch einmal nach dem Haus zu fragen.

Als Jakob die Kirschen im Kofferraum verstaute und mit ihren Badesachen vor dem Umkippen sicherte, entdeckte Friedel einen Wurf junger Kätzchen, die sich nicht weit von ihrer Mutter entfernt unter einer Hecke kugelten. »Ooch, wie süß!« Friedel hob eines hoch und musste feststellen, dass es das allersüßeste Kätzchen auf der ganzen Welt war.

»Die kommen weg«, sagte die Frau knapp und passte auf, wie Friedel reagierte. Natürlich hatte sie ins Schwarze getroffen und so fuhren sie wenig später zusammen mit dem süßesten Kätzchen über den Hohlweg zurück ins Dorf.

Es war schon erstaunlich, man hatte es Friedel wirklich abnehmen können, dass sie sich für die alte Frau interessierte, aber sobald die Autotüren geschlossen waren, war sie wie ausgewechselt und deklinierte Wörter wie Eigenkapital, Kaufpreisfinanzierung, Bausparvertrag, während sie gleichzeitig mechanisch das Kätzchen streichelte. Als Jakob einwarf, dass sie ja jetzt auch Miete bezahlten und dass sie mit diesem Geld dann einfach eine Hypothek tilgen würden, wurde sie fast ein bisschen böse. Sie nannte ihn blauäugig und sagte, etwas zu laut, dass eine solide Finanzierung, die auf mehreren Säulen steht, ein zentraler Punkt bei der ganzen Sache sei. Als Jakob sie besänftigen wollte, dass ihnen das Haus ja gar nicht zum Kauf angeboten worden war und die Diskussion deshalb sinnlos, rollte Friedel mit den Augen und schaute demonstrativ aus dem Seitenfenster. Den Rest des Weges fuhren sie schweigend zurück.

Sie hatten bei dem vietnamesischen Allesladen noch Gelierzucker und zwei Dosen Katzenfutter besorgt, und zu Hause machte sich Jakob gleich ans Entkernen der Kirschen. Die Katze, also Erich, wie sie jetzt hieß, beschnupperte argwöhnisch das unbekannte Dosenfutter, dabei war es allerbeste Qualität mit Thunfisch aus dem Nordatlantik. Wenn Erich gewusst hätte, dass er am nächsten Tag auf Biodosen, womöglich sogar fleischlos umgestellt werden würde, hätte er sich vermutlich anders verhalten. Der kleine Kater fixierte Jakob, dieses zweibeinige Riesentier, das mit ihm in die Wohnung gesperrt worden war, und pinkelte los.

Es hatte nicht lange gedauert, bis Friedel den Makler ausfindig gemacht und direkt angerufen hatte. Aus dem anderen Zimmer hörte Jakob sie erzählen, wie gut sie sich mit der alten Frau verstanden hätten und dass sie eine junge Familie wären, die ihr Leben ganz aufs Land verlegen wollten und gewillt seien, dafür einiges zu investieren, wie sie es nannte. Jakob konnte sich schwer vorstellen, dass ihre Ausführungen den Makler am Sonntagabend in irgendeiner Weise interessieren würden.

Das Fruchtfleisch löste sich äußerst widerspenstig von den Kernen, und von der scharfen Säure fingen die Nagelbetten zu brennen an. Die Kirschen waren nicht nur sauer, sondern gallebitter und hinterließen ein taubes Gefühl im Mund. Während Jakob Friedels Gequassel im Hintergrund lauschte, wurde ihm immer klarer, dass sie auf diese Weise keine Chance haben würden. Wenn man den Gang der Dinge noch ändern wollte, bedurfte es anderer Methoden, und er wusste auch, dass weder ihm noch Friedel diese Methoden zur Verfügung standen. Trotzdem weigerte er sich, die letzte Konsequenz aus seinen Schlüssen mit einem Namen zu verknüpfen: Wolfram, oder »Paps«, wie Friedel ihn nannte.

Friedels Familie, also genauer gesagt Wolfram, hatte es in einer westdeutschen Kleinstadt zu gewissem Vermögen und damit Selbstbewusstsein gebracht. Irene, seine Frau, tat das Ihrige, um die gottgegebene Überlegenheit noch etwas zu steigern. Sie hielt ihr Äußeres in Form, rauchte mit spitzen Fingern, pflegte einen abschätzigen Unterton und war auch sonst ein schreckliches Biest. Friedel war das einzige Kind, und ihre Eltern wollten natürlich nur das Beste für sie. Friedels Eltern verkörperten all das, was Jakob verabscheute. Aber man kann das eine nicht ohne das andere haben. Ohne den Umstand, dass Friedel so überbehütet und ohne die Möglichkeit jeglicher Gefährdung aufgewachsen wäre, hätte sie mit Sicherheit nicht diese unbeschwerte Leichtigkeit, mit der sie sich durchs Leben treiben ließ. Und das war es ja, was Jakob so sehr an ihr liebte: wie sie gegen nichts und niemanden Vorbehalte zu haben schien, alles und jeden mit offenen Armen empfing. Trotzdem, tauschen hätte er nicht mit ihr wollen. In gewisser Weise machte es ihn unverwundbar, immer misstrauisch zu sein, gefasst darauf, dass sich das Leben und die Vorstellung davon mit einem Schlag ändern konnte. Es war ja nicht so, dass seine Mutter nicht versucht hätte, gegen ihr Schicksal anzukämpfen, aber wenn man erst mal auf der falschen Seite ist, kann es schwer sein, den Graben zu überwinden. Ihre Karriere als Tänzerin hatte sie sofort aufgeben müssen, als sie mit ihm schwanger war, und in andere Berufsfelder konnte sie sich nie wieder so richtig einfinden. So hangelte sie sich von einer Männerbekanntschaft zur nächsten und gab die Hoffnung nicht auf, dass endlich mal der Richtige dabei wäre, einer, der es ernst meinte.

Das Handtuch, auf das er die Kirschen ausgekippt hatte, war bereits durchtränkt von dem roten Saft, der überall herumspritzte, nur nicht in den Topf. Er hatte überhaupt keine Lust mehr, sich mit diesen verdammten Kirschen herumzuplagen, schon gar nicht alleine, und stopfte sie zusammen mit dem Handtuch zurück in den Eimer. Obwohl er mit seinen rotverschmierten Händen extra nah an Friedel vorbeiging, um alles zusammen nach unten in die Restmülltonne zu bringen, nahm sie keinerlei Notiz von ihm. Als er zurückkam, wartete sie schon an der Tür. »Verkauft ist es noch nicht«, strahlte sie ihm entgegen. Jakob lächelte etwas gekünstelt. »Du bist ja wirklich der Hammer!«, sagte er und legte ihr die Hände um die Hüften. Das kam ihm aber doch etwas aufgesetzt vor, und er nahm die Hände wieder runter. Der Makler hatte ihr gesagt, dass jemand im Dorf schon länger an dem Haus interessiert sei und es im Grunde nur noch um die Details ging, das hieße aber auch, leitete Friedel daraus ab, dass es noch nicht zu spät sei, was sie ganz euphorisch machte.

Recht unvermittelt nahm sie seine Hand, führte sie an ihren Busen und fing an ihn zu küssen, was ihn daran erinnerte, dass bald Eisprung war. So gut es ging, hielten sie die fruchtbaren Tage ein, thematisierten es sonst aber nicht weiter, weil es ja auch dem modernen Verständnis von Sexualität widerspricht. Trotzdem wirkte der Sex irgendwie unfrei, seitdem es vor allem darum ging, schwanger zu werden. Sicherlich lag das auch an ihm und daran, dass er sich alle Lustgeräusche verkniff. Ganz am Anfang ihrer Beziehung hatte Friedel ihm unmissverständlich klargemacht, dass sein Sperma zusammen mit ihrer Scheidenflora einen unangenehmen Geruch verursacht. Also nicht nur unangenehm, sondern säuerlich, vergoren. Auch wenn sie nie wieder darüber sprachen, bekam Jakob es nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte sich seither abgewöhnt, in Friedel zu kommen, und obwohl Friedel zur Verhütung ein Hormonstäbchen im Oberarm trug, spritzte er immer in die Hand ab und wischte es dann in die Unterhose oder ging nochmal ins Bad. Viel besser hätte er es gefunden, wenigstens auf Friedels Bauch oder ihren Brüsten zu kommen, aber so war ihre Beziehung nun mal nicht. Jetzt, wo er gezwungen war, in ihr zu kommen, blieben ihm die Lustgeräusche irgendwie im Hals stecken. Beziehungsweise wollte er nicht den Eindruck erwecken, auch noch Spaß an Friedels Ungemach zu haben.

In diesen Momenten war es unvermeidlich, nicht wieder an Peter zu denken. Peter hatte auch immer versucht, möglichst leise zu sein, wenn er Jakobs Mutter bestieg und Jakob in einem Beistellbett mit im Hotelzimmer lag. Jakob schaute dann an die Wand oder drückte das Gesicht ins Kissen und tat so, als würde er schlafen, bis Peter sich mit gepressten kehligen Geräuschen erleichtert hatte und anfing zu schnarchen.

Ein bisschen schräg war das schon, dachte Jakob, Friedel und er waren eigentlich bisher ganz glücklich gewesen, also ohne Kind, und wahrscheinlich hätten sie auch weiterhin ganz glücklich sein können. Nur war es früher, also noch bevor der Gedanke an ein Kind aufgekommen war, noch erfüllter gewesen, einfach so zu sein, oder erfüllender. Jetzt fehlte auf einmal etwas, das noch nie da gewesen war. Es hätte sich wie ein Verrat angefühlt, sich das Kind auf einmal nicht mehr zu wünschen, so als würde man das Kind, das es ja noch gar nicht gab, im Stich lassen. Dabei war ihnen beiden völlig klar, dass man sich Erfüllung nicht über ein Kind holen konnte, das wusste ja jeder. Vielleicht ging es auch einfach mehr um Vervollständigung als um Erfüllung.

Heute lenkte ihn zu allem Überfluss der kleine Kater ab, der neben dem Sofa die Unterhosen erforschte. Jakob musste aufpassen, nicht zu viel komisches Zeug zu denken und Sachen zusammenzubringen, die gar nicht zusammengehörten. Er machte weiter mit den Bewegungen und kam zu keinem Ende. Dann fielen ihm die kleinen behaarten Eier des Katers ein, die man dicht unter dem Anus sieht, wenn man den Schwanz hochhält. Nur nicht reinsteigern, dachte er, und kam endlich.

Zu den Katzenartigen während der Eiszeit vielleicht nur noch so viel: Die Säbelzahnkatze lebte in Rudeln, die vom dominantesten Männchen angeführt wurden. Nur diesem einen Anführermännchen war es erlaubt, Nachkommen zu zeugen, und sobald ein neues, stärkeres Männchen an die Macht kam, biss dieses die Katzenkinder, die der Vorgänger noch gezeugt hatte, nach der Geburt tot. Die Frage war natürlich schon, wie der Anführer eigentlich erkennen wollte, dass das nicht seine Kinder waren, wo doch selbst die Menschen den Zusammenhang zwischen Begattung und Schwangerschaft erst recht spät erkannt haben. Die Säbelzahnkatze starb mit der letzten Eiszeit aus, wobei nicht ganz klar ist, warum genau. Es könnte sein, dass die zunehmende Feuchtigkeit und die damit einhergehende Verwaldung ihr die weiträumigen Jagdgebiete genommen hatte. Es könnte aber auch an ihren zwar imposanten, aber gar nicht so praktischen Säbeln gelegen haben, die gut dazu geeignet waren, die Halsschlagadern und Luftröhren ihrer Opfer zu durchtrennen, aber schlecht zum Kauen. Aus diesem Grund konnte die Säbelzahnkatze nur die weichsten Teile ihrer Beute zu sich nehmen, die Innereien und Gedärme. Den Rest, also das Allerbeste, überließ sie den Aasfressern.

Noch am selben Abend erklärte Friedel das Asyl des kleinen Erich für beendet. Grund dafür war eine für Schwangere gefährliche Katzenkrankheit, auf die sie bei ihrer Recherche nach artgerechter Haltung von Hauskatzen gestoßen war. Dabei war Friedel ja noch nicht mal schwanger. Jakob wollte noch widersprechen, aber die Aussicht auf eine Spazierfahrt, bei der er seinen Gedanken nachhängen konnte, war so verlockend, dass er versprach, den Kater gleich am nächsten Tag zurückzubringen.

Das Tier miaute auf dem Beifahrersitz und versuchte, aus seinem Gefängnis zu entkommen, aber Jakob hatte den Karton mit Kreppband zugeklebt. Die endlos gerade Straße durch den Kiefernwald war ihnen letztes Mal auf der Rückfahrt gar nicht mehr so besonders aufgefallen, zumindest erschien sie ihnen da nicht so bedrückend, wie sie ihm jetzt wieder vorkam. Er machte das Radio an, aber anscheinend waren nur die Proletensender stark genug, um bis hierher durchzudringen.

Er schaute auf sein Handy. Kein Balken, null Empfang. Wirklich albern, aber aus irgendeinem Grund machte es ihn nervös, so abgeschnitten von der Zivilisation zu sein. Er atmete tief ein und wollte irgendetwas denken, was ihn von diesem klaustrophobischen Gefühl ablenken würde. Er stellte sich ein Auto vor, das an einem der Waldwege stand, einen älteren kleinen Sportwagen, wie sie früher als Auto für die selbstbewusste und unabhängige Frau angepriesen wurden. Als er etwas langsamer daran vorbeifuhr, sah er, dass die Fahrertür offenstand. Vielleicht brauchte jemand Hilfe. Sollte er anhalten oder doch besser weiterfahren? Vielleicht war es ein Unfall oder Überfall, oder beides. Er ging etwas näher zu dem Auto hin und schaute sich um. Der Zündschlüssel steckte noch, und er wollte schon rufen, als er ein Knacken im Wald hörte. Kurz darauf kam eine elegante Frau in einem cremefarbenen Kostüm aus dem Unterholz und zupfte sich noch ihren Bleistiftrock zurecht. Sie erschrak kurz, als sie Jakob bei ihrem Auto entdeckte. Jakob entschuldigte sich und erklärte, er habe gedacht, dass etwas passiert sein könnte. Als er dann schon wieder einsteigen und weiterfahren wollte, rief die Frau ihm noch hinterher: »Herr Niemeier, sind Sie das?« Wieso kannte ihn diese Frau, er wurde neugierig. Es stellte sich heraus, dass sie seine Arbeit interessiert verfolgte. Sein erstes Buch fand sie sehr gelungen und wollte wissen, wie sich das zweite entwickelte, an dem er ja gerade arbeitete. Er sagte ihr, dass er extra aufs Land ziehe, um sich mit aller Konsequenz in das Schreiben hineinbegeben zu können. Sie fand, dass das genau der richtige Weg sei und dass seine Notizen zu dem Buch ja schon eine unglaubliche Vorarbeit beinhalteten, von der das Werk mit Sicherheit sehr profitieren würde. Jakob pflichtete ihr bei, fragte sie aber noch, was sie von seinem Ansatz halte, den Text irgendwo zwischen ethnologisch und fiktional anzusiedeln. Sie fand das äußerst interessant. Dann meinte sie noch, dass er mit Friedel mal wieder in diesen kleinen libanesischen Imbiss gehen könne, wo sie früher oft gewesen waren.

Endlich kam die Stelle, wo die Straße bergab geht und der Wald sich lichtet. Er hasste diese Straße. Das nächste Mal würde er Musik mitnehmen oder einen Podcast hören.

Das Tageslicht wurde schon schwächer, als Jakob den Hohlweg zum Haus der alten Frau hinunterfuhr, der ihm jetzt fast schon ein bisschen vertraut vorkam. Im Haus brannte Licht, aber wie beim letzten Mal reagierte sie nicht auf die Funkklingel, wahrscheinlich war die Batterie seit Jahren leer. Friedel hatte noch ein Blumensträußchen und Pralinen in den ausgespülten Eimer gestellt, und im Strauß hing eine zusammengeklappte Karte, auf der in ihrer schönsten Schrift stand: »Uns hat es so gut gefallen bei Ihnen, hoffentlich sehen wir uns mal wieder. Und falls sie jemanden wissen, der sein Haus verkauft …« – und dann Friedels Nummer.

Jakob klopfte noch an der Tür, aber nichts rührte sich. Er ließ den Eimer stehen und ging mit dem Schuhkarton zu der Hecke, wo Friedel die Kätzchen entdeckt hatte. Er kniete sich hin und wollte gerade das Klebeband von der Schachtel zupfen, als er zusammenfuhr. Überraschend nah bei ihm stand ein stämmiger junger Mann in bunter Freizeitkleidung, der ihn mit seinen grünen Augen anstierte, während er mit einem Gartenschlauch den Rasen wässerte. Vermutlich hatte er schon die ganze Zeit da gestanden und ihn beobachtet. Jakob wunderte sich, dass er ihn vorher nicht bemerkt hatte, wollte aber auch nicht zu genau hinsehen. Auf gar keinen Fall wollte er sich auf ein Gespräch einlassen. Was hätte er auch sagen sollen, wenn der Mann ihn fragte, was er da macht. Er, mit dem Auto aus der Stadt, vor dem Haus der alten Frau mit dem ungeliebten Tier im Karton.

Der Kater schien zu spüren, dass das seine letzte Chance war, miaute so laut er konnte und kratzte an der Pappe. Jakob spürte die Hitze in sich aufsteigen und beeilte sich, schnell wieder ins Auto zu kommen. Er schleuderte den Karton mit der Katze auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Im Rückspiegel sah er, wie der Mann raus auf die Straße kam und ihm nachschaute. Wie hatte er sich nur darauf einlassen können, die blöde Katze wieder hierher zurückzubringen? Es war doch klar, dass sie sich an dem Haus jetzt nicht blicken lassen durften. Um nicht wenden zu müssen und gleich wieder vorbeizufahren, folgte Jakob dem kleinen Feldweg, der schließlich an einem See mit Badestelle endete. Die hatten sie vorher gar nicht gesehen. Wenn sie hier wohnen würden, mit auch noch einer Badestelle in der Nähe … Jakob wollte sich lieber nicht vorstellen, wie perfekt alles sein könnte. Er zog sich aus, blieb aber noch einen Moment am Ufer stehen und genoss die frische Abendluft. Jetzt kam es ihm völlig übertrieben und unnötig vor, dass er so kopflos geflüchtet war. Warum hatte er nicht einfach ein paar Worte mit dem Mann gewechselt? Er hätte ihm erklären können, wie alles zusammenhängt, mit der Schwangerschaft, den Sauerkirschen und der Katzenkrankheit. Vielleicht hätten sie sogar Nummern ausgetauscht, falls der Mann mal was von einem Haus hörte.

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