Kitabı oku: «Die Lehren der Zeugen Jehovas», sayfa 6
Weitere Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft
In den Jahren 2000-2014 war Don Alden Adams Präsident der Wachtturm-Gesellschaft. Er gehörte nicht der Leitenden Körperschaft an, sondern praktizierte überwiegend Verwaltungsaufgaben. An das Charisma seiner Vorgänger kam er nicht heran.
2014 wurde Robert Ciranko neuer Präsident der Wachtturm-Gesellschaft. Auch er gehört nicht der Leitenden Körperschaft an.
Zur leitenden Körperschaft gehören im Jahr 2019: Kenneth Cook jr., Samuel Herd, Geoffrey Jackson, Stephen Lett, Gerrit Lösch, Anthony Morris III., Mark Sanderson und David Splane (Stand: Januar 2018). Die leitende Körperschaft hat ihren Sitz in der ZJ-Weltzentrale in Warwick (New York, USA) (laut der Homepage von Jehovah`Witnesses 2019).
Abspaltungen
In der Geschichte der von Charles Taze Russell herkommenden Bewegung gibt es eine Vielzahl von Abspaltungen und Splittergruppen. Ich habe schon erwähnt, dass die heutigen Zeugen Jehovas eher als materielle denn als geistige Erben Russells zu betrachten sind. Die völlige Umstrukturierung der Bewegung durch Rutherford hat ihr ein weitgehend neues, noch stärker sektiererisches Gepräge gegeben. Gerade zu Rutherfords Zeiten, infolge der Machtkämpfe seiner ersten Amtsjahre und der daraus hervorgehenden zunehmenden Zentralisierung, erfolgte eine Fülle von Protesten und Austritten. Aber auch andere Gründe gab es, welche zu Absplitterungen führten. Dietrich Hellmund zählt in seiner Dissertation „Geschichte der Zeugen Jehovas“ allein 20 Gruppen auf, die einmal mit der Lehre Russells in Verbindung standen und behaupten, diese zu bewahren oder eigenständig weiterzuentwickeln, unter ihnen auch die heutigen Zeugen Jehovas. Hellmund betont:
„Die alte IVEB (´Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher`) ist – vom Standpunkt der Dogmengeschichte und Lehrentwicklung her gesehen – tot. Trotz der Beibehaltung des alten Namens für einige Zeit können auch die Zeugen Jehovas nur bedingt als Fortsetzung der alten IVEB verstanden werden. Nachfolger der IVEB sind sie nur im soziologischen Sinn. Als direkte Folge der Machtkämpfe von 1917-1919 sind viele Glaubensgemeinschaften neu konstituiert worden, die es so vor 1917 noch nicht gab. Damals ist ein Spaltungsmechanismus in Gang gesetzt worden, der heute noch nicht zur Ruhe gekommen ist… Über die Gesamtzahl dieser Splittergruppen gibt es nur Vermutungen.“
Im Folgenden seien nur die drei bedeutendsten Gruppen kurz skizziert: die Freie Bibelgemeinde, die Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung und die Kirche des Reiches Gottes.
Freie Bibelgemeinde
„Freie Bibelgemeinde“ ist zunächst ein umfassender Begriff für unterschiedliche russellitische Splittergruppen, die ab 1916 entstanden, weil sie Rutherford und seinen Kurs nicht anerkennen wollten. Wesentliche Lehrpunkte Russells wurden beibehalten, etwa der Ganztod des Menschen, die Ablehnung einer ewigen Höllenqual und die Heilserwartung in einem irdischen Tausendjährigen Reich. Hingegen wurde die Vorstellung von einer „Theokratischen Gesellschaft“ als Heilsmittlerin und Kanal der Gnade abgelehnt, wie Rutherford sie propagierte. Nicht einmal ein Kirchenaustritt wurde von den Mitgliedern der meisten Gruppen erwartet. Man wollte nicht eine „heilsnotwendige Organisation“ stiften, sondern eine lose Verbindung der Versammlungen untereinander nach kongregationalistischem Vorbild, wie Russell es vertreten hatte.
Heute ist „Bibelgemeinde“ oder „Bible Church“ meist eine Bezeichnung für freie Gemeinden (Independisten), die mit den Zeugen Jehovas und ihren Abspaltungen nichts zu tun haben.
Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung
Ebenfalls als Hüterin der Lehren Russells betrachtet sich die „Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung“. Sie entstand ursprünglich 1917 in der oben beschriebenen Auseinandersetzung zwischen Rutherford und Johnson sowie den mit diesem verbundenen Direktoren. 1929 trennte sich in Pittsburgh, dem frühen Wirkungsort Russells, eine Gruppe von „Ernsten Bibelforschern“ von der Wachtturm-Gesellschaft ab, traf sich in der alten „Bibelhaus-Kapelle“ Russells und propagierte die Rückkehr zu dessen Lehren, die sie bei den „Rutherfordianern“ zum Großteil preisgegeben sahen. Manche enttäuschten Bibelforscher schlossen sich ihnen an und gründeten Versammlungen an vielen Orten und in verschiedenen Ländern. Durch Zeitschriften, Traktate und eigene Rundfunk- und Fernseh-Sendungen besitzt diese Gruppe vor allem in den USA einen gewissen Einfluss. Kennzeichnend ist, dass nicht die heutige (von Russell gegründete!) „Wachtturm-Gesellschaft“, sondern die „Tagesanbruch Bibelstudien-Vereinigung“ die „Schriftstudien“ Russells (wenn auch mit Änderungen, etwa im Blick auf die Zeitberechnungen) bis heute verlegt.
Kirche des Reiches Gottes
Eine weitgehend selbständige Richtung stellt die „Kirche des Reiches Gottes“ oder „Menschenfreundliche Versammlung“ dar. Deren Gründer, F. L. Alexandre Freytag (1870-1947), hatte sich 1898 den „Ernsten Bibelforschern“ angeschlossen und später mehrere Jahre – bis zu seiner Amtsenthebung 1920 – deren Zweigbüro in Genf geleitet. Seine wachsende Kritik an den Bibelforschern (fragwürdige Terminberechnungen, Inanspruchnahme weltlicher Gerichte, inkonsequentes Leben u.a.), die er 1920 in seiner Schrift „Botschaft an Laodizäa“ veröffentlichte, ging mit der Ausbildung eigener sektiererischer Lehren (Weltallgesetz des Altruismus, Lebensfluidum, Streben nach irdischer Unsterblichkeit durch geänderte Lebensweise u.a.) einher. Dies führte unausweichlich zur Ausbildung einer eigenen Sekte, die unter den genannten die meisten Anhänger (einige zehntausend Menschen) gewann. Nach Freytags Tod kam es jedoch bald zur Stagnation und neuen Absplitterungen (z. B. Amis de l` Homme von J. B. Sayerce, gewissermaßen eine „Enkelsekte“ zu den „Ernsten Bibelforschern“).
Man erkennt an diesen Entwicklungen mit ihren immer weiteren Aufsplitterungen, dass ein sektiererischer Geist immer wieder neue Sekten gebiert. Die Grundlage hierfür wurde allerdings schon bei Russell selber gelegt. Er hatte sich in Ideen verrannt, von denen er nicht mehr umkehren konnte und wollte. Das war seine Tragik. Die Tragik, welche er vielleicht als noch schlimmer empfunden hätte als seine Irrtümer zu Lebzeiten, ist das Schicksal, das ihm nach seinem Tod zuteilwurde. Der Sektenexperte Friedrich-Wilhelm Haack fasst diese Tragik in folgenden Sätzen zusammen:
„Würde der Gründer Charles Taze Russell (1852-1916) heute bei Jehovas Zeugen Mitglied werden wollen, so dürfte er fast nichts mehr von dem glauben und lehren, was er in seinen Büchern und Traktaten geschrieben hat. Täte er das dennoch, dann bekäme er von der Versammlung oder vom Präsidium ´Gemeinschaftsentzug`, ein Wort und gleichzeitig ein Druckmittel, das ihm völlig unbekannt war. Russell verwendete in seinen Schriften beispielsweise das Kreuz, das von Jehovas Zeugen heute abgelehnt wird; er hatte in seinen Anhängerkreisen eine Art demokratischer Verfassung, während man heute auf die ´theokratische Leitung` pocht, und er berechnete die Endzeit vollkommen anders, als dies heute von der Sekte getan wird“ (Haack 1993, S. 13).
Bibel
Entstehung und Auslegung
Inspiration und Irrtumslosigkeit
Gott wird von den Zeugen Jehovas (im Folgenden wird generell dieser Name verwendet) als Urheber und Verfasser der Heiligen Schrift betrachtet. Menschliche Mitwirkung beim Entstehen der Bibel wird dabei nicht ausgeschlossen. Gott hat sich durchaus einzelner Menschen bedient, und der Heilige Geist gilt nicht als Person, sondern als Gottes „wirksame Kraft“, die diese Menschen geleitet hat. Im Bibellexikon der Zeugen Jehovas mit dem Titel Hilfe zum Verständnis der Bibel (HVB) wird unter dem Stichwort Inspiration ausgeführt:
„Das Mittel oder Werkzeug, durch das die Inspiration der ´ganzen Schrift` bewirkt wurde, war Gottes heiliger (man achte auf die Kleinschreibung! L. G.) Geist oder seine wirksame Kraft…. Dieser heilige Geist wirkte auf Männer ein, um sie zu veranlassen, Gottes Botschaft niederzuschreiben… Die Bibelschreiber befanden sich somit unter der ´Hand` oder der lenkenden und leitenden Kraft Jehovas“ (HVB, S. 708 f.).
Das Bibellexikon übrigens, aus dem dieses Zitat stammt und an dem der später ausgeschlossene Raymond Franz mitarbeitete, unterscheidet sich in seinem Bemühen um Sachlichkeit und biblische Begründung der Aussagen zum Teil vorteilhaft von anderen Wachtturm-Schriften. Ich werde deshalb in der Beurteilung der Wachtturm-Lehren häufig darauf Bezug nehmen, um mit den Zeugen Jehovas eine möglichst faire Diskussion auf angemessenem Niveau zu führen. In diesem Bibellexikon wird weiter durchaus richtig betont, „dass die Männer, durch die Gott die Bibel schreiben ließ, keine Roboter waren, die lediglich das aufzeichneten, was ihnen diktiert wurde“. Der Autor des Lexikon-Artikels weist darauf hin, dass die Verfasser der Bibel Nachforschungen anstellten (vgl. z B. Lk 1, 1-4) und ihre natürlichen Fähigkeiten erhalten blieben, was etwa den unterschiedlichen Stil erklärt. Das schließt jedoch nicht aus, dass die biblischen Schriften irrtumslos sind:
„Mit ´Inspiration` ist nicht lediglich die plötzliche Eingebung einer Idee, ein spontanes Entstehen von Gefühlen, die einen hohen Grad von Kreativität und Empfindsamkeit auslösen, gemeint (wie es oft von weltlichen Künstlern oder Dichtern gesagt wird), sondern die Abfassung irrtumsloser Schriften, die so maßgebend sind, als wären sie von Gott selber geschrieben… Dem geschriebenen Wort Gottes ist also absolute Irrtumslosigkeit zuzuschreiben, jedenfalls den Originaltexten“ (HVB, S. 710 f.). „Die Männer, durch die Jehova die Bibel schreiben ließ, wirkten … mit seinem heiligen Geist zusammen“ (HVB, S. 709).
Gleichwertigkeit und Rösselsprung
Neben dieser teilweise durchaus orthodoxen Sicht findet sich nun aber eine Reihe problematischer Lehren. Die Veränderung beginnt fast unmerklich, indem behauptet wird:
„Ganz gleich, wie die einzelnen Botschaften übermittelt wurden, sind doch alle Teile der Bibel gleich wertvoll, sie sind alle inspiriert oder ´von Gott eingehaucht`… Alle Teile sind gleich maßgebend, da sie alle inspiriert und frei von Irrtümern sind“ (HVB, S. 709 und 711).
Die völlig richtige Feststellung, dass die Heilige Schrift als Ganze von Gott inspiriert ist (vgl. 2. Tim 3,16), wird mit der falschen Folgerung verkoppelt, dass deshalb auch alle Teile gleich wertvoll, von gleichem Gewicht seien. Die Folge dieser Ansicht ist die Vernachlässigung der Heilsgeschichte sowie ein Abweichen von Christus als Mitte der Schrift hin zu – vor allem eschatologischen – Nebenschauplätzen. Wie aus einem Steinbruch werden Aussagen der Bibel aus den unterschiedlichsten Stellen herausgenommen und – meist ohne Rücksicht auf Textzusammenhang und historische Entstehungssituation – frei miteinander kombiniert. Zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen Verheißung und Erfüllung wird kaum unterschieden, ja die Bezeichnungen Altes und Neues Testament werden abgelehnt und durch die Termini Hebräische Schriften und Christliche Griechische Schriften ersetzt (s. u.). Der Sekten-Experte Kurt Hutten spricht von der Methode des Rösselsprungs (man hüpft wie ein Pferd von einer Stelle zur anderen ohne Rücksicht auf den heilsgeschichtlichen Zusammenhang) und führt aus:
„Die Zeugen kennen dieses Schriftverständnis, das an Christus orientiert ist, nicht. Allerdings, auch sie haben ein Zentrum, auf das sie alles beziehen. Es ist bei ihnen der auf das Tausendjährige Reich zuführende Geschichtsplan. … Weil sie die gesamte Offenbarung eingeebnet haben, können die Zeugen die Schrift ohne Beschwernis in ihre Einzelbestandteile auflösen, wie Kinder ihre aus dem Baukasten errichteten Bauten wieder zerlegen können … So können die Zeugen Jehovas die Bibel als ein Feld für Rösselsprungrätsel betrachten; sie können ihre Linien kreuz und quer durch die ganze Schriftmasse der Bibel ziehen, fröhlich im Zickzack kombinieren und die abenteuerlichsten Beziehungen herstellen“ (Hutten 1982, S. 128 f.).
Da die Zeugen Jehovas zwischen Altem und Neuem Bund, Verheißung und Erfüllung, Gesetz und Evangelium kaum (höchstens peripher) unterscheiden, gelangen sie zu Lehren wie: Verehrung des Jehova-Namens, Gesetzlichkeit (z. B. völliges Blutverbot), Ganztod und ähnlichem (dazu in späteren Kapiteln mehr). Der ehemalige Zeuge Jehovas Hans-Jürgen Twisselmann stellt fest, dass die Wachtturm-Gesellschaft „neutestamentliche Texte so ´gesetzlich` anwendet, als lebten wir noch in der Zeit des jüdischen Gesetzes“ und fragt sich, „ob nicht auch die Verehrung des Jehova-Namens zum Rückfall in vorchristliches Denken gehört“. Jede Lehre aber ist „zurückzuweisen, die wieder hinter Christus zurückfällt, etwa in das jüdische ´Gesetz`“ (Twisselmann 1992, S. 13f.).
Vorschattung und Parallelisierung
Ein weiteres charakteristisches Element der Bibelauslegung bei den Zeugen Jehovas ist die Vorschattung. Das bedeutet, dass man Personen oder Ereignisse in der Bibel als Vorbilder oder Typoi für spätere Gestalten oder Ereignisse betrachtet. So ist es etwa ein auch in der traditionellen Theologie verbreitetes Vorgehen, Menschen oder Geschehnisse im Alten Testament als Hinweise auf Christus und sein Werk zu sehen. Dieses Verfahren kann freilich nur in Vorsicht und Disziplin angewandt werden. Zu leicht wird sonst die Deutung allgemein und willkürlich, z. B. in der Form (wie es bei manchen Kirchenvätern vorkam), dass man jedes Holz im Alten Testament für eine Vorschattung des Kreuzes Christi hielt (vgl. hierzu Goppelt 1973).
Die Zeugen Jehovas nun gehen mit ihrer Methode der Vorschattung über jedes gebotene Maß hinaus. Die Personen und Ereignisse der Bibel werden so gedeutet, wie es am besten zu ihrer Anschauung passt. So sei z. B. die Sintflut Vorschattung auf die Vernichtung der Kirchen bei der Schlacht von Harmagedon – und die Arche Noah bilde die Theokratische Gesellschaft ab, die den einzigen Schutz vor der Vernichtung in den endzeitlichen Katastrophen gewährt (Wachtturm vom 15.1.1952 u. ö.; vgl. Hutten 1982, S. 129 f.).
Eng mit der Vorschattung hängt die Methode der Parallelisierung zusammen, die bei den Zeugen Jehovas nach einem einfachen Schwarz-Weiß-Schema verläuft: Die positiven Gestalten in der Bibel werden mit der Wachtturm-Gesellschaft gleichgesetzt, die bösen mit deren Gegnern. Als klassisches Beispiel hierfür kann die Auslegung der Erzählung vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19-31) gelten, die aus noch näher zu beschreibenden Gründen von den Zeugen Jehovas umgedeutet werden muss. In dem Buch „Gott bleibt wahrhaftig“ von 1946 stellt der (negative) Reiche „die gar selbstsüchtige Klasse der Geistlichkeit der ´Christenheit`“, der (positive) arme Lazarus hingegen den Überrest des „Leibes Christi“ dar, der sich in der Wachtturm-Gesellschaft verkörpert (S. 84ff.).
Eine weitere bei den Zeugen Jehovas gebräuchliche Form der Parallelisierung ist die Übertragung von Zeitabständen der biblischen Chronologie auf die nähere Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft (parallele Heilszeitordnungen). Beispielsweise seien die 40 Jahre zwischen dem öffentlichen Auftreten Jesu und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (30-70 n. Chr.) eine Parallele zur 40jährigen Zeit der Ernte am Ende der Tage (bei Russell: unsichtbare Wiederkunft Christi 1874, Ausreifen des Gerichts und Aufrichtung des Tausendjährigen Reiches 1914 n. Chr.; ähnliche Schemata bei seinen Nachfolgern; vgl. den Teil Letzte Dinge). Dass solche Parallelsetzungen sehr willkürlich sind, hat die Nichterfüllung sämtlicher bisheriger Berechnungen gezeigt (s. o.).
Neuoffenbarung und Allegorese
Die Zeugen Jehovas beanspruchen zwar, ihre Lehren allein auf die Bibel zu stützen, aber in Wirklichkeit gehen sie weit über das hinaus, was die Bibel sagt. Viele ihrer Auslegungen sind in Wirklichkeit Einlegungen fremder, weltanschaulich vorgegebener Inhalte in die Heilige Schrift. Nur so lassen sich die wilden Spekulationen mit Jahreszahlen erklären, nur so auch die Ablehnung oder Verfälschung der wirklichen biblischen Lehren, wie ich noch darstellen werde. Begründet wird diese Vorgehensweise mit Stellen wie Daniel 12, 4, wo es heißt: „Und du, Daniel, verbirg diese Worte, und versiegle dies Buch bis auf die letzte Zeit. Viele werden es dann erforschen und große Erkenntnis finden.“ Mit solchen Stellen wird die Anschauung untermauert, dass sich am Ende der Tage „die Erkenntnis mehre“ und dass die Zeugen Jehovas die Empfänger dieser Erkenntnis seien. Mehr Licht führe zur Erkenntnis einer fortschreitenden Wahrheit (vgl. JZ, S. 121. 133). Insofern zählen die Zeugen Jehovas zu den Neuoffenbarungsbewegungen.
Nun ist es sicherlich so, dass sich vor allem aus dem Buch Daniel und der Johannesoffenbarung Aufschlüsse über die endgeschichtlichen Entwicklungen ergeben. Aber gerade die lange Liste der nicht eingetroffenen Spekulationen in den vergangenen Jahrhunderten (nicht nur bei den Zeugen Jehovas!) hat gezeigt, wie vorsichtig man mit Deutungen sein sollte. Und was die Terminberechnungen angeht, so gelten hierfür die grundlegenden Aussagen Jesu, dass niemand Zeit und Stunde des Endes weiß (Mt 24,36; Apg 1, 7; siehe den Teil Letzte Dinge).
Jede Neuoffenbarung muss sich darüber hinaus daran messen lassen, wie sie sich zur Grundtradition der im biblischen Kanon zusammengefassten Schriften verhält. Sobald ein Widerspruch zu den Aussagen der eindeutigen Stellen der Bibel auftritt, ist der Bibel recht zu geben und nicht der Neuoffenbarung bzw. deren Vertretern (vgl. hierzu ausführlicher: Gassmann 1993, S. 144-151). Diese Prüfung von Aussagen der Zeugen Jehovas anhand der klaren Lehren der Heiligen Schrift, die sich aus ihrem Wortsinn und Textzusammenhang ergeben, wird die weitere Vorgehensweise dieser Untersuchung kennzeichnen.
Da die Empfänger der Neuoffenbarung ihre Erkenntnisse, Eingebungen oder Schauungen gerne durch biblische Stellen untermauern möchten, greifen sie häufig zur Allegorese, d.h. den biblischen Aussagen wird eine andere Bedeutung untergeschoben, als sich aus dem Wortsinn und Textzusammenhang ergibt. Auch die Zeugen Jehovas wenden diese Einlegungsmethode (so möchte ich es nennen) häufig an. Ich bringe einige Beispiele aus dem berühmten Band 7 der Schriftstudien mit dem Titel Das vollendete Geheimnis (1917), in dem die Allegorese fast durchgehend benutzt wird.
Dort wird der Engel aus Offb 14,17 mit Charles Taze Russell gleichgesetzt (S. 301), die sieben Bände der Schriftstudien seien „das dritte und letzte Wehe [nach Offb. 15,1; L. G.], das über das Papsttum ausgegossen wird“ (S. 308) – und über Offb 22,18 („wenn jemand etwas zu den Worten der Weissagung dieses Buches hinzusetzt“) wird – nicht ganz unzutreffend – gesagt:
„So wird Gott ihm die Plagen hinzufügen, die in diesem Buche geschrieben sind: Seine Strafe wird die sein, dass er, wenn er in den Zeiten der Wiederherstellung aus dem Grabe hervorkommt, die sieben Bände der Schriftstudien zu lesen haben wird, die ihm dann das Fehlerhafte seines Tuns zeigen werden“ (S. 451).
Im gleichen Band finden sich weitere Passagen, die den unvoreingenommenen Leser zum Schmunzeln veranlassen können, weil in ihnen die Allegorese auf die Spitze getrieben wird. So schildern die biblischen Bücher Nahum (2,4f.) und Hiob nach Ansicht der Verfasser in prophetischer Fernsicht die Erfindung der Dampfmaschine! In der „Auslegung“ zu Hiob 40,15-41,25 (Behemoth und Leviathan) heißt es:
„Hiob schildert… in prophetischen Worten die Errungenschaften heutiger Zeiten, die Dampfmaschine – feststehend und sich bewegend -, auf Eisenbahnzügen und zur See…. Sieh doch einen mit großer Hitze (der feststehenden Dampfmaschine), den ich mit dir gemacht habe; er wird Futter verzehren (Torf, Holz, Kohle) wie das Vieh. Siehe doch, seine Kraft ist in seinen Lenden (Kesselplatten), und seine Stärke innerhalb der in einem Kreis gebogenen Teile (Kesselwände) seines Bauches. Sein Schwanz (Schornstein – gegenüber dem Futterende, Brennmaterial) wird aufrecht stehen wie eine Ceder …
Du wirst den Leviathan (die Lokomotive) mit dem Angelhaken (automatische Kuppelung) ausdehnen, verlängern, oder mit einer Schlinge (Kuppelbolzen), mit der du seine Zunge (Kuppelverbindung) sich senken lassen wirst. Willst du nicht einen Ring (Kolben) in seine Nase (Zylinder) legen oder seine Kinnbacken (Zylinderenden) mit einem Stabe (Zylinderstange) durchbohren? Wird er viel Flehens an dich richten (entgleisen)? Oder wird er dir sanfte Worte geben (wenn er einen schrillen Ton mit der Dampfpfeife von sich gibt)? Wird er einen Bund mit dir machen, dass du ihn zum ewigen Knechte nehmest (ohne Reparaturen)? …“ (S. 106ff.).
Neben solchen eher grotesken Beispielen (zu diesen rechne ich z. B. auch die – später fallengelassene – Deutung der Maße der Cheops-Pyramide auf die biblische Chronologie bei Russell) gibt es aber auch eine allegorische oder symbolische Uminterpretation in zentralen biblischen Bereichen, etwa in der Lehre von Hölle und ewiger Verdammnis. Da Russell und seine Nachfolger eine ewige Verdammnis leugnen, deuten sie die entsprechenden biblischen Passagen (Feuersee, Ort der Qual, Heulen und Zähneklappern und viele andere Aussagen) um und bezeichnen sie als Symbole für eine ewige Vernichtung (nicht Qual). Darauf und auf die aktuellen Allegoresen im Zusammenhang mit Endzeit-Spekulationen werde ich ausführlich zurückkommen (siehe die Teile Mensch und Letzte Dinge).
Ein klassisches Beispiel für die Uminterpretation der Heiligen Schrift ist die Neue-Welt-Übersetzung.
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