Kitabı oku: «Abend im Paradies», sayfa 3

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Andado:
Ein Schauermärchen

Er blühte einfach. In anderen Ländern heißt dieser Baum Silberakazie oder Akazie, aber in Chile heißt er Aromo. Das Wort ist so weich wie die herabgefallenen gelben Blüten, die die Höfe bedeckten. In der letzten Schulstunde: Die Mädchen der vierten Klasse waren um diese Uhrzeit verträumt, unaufmerksam, die weißen Schürzen über den Schuluniformen waren angeschmutzt und zerknittert. Die Mädchen füllten ihre Federhalter aus den Tintenfässern, die auf jedem Tisch standen, und die Federspitzen machten ratschende, verschlafene Kratzgeräusche in den Schreibheften. Die regennassen Zweige des gelben Aromo verdoppelten das Geräusch an den Fensterscheiben.

Señora Fuenzalida sprach eintönig. Die Schüler nannten sie »Fiat«. Sie sah aus wie ein Auto. Klein, gedrungen, fast schwarz, mit verspiegelter Scheinwerfersonnenbrille. Wo hatte sie diese Sonnenbrille gekauft, 1949 in Santiago? Amerikanische Brillen, Nylonstrümpfe und Zippo-Feuerzeuge waren damals Luxusartikel.

Auch ohne Brille hätte sie alles gesehen. Sie hörte Laura in der letzten Reihe, hinter Quena und Conchi. Das leiseste Rascheln der Seiten, die mit einem Federmesser zerschnitten wurden, Seiten, die Laura schon am Abend zuvor hätte auseinanderschneiden und lesen sollen. Die Lehrerin nannte Laura »Suspiros«, weil sich ihr Seitenzerschneiden wie Seufzen anhörte.

»¡Suspiros!«

»Mande, señora.« Laura stand in Habachtstellung, hielt die Hände vor ihrer fleckigen Schürze umklammert.

»Wer sagte ›Lloveré cuando se me antoje‹

Laura lächelte. Sie hatte es gerade gesehen. Ich regne, wann immer ich möchte.

»Du hast es nicht gelesen!«

»Doch. Es war der Verrückte, in der Irrenanstalt.«

»Siéntese.« Señora Fuenzalida nickte.

Endlich klingelte es. Die Schülerinnen standen neben ihren Tischen, bis Señora Fuenzalida den Raum verlassen hatte, dann sammelten sie ihre Bücher ein und gingen hinaus auf den Flur. Sie hängten ihre Schürzen in die Spinde, knöpften sich saubere weiße Kragen und Manschetten um. Knöpften ihre grauen Handschuhe zu, setzten breitkrempige Hüte mit großen Schleifen auf. Schultaschen voller Hausaufgaben, obwohl vier freie Tage vor ihnen lagen.

Laura ging mit Quena und Conchi die Las Lilas Straße in Richtung Hernando de Aguirre hinunter. Der Himmel hatte aufgeklart; die Sonne ging korallenrosa hinter den gewaltigen schneebedeckten Anden unter. Beim Laufen zertraten sie Aromoblüten, und der Duft hüllte sie ein. Die gelben Blüten, die den Gehweg bedeckten, dämpften ihre Schritte.

Man hätte Laura kaum für eine Amerikanerin gehalten. Als Tochter eines Bergbauingenieurs hatte sie die Fähigkeit, sich anzupassen, eine Fähigkeit, über die gewöhnlich Soldatenkinder und Kinder von Diplomaten verfügen. Sie lernen schnell, nicht nur Sprache und Jargon, sondern wie es so läuft, wen man kennen muss. Das Problem für diese Kinder besteht nicht darin, dass sie einsam sind oder immer wieder neu, sondern dass sie sich so gut und schnell anpassen.

An der Ecke der El Bosque und der Las Lilas Straße blieben die Mädchen stehen und besprachen ihre Pläne für das lange Wochenende. Das französische Olympiateam verbrachte den Sommer im chilenischen Trainingslager. Quena würde von Emile Allais persönlich Unterricht bekommen. Die ganze Woche hatte es in den Bergen geschneit, aber schau, jetzt ist es klar. Der Himmel war fast dunkel. Zwei Carabineros in Umhängen kamen vorbei, Gewehre über der Schulter, die Stiefel schwarz von den Aromos.

Conchi hatte an jedem Wochenende dasselbe vor. Schneiderin, Friseur, Ballettunterricht, Tennisunterricht. Lunch im Crillon. Nachmittags Rugby oder Polo spielen. Tee im El Golf. Mit Lautaro Donoso trank sie Cocktails im Charles. Was, wenn er Wange an Wange tanzen wollte?

Laura erwähnte, dass sie die vier Tage auf der Ibáñez-Grey-Farm verbringen würde. Conchi und Quena waren beeindruckt. Andrés Ibáñez-Grey war Senator für Bergbau, war Botschafter in Frankreich gewesen. Er war einer der reichsten Männer Chiles, dessen Anwesen im Süden die gesamte Breite des Landes umspannte, von den Anden bis zum Pazifik. »Chile ist ein schmales Land … aber trotzdem …!«, sagte Quena. Was keines der Mädchen wusste und Laura egal war, war die Tatsache, dass sowohl Ibáñez-Grey als auch ihr Vater für die CIA arbeiteten. Ihre Freundinnen wussten ebenfalls nicht, dass Lauras Eltern nicht mitkommen würden. Sie hatten an diesem Morgen davon Abstand genommen, ihre Mutter war wieder krank. Laura wusste, dass sie sagen würden, es gehörte sich nicht, dass sie alleine fuhr, auch wenn Don Andrés’ Schwester die Anstandsdame spielen würde. Es würde eine kleine Gesellschaft sein. Er war Witwer. Zwei seiner Söhne kamen und die Verlobte von einem der Söhne.

Sie trennten sich mit der Abmachung, sich am Montagabend zu treffen, um für Chemie zu lernen. Zu Hause hängte Laura Hut und Blazer auf, zog die Schuluniform aus. Ihre Eltern gaben an diesem Abend einen Empfang. Ihr Vater gab ihn.

Laura sah nach ihrer Mutter Helen, die schlief. Der Raum roch streng nach Joy-Parfüm und Gin. Auf dem Flur schlurfte der alte Damián vor dem Zimmer ihrer Mutter vorbei, Lappen um die Füße gewickelt, um den Parkettboden zu polieren, zu polieren. Er war immer da, im ersten Stock und im Erdgeschoss, tagein, tagaus, genau wie sein kleiner Enkel immer im Garten. Seine einzige Aufgabe bestand darin, die toten Blüten von den Azaleen zu zupfen. Zwei mozos und Domingo, der Butler, brachten einen Großteil der protzigen »französischen« Möbel in die Garage. Domingo half Laura, Unmengen an Aschenkraut und Ranunkeln aus dem Blumenladen, Narzissen aus dem Garten und Hunderte von Kerzen zu arrangieren. Überall waren Spiegel … Bei Gemälden konnte Helen sich nie entscheiden. Abends, wenn die Kerzen angezündet wären, würde es besser aussehen, sagte Laura. Sie ging mit Domingo und den Haushaltshilfen Listen durch, schaute nach den Fleischklößen, den Empanadas. María und Rosa waren aufgeregt; ihre Haare in Lockenwicklern.

Laura zog ein Cocktailkleid an und trug Make-up auf, was sie in Gegenwart ihrer Freundinnen nie gemacht hätte. Sie sah wie mindestens einundzwanzig aus, hübsch und ein bisschen billig. Ihr Vater, im Smoking, klopfte an die Tür, und sie gingen nach unten. Sie begrüßten Leute des Militärs und Leute vom Bergbau, Diplomaten, chilenische und peruanische Würdenträger, den britischen und den amerikanischen Botschafter. Zu Lauras Aufgaben gehörte es, zu übersetzen; von den Amerikanern sprachen nur wenige spanisch. Helen hatte in drei Jahren nur »Traiga hielo« gelernt. »Traiga café.« Laura ging herum, stellte die Leute einander vor, machte Konversation. Von Señor Soto, einem heruntergekommenen bolivianischen Beamten, wurde sie bedrängt. Er machte Anspielungen, anzügliche Bemerkungen. Laura gab ihrem Vater ein Zeichen, der herüberkam, aber Señor Soto nur angrinste und sagte: »Ist sie nicht süß?« und ging. Laura befreite ihren Arm.

Andrés Ibáñez-Grey war im Foyer. Sein Haar war silbern, seine Augen von einem so blassen Grau, dass sie wie die blicklosen Augen einer Statue aussahen. Domingo nahm ihm Hut und Mantel ab. Laura trat auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.

»Ich bin Laura. Nett von Ihnen, mich auf die Farm einzuladen, auch wenn meine Eltern nicht mitkommen können.« Don Andrés hielt ihre Hand fest in seiner.

»Ted sagte, sein Kind würde mitkommen, nicht eine entzückende Frau.«

»Ich bin vierzehn. Ich habe mich nur für dieses Fest schick gemacht. Bitte kommen Sie herein.« Der amerikanische Botschafter stand direkt vor ihnen. Die Männer umarmten einander. Laura floh, peinlich berührt.

Sie brachte ein Tablett mit Essen und Kaffee zu ihrer Mutter hinauf, setzte sie im Bett auf. Laura beschrieb ihr das Essen und die Blumen, erzählte ihr, wie sich jeder gekleidet hatte, wer grüßen ließ.

Sie erzählte Helen von Andrés Ibáñez-Grey. »Mama, er ist hundertmal beeindruckender als auf den Fotos.« Ein gebieterischer Jefferson.

»Er ist auf jeden Fall mehr wert als so ein alter Zwanzig-Dollar-Schein!«, sagte Helen.

»Ich wünschte, du würdest morgen mitkommen. Kannst du es dir nicht anders überlegen? Ich möchte nicht hinfahren.«

»Sei nicht albern. Es soll fantastisch sein. Außerdem muss dein Daddy sich wirklich gut mit ihm stellen. Ich wünschte, ich könnte mich um diese Dinge kümmern.«

»Welche Dinge?«

Helen seufzte. »Oh, verdammt. Alles.«

Sie hatte nichts gegessen. »Mein Rücken bringt mich um. Ich werde versuchen, ein bisschen zu schlafen.« Sie hatte diesen Blick, der sagte, dass sie einen Drink haben wollte. Allerdings hatte Laura ihre Mutter noch nie trinken sehen.

»Gute Nacht, Mama.«

Laura schaute noch einmal nach, wie es um die Dinge in der Küche stand, ging aber nicht mehr zum Fest. Ihr Vater habe sie gesucht, sagte María, aber Laura ignorierte sie. In ihrem Zimmer rief sie vor dem Schlafengehen Conchi an. Sie redeten über Quena, wie rechthaberisch und metete sie sei. Laura wusste, dass Quena und Conchi wahrscheinlich erst vor wenigen Minuten über sie gelästert hatten. Wenn sie nicht so schläfrig gewesen wäre, hätte sie Quena angerufen, um darüber zu reden, wie dumm es von Conchi war, mit Lautaro Donoso auszugehen. Er war viel zu alt, hatte Rennpferde. Er ging die ganze Nacht aus, besuchte dann die Dampfbäder und ging, immer noch im Smoking und ohne im Bett gewesen zu sein, zur Morgenmesse.

Die Mädchen trafen sich alle mit Männern, die viel älter waren als sie. Es war selbstverständlich, dass diese Männer ein anderes, völlig getrenntes gesellschaftliches Leben hatten. Mit den jungen, unberührten Mädchen vom Santiago College oder aus den französischen Schulen gingen sie zu Rugby- oder Kricketspielen, spielten Golf und Tennis. Sie führten die Mädchen in die Oper aus, in Begleitung einer Anstandsdame zum Tanz und vor dem Dinner in Clubs. Aber spätabends lebten diese Männer in einer anderen Welt, einer Welt der Nachtclubs, Kasinos und Partys, mit Geliebten oder Frauen von medio pelo. Das würde ihr ganzes Leben so weitergehen, hatte eigentlich schon begonnen, als sie noch Kinder waren. Ihre Mütter, in Pelzen, küssten sie abends vor dem Einschlafen. Aber es waren die Dienstmädchen, die sie fütterten, in den Schlaf schaukelten. María packte Lauras Sachen, während Laura sich unterhielt, und als sie mit Packen fertig war, fing sie an, Laura die Haare zu kämmen. Laura legte die Hand über die Sprechmuschel. Nein, María, du bist zu müde. Hasta mañana. Zu Conchi sagte sie, sie müsse ins Bett gehen, bevor es zu kalt würde. María hatte einen heißen Ziegel ans Fußende gelegt.

Laura wollte gerade das Licht ausschalten, als María mit Kakao zurückkam. Sie küsste Laura auf die Stirn. Buenas noches, mi doña. Von den leeren Straßen draußen hallte der Gesang des Nachtwächters wider … Medianoche y andado. Mitternacht und »gelaufen«. Andado y sereno … Heil und gesund.

Regen schlug auf das Glasdach des dunklen Bahnhofs von Mapocho. Draußen standen schwarz glänzende, schnittige Züge. Schwarze Schirme, schwarz uniformierte Gepäckträger verschwanden im weißen Rauch, der fauchend unter den Zügen hervorquoll. Fotografen waren da, nicht von den Gesellschaftsseiten, wie Conchi gehofft hatte, sondern von der linksgerichteten Zeitung. Der Bergbausenator und der Yankee-Imperialist, die unser Land plündern, beraten sich im Bahnhof Mapocho.

Die beiden Männer begrüßten einander und verabschiedeten sich. Laura stand abseits, unbeholfen, neben Don Andrés’ Sohn Pepe. Er war jung, trug eine schwarze Schuluniform. Er wippte, wurde rot, starrte seine Füße an. Xavier, der älteste Sohn, war das genaue Gegenteil. Schneidig, herablassend, in englischem Tweed. Laura mochte ihn schon jetzt nicht. Warum ist Gelangweiltsein weltmännisch? Elegante Reisende und Theaterbesucher tragen denselben gequälten Ausdruck von Ennui zur Schau. Warum kann man nicht sagen »Eine Reise? Aufregend! Wunderbares Stück!«?

Xavier und seine Verlobte Teresa stritten sich mit Teresas Mutter. Die Mutter war sehr verärgert. Don Andrés’ Schwester Doña Isabel war krank, konnte nicht kommen. Teresas Mutter fand, dass es keine angemessene Anstandsdame gab. Don Andrés überzeugte sie davon, dass seine Haushälterin Pilar zugegen sein würde, um auf Teresa und Laura aufzupassen. Besänftigt verließen die Frauen mit Lauras Vater den Bahnhof.

Don Andrés saß am Fenster auf rotem Samt. Der Schaffner und mehrere Gepäckträger standen redend und lachend bei ihm, die Hüte in den Händen. Auf der anderen Seite des Ganges saßen Xavier und Teresa Laura und Pepe gegenüber. Teresa redete in Babysprache und mit einer hohen Stimme, die nicht zu ihrer matronenhaften Gestalt passte, mit Xavier. Pepe hatte schon angefangen, einen lateinischen Text zu lesen, ehe der Zug überhaupt den Bahnhof verließ.

Xavier erzählte Laura, dass Pepe in zwei Wochen der Priesterschaft beitreten würde. Uns für immer verloren. Aber, natürlich, gefunden. Bist du katholisch? Xavier war groß, sein Haar pechschwarz, ansonsten war er seinem Vater sehr ähnlich, aristokratisch, sarkastisch. Mit größtmöglichem Takt »ordnete« er Laura »ein«. Gute Schule. Protzige Umgebung. Nein, sie kannte Europa nicht. Sie spielte Tennis im Prince of Wales. Gehörte nicht zum El Golf Club. Sommer in Viña del Mar. Sie kannte Marisol Edwards, aber nicht die Dusaillants. Ihr Französisch war gut. Du hast Sartre nicht gelesen?

»Ich habe sehr wenig gelesen. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich in Bergbausiedlungen in den Staaten verbracht. Ich bin wie Jemmy Buttons«, sagte Laura. Wenigstens hatte sie Subercaseaux gelesen, wenn schon nicht Darwin.

»Eine hübschere Version des edlen Wilden«, sagte Don Andrés von der anderen Seite des Ganges. »Laura, komm, setz dich zu mir. Ich erzähl dir, wo wir sind.«

Erleichtert setzte sie sich auf den Platz ihm gegenüber, presste die Stirn an die Scheibe, kalt. An der Außenseite war das Glas vom Ruß der Dampfmaschine bespritzt. Gelbe Aromoblüten spiegelten sich im Bío-Bío-Fluss, in Seen, in Pfützen. Don Andrés nannte die Namen der Städte, an denen sie vorbeifuhren, der Flüsse, die sie überquerten, nannte die Namen der Obstbäume, erzählte ihr, was auf den Feldern gesät werden würde. Als der Schaffner vorbeikam und einen Gong fürs Mittagessen schlug, sagte Don Andrés zu den anderen, sie sollten vorausgehen. So einfach war sie, die Verkoppelung von Don Andrés und Laura für die Zeit der Ferien.

Im Speisewagen gab es mehr Kellner und Hilfskellner als Gäste, eine übertriebene Menge an Porzellan, Silberbesteck und Weingläsern für jeden Gang, endlos viele Gänge, die aus einer Bordküche gebracht wurden, die kaum einen Quadratmeter maß.

Don Andrés fragte sie nach den Bergen in Idaho und Montana, den Silber- und Zinkminen. Wie haben die Bergleute gelebt? Wo waren die Schmelzhütten? Sie war froh, dass sie über diese Orte sprechen konnte, hatte Heimweh nach ihnen. Laura hatte es ihrem Vater noch nicht verziehen, dass er den Bergbau verlassen hatte, um Manager und Politiker zu werden. Er hatte das nicht gewollt. Es war Helen, die sich so nach Glanz, Romantik und Geld gesehnt hatte. Und jetzt verließ sie, wie in den Rocky Mountains, kaum mehr ihr Zimmer.

Laura erzählte Don Andrés von der Wüste in New Mexico und Arizona. Ja, es war wie Antofagasta. Sie erzählte ihm, wie sie mit ihrem Vater in den Bergen wandern gegangen war, wie sie in den Bächen Gold gewaschen hatten. Er hatte sie in die Minen mitgenommen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Manchmal in einem normalen Aufzug im Minenschacht; in kleinen Minen auf einem großen Fass, das an einem Seil befestigt war, sie hielt sich am Seil fest, ihr Kopf auf Höhe des rauen Drillichs eines Bergmannknies. Der Geruch der Minen. Dunkel, dunkel. Wie es sich anfühlte, direkt in die Erde hineinzugehen. Der Schock, als sie in Rancagua ihren ersten Tagebau sah, die Anaconda-Kupfergrube. Die gewaltige Spalte, die Schändung.

Sie errötete bei diesem Wort. Sie hatte geredet und geredet, schwindlig vom Wein und der Aufmerksamkeit. Wie peinlich, bitte entschuldigen Sie. Ganz und gar nicht. Bezaubert. Sie und Don Andrés waren die Einzigen, die noch im Speisewagen saßen. Es gab so viele Kellner, dass sie es nicht bemerkt hatte.

Seinen Arm auf der Lehne ihres Stuhles hatte sie nicht bemerkt, wie sein Haar ihre Schulter streifte, als er ihr Glas füllte. Ohne sich ihrer selbst bewusst zu sein, ohne sich überhaupt etwas bewusst zu sein, hatte sie sich in die Gegenwart dieses Mannes hineingleiten lassen. In den Zwischenräumen zwischen den Waggons nahm er ihren Arm, um sie zu stützen, zog sie zu sich, als ein mozo mit Gepäck vorbeikam. Sie reagierte auf diese Intimitäten nicht, was sie bei jedem anderen Mann getan hätte. Sie war einfach eingehüllt.

Das würde ihr nie wieder passieren. Als sie älter wurde, behielt sie immer die Kontrolle, auch wenn sie gefügig war. Das war das erste und letzte Mal, dass jemand die Macht über sie hatte.

Pepe schlief auf der anderen Seite des Ganges von Xavier und Teresa. Sein Gesicht war blass, dunkle Wimpern verschatteten seine Wangenknochen, in den Händen hielt er einen Rosenkranz, das Lateinbuch. Xavier und Teresa spielten Canasta.

»Gut. Wir machen mit.«

»Papá, du spielst nie Canasta.«

»Teresa, du und ich werden gegen Xavier und Laura spielen.«

Angenehm, der Rest der Reise. Draußen wurde es dunkel. Scherze und Gelächter. Das beruhigende Geräusch des Mischens von Karten. Klapp, klapp, klapp, als sie ausgeteilt wurden. Der Pfiff des Zuges, der gleichmäßige Regen auf dem Metalldach. Klick und Aufflammen des goldenen Zigarettenanzünders von Don Andrés. Seine grauen Augen, die durch den Rauch blinzelten.

Der Tee wurde von vier mozos im Smoking serviert. Ein Samowar mit Tee, eine Kaffeekanne aus Zinn, Sandwiches, cuchuflís mit Karamel. Teresa goss ein. Sie und Laura waren jetzt freundlich zueinander, unterhielten sich über Kaufhäuser. New York. Saks. Bergdorf’s.

Es war dunkel und regnete immer noch, als der Zug in Santa Bárbara anhielt. Sie wurden von Gabriel abgeholt, dem Verwalter der Farm. Ein safranfarbener Huaso in einem dicken Poncho, breitkrempiger Hut, Stiefel mit Sporen. Laura und Don Andrés fuhren im Fahrerhaus, die anderen kletterten auf die Pritsche des Lastwagens, über die eine Plane gespannt war. Gabriel und zwei andere Männer luden das Gepäck ein, Kisten über Kisten voller Lebensmittel.

Der Lastwagen war das einzige Fahrzeug am Bahnhof und auf den schlammigen Straßen. Auf dem Marktplatz gab es zwei Gaslaternen, Frauen in schwarzen Schals eilten zur Vesper in einer von Kerzen erleuchteten Kirche.

Als sie den Marktplatz verlassen hatte, war niemand mehr zu sehen. Dann stundenlang über offenes Land, auf der schlechten Straße, kein einziges Haus oder Licht, auch kein anderes Auto. Keine Windmühle, kein Telefonmast. Rehe und Füchse, Hasen und andere Feldtiere rannten im Scheinwerferlicht davon. Der Regen war das einzige Geräusch. Don Andrés und Gabriel unterhielten sich über das Pflügen, das Pflanzen, über Pferde und Schafe. Wer gestorben war, welche Männer in die Stadt gezogen waren. Santiago war die Stadt. Endlich stießen sie auf blasse, flackernde Lichter, eine Ansammlung von Hütten in einem Hain von Eukalyptusbäumen. Der Lastwagen wurde langsamer, und Don Andrés kurbelte das Fenster herunter. Eine Wolke von Aromonadelbäumen, der Geruch nach Eichenholzfeuer. Seine Tagelöhner wohnten hier. Don Andrés verwendete nicht das chilenische Wort für Bauern, roto, was kaputt bedeutet.

Dann fuhren sie weiter, eine Anhöhe hinauf, hielten vor hohen Eisentoren. Eine Gestalt in einem Umhang öffnete die Tore, winkte sie weiter, meilenweit an Pappeln vorbei, Obstgärten, die bis auf ein blassrosa Gestöber aus Pflaumenblüten kahl waren. Auf der Spitze des Hügels ließ Don Andrés Gabriel den Lastwagen anhalten. Sie stiegen im Regen aus. Weit unten im Tal stand ein steinernes Giebelhaus, gelbe Lichter spiegelten sich in einem See darunter. Sonst gab es im ganzen Umkreis meilenweit nirgendwo ein Licht, aber überall pulsierten im Dunkeln die gelben Haine der Aromobäume. Laura war ergriffen von der majestätischen Aussicht, der Stille, aber sie lachte.

»In einem amerikanischen Film würde man jetzt sagen: All das gehört mir.«

»Aber es ist ein Schwarz-Weiß-Film. Ich kann nur sagen, dass es all das bald nicht mehr gibt.«

Zurück im Lastwagen fragte sie ihn, ob es eine Revolution geben würde, ob die Kommunisten je an die Macht kommen könnten.

»Claro que sí. Das wird bald geschehen.«

»Mein Vater sagt, es kann nicht passieren.«

»Dein Vater ist sehr naiv. Aber das macht natürlich seinen Charme aus.«

Im kopfsteingepflasterten Hof bellten Hunde. Vor der Lampe und dem Kerzenlicht, das aus der offenen Tür fiel, waren die Silhouetten Dutzender Bediensteter zu sehen. Im Inneren, unter persischen Teppichen in üppigen Farben, leuchtete der Parkettboden. Dunkle spanische Gemälde, blasse Gesichter verträumt im Kerzenlicht. Pilar, eine alte Frau, gab allen die Hand. Don Andrés sagte ihr, sie wäre Teresas Anstandsdame, sie sollte Teresa in ihr Zimmer bringen und auspacken. Wo ist Dolores?

Aquí, señor. Ein schönes, grünäugiges Mädchen, nicht viel älter als Laura, mit schwarzen Zöpfen bis zur Hüfte. Sie solle sich um Laura kümmern, sagte er. Laura folgte dem Mädchen die geschwungene Treppe hinauf. Die beiden sprangen leichtfüßig die Stufen hinauf, wie Kinder. Laura versuchte sich vorzustellen, wie das Haus gebaut worden war, wie das Material oder die Arbeiter überhaupt an diesen entlegenen Ort gekommen waren … wie zur Errichtung der Sphinx. Immer wieder blieb sie stehen, um sich die Wandteppiche und Schnitzereien anzusehen. Dolores lachte. »Warte, bis du dein Zimmer siehst!«

Ein Brokatbett mit Vorhang, ein blau gekachelter Kamin, ein ovaler Spiegel über einer antiken Truhe. Das Bad war aus Marmor, das Licht dutzender Kerzen wurde von den Spiegeln zurückgeworfen. Das Wasser war lauwarm, aber neben dem Bett standen kupferne Eimer voll mit kochendem Wasser.

Die welligen alten Glasfenster und die gelben eingetrübten Spiegel verstärkten noch die Illusion eines Traums. Dolores verschwand aus dem Spiegel, aber ihre Stimme war noch da, weich, der Singsang der Huasos. »E’ una hora, ma’ o meno’«, antwortete sie auf die Frage, wann das Abendessen fertig sei. Sie packte Lauras Sachen aus und legte noch ein Scheit aufs Feuer. Sie stand abwartend da, bis Laura nickte. Gracias. Allein zurückgeblieben, zitterte Lauras Spiegelbild; eine alte Sepiafotografie, die im Flackern der Lichter schwankte.

Die anderen waren bereits im riesigen Wohnzimmer. Ein Feuer brannte. Teresa saß am Flügel und spielte Chopins »Regentropfen-Prélude«. Sie spielte es in diesen Tagen ständig. Wann immer Laura sich an Junquillos erinnerte, ging ihr die Melodie wieder und wieder durch den Kopf. Don Andrés reichte ihr ein Glas Sherry.

»Ich bin in dieses Haus verliebt, wie eine englische Gouvernante!«

»Geh nicht in den Ostflügel!« Xavier lächelte. Laura konnte ihn ein bisschen besser leiden, lächelte zurück.

»Ich habe es meinen Träumen entsprechend gebaut«, sagte Don Andrés, »wie in französischen und russischen Romanen. Das Land selbst ist der reinste Turgenjew.«

»… Die Leibeigenen, ja«, sagte Xavier.

»Keine Politik, Xavier. Laura, mein Sohn ist ein Sozialist, ein Möchtegern-Revolutionär. Ein typischer chilenischer Anarchist, redet von der Not der Massen, während ein Diener seinen Mantel bürstet.« Xavier sagte nichts, trank. Pepe blätterte die Noten am Klavier um.

»Laura, was meinst du, wie du dich erst in meine Kutschen verlieben wirst! Ich sammle sie. Du kannst Becky Sharpe, Emma, Madame Bovary spielen.«

»Ich kenne keine davon.«

»Eines Tages wirst du das. Und auf diese Weise wirst du das Buch sinken lassen und an meinen Landauer und mich denken.«

(Oh. Stimmt.)

Auch im Speisezimmer gab es Kamine. Zwei mozos bedienten sie, tauchten auf, von wo immer sie sich gerade aufhielten, und verschwanden in den Schatten des Raums.

Pepe war lebhaft und heiter. Seine Stute hatte gefohlt, es gab Dutzende junge Lämmer. Er und sein Vater sprachen über verschiedene Ereignisse auf dem Besitz … die Tiere, Vögel und Toten unter den Tagelöhnern.

Nach dem Essen spielten Xavier und Teresa im Wohnzimmer Backgammon, Pepe und Laura tranken mit Don Andrés im Arbeitszimmer Brandy und Kaffee. Ein kleines Feuer, das von einem mozo unterhalten wurde, der aus dem Flur hereinkam, sobald es anfing zu schwelen oder ein Scheit mit einem Funkenregen in sich zusammenstürzte.

Zu dritt lasen sie laut vor. Neruda. Ruben Daríos Sonatine »La princesa está triste. La princesa está pálida«.

»Lasst uns Turgenjews Erste Liebe lesen. Du fängst an, Pepe, aber mit mehr Gefühl. Du wirst ein perfekter Priester werden, so eintönig, wie du redest.«

Als Laura an der Reihe war, tauschte sie mit Pepe den Platz, um neben der Lampe zu sitzen. Während des Lesens schaute sie von Zeit zu Zeit zu den beiden Männern ihr gegenüber auf. Pepes graue Augen waren geschlossen, aber Don Andrés’ Augen schauten in ihre, als sie vorlas, wie Zoraida einen Wollfaden um die Hand des armen Vladimir wickelte.

Oh, ihr zarten Gefühle, ihr sanften Töne, du Herzensgüte, wenn die bewegte Seele zur Ruhe kommt und sich freudig den Aufwallungen erster Liebesregungen hingibt, wo seid ihr?

»Pepe schläft. Er hat das Beste verpasst.«

»Du schläfst auch gleich ein. Ich bringe dich in dein Zimmer.«

Er richtete den Docht der Laterne an ihrem Bett, küsste ihre Augenbraue. Kühle Lippen. »Buenas noches, mi princesa.«

Du dummes Ding, sagte Laura zu sich selbst. Er hat dich fast schwach werden lassen! Genau wie jemand aus Mamas Liebesromanen.

Laura lag im Bett, konnte nicht einschlafen. Dolores kam auf Zehenspitzen herein und machte das Fenster einige Zentimeter weit auf. Sie legte ein Scheit ins Feuer, löschte die Laterne. Nachdem Dolores gegangen war, stand Laura auf und ging ans Fenster, öffnete es weit hinein in den Duft nach Nadelbäumen und gelbem Aromo. Es hatte aufgehört zu regnen. Am aufgeklarten Himmel standen blendend hell die Sterne und beleuchteten die Felder und den Hof. Laura sah, wie Dolores den kopfsteingepflasterten Hof überquerte und durch eine Tür neben der Küche trat. Minuten später überquerte Xavier den Hof und klopfte an die Tür. Dolores öffnete lächelnd und zog ihn hinein, an sich.

Laura hörte, wie Teresas Fenster sacht geschlossen wurde. Laura ging zurück ins Bett. Sie versuchte, wach zu bleiben, nachzudenken, schlief aber ein.

Die Tage sind heller, wenn die Nächte nicht elektrisch beleuchtet sind. Die Sonne fiel warm ins Zimmer, fing sich in einem Brieföffner mit Perlengriff, im Kaminsims aus Messing, im geschliffenen Marmeladenglas auf dem Frühstückstablett. Vor dem Fenster gleißten die drei weißen Gipfel der Las Malqueridas vor dem klarblauen Himmel.

»Sie reiten schon«, sagte Dolores. »Don Pepe sagt, du sollst dich beeilen, er möchte, dass du das Fohlen siehst. Ich habe dir diese Reitsachen hier gebracht.«

»Ich wollte einfach diese Hosen anziehen …«

»Aber die hier werden viel schöner aussehen.«

In Reitkleidung, das Haar hochgesteckt, sah Laura in den dunklen Spiegeln wie das Gemälde eines Menschen aus einem anderen Jahrhundert aus. Dolores nahm das Frühstückstablett, trat zurück, um Teresa ins Zimmer zu lassen. Laura suchte in ihren Gesichtern nach irgendeinem Ausdruck – der Rivalität, Verachtung, Verlegenheit –, aber beide waren teilnahmslos.

»Meine Bettwäsche riecht muffig«, sagte Teresa. »Bitte wechsle oder lüfte sie.«

»Ich werde es deinem Dienstmädchen ausrichten.« Dolores ging an ihr vorbei hinaus, den Kopf erhoben. Teresa zog einen Flunsch, warf sich auf die Chaiselongue am Fenster.

»Ich wünschte, Tía Isabel wäre hier. Sie würde mich zu einem Spaziergang am See mitnehmen. Ich hasse Pferde. Du nicht auch?«

»Nein. Ich mag Pferde. Aber ich bin noch nie mit Sportsattel geritten.«

Auf dem Hof rief Pepe nach ihnen. Er ritt eine Fuchsstute, führte ein elegantes schwarzes Pferd am Zügel. Laura rief zu Pepe hinunter, dass sie gleich da wäre. Aber Teresa hörte nicht auf zu reden. Sie wollte bald heiraten. Die Heirat würde Xavier von seinen unüberlegten politischen Einstellungen heilen, ihn sesshaft werden lassen. Wie lange waren sie schon verlobt? Seit ihrer Geburt, sagte Teresa. Ihre Väter hatten das entschieden. Glücklicherweise hatten sie sich ineinander verliebt.

»Lass uns gehen. Es ist ein perfekter Tag«, sagte Laura, aber Teresa zog ihren Mantel aus. »Nein. Ich bleibe hier und stricke. Ich bin krank. Sag Xavier, er soll herkommen und mir Gesellschaft leisten.«

»Wenn ich ihn sehe. Schau mal, er und Don Andrés sind weit weg, in der Nähe der Gebirgsausläufer.«

Pepe half ihr beim Aufsitzen der schönen Stute Electra. Zuerst schauten sie sich das Fohlen an, dann ritten sie auf der Koppel neben dem Stall. Pepe sah zu, wie sie über Balken setzte, kleine Hürden übersprang. Sie lachten beide laut auf, weil der Tag so prächtig war, die Pferde sprühten vor Leben. Xavier und Andrés kamen auf sie zugaloppiert.

»Lass uns zu ihnen reiten. Schaffst du den Zaun?« Aber ehe sie antworten konnte, waren sie schon am Zaun.

»Kein schlechter Sprung«, sagte Don Andrés.

»Nicht schlecht? Es war großartig. Mein erster Sprung!«

»Mach es noch mal.«

Bevor sie wegritt, richtete Laura Xavier Teresas Botschaft aus.

»Que regio. Es ist langweilig, mit ihr zu reiten. Lass uns zum Fluss reiten, Pepe!« Die Brüder galoppierten davon, einander zurufend. Laura machte den Sprung noch einmal, aber schlecht.

»Einmal noch«, sagte er und schlug mit der Peitsche auf Electras Hinterteil, das Pferd raste davon. Vor Schreck zog Laura die Zügel so heftig an, dass sich das Pferd aufbäumte und sie zu Boden fiel. Don Andrés stieg nicht ab, lachte ihr von oben zu.

»Ihr passt gut zueinander, ihr beiden.«

»Ich bin nicht scheu.«

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