Kitabı oku: «Vico - Il Conte»
VICO
Il Conte
Teil 2 der Dark-Romance-Dilogie »Der Cortone-Clan«
von
Lucia Bolsani
Contentnotes: Diese Dilogie enthält explizite Gewaltdarstellungen, auch sexuelle Gewalt, Gewalt gegen Kinder und das Thema Suizid.
Wen das Thema Vergewaltigung zu sehr mitnimmt, sollte das Kapitel »Nina« besser auslassen.
Lektorat: Andrea Benesch | www.lektorat-federundeselsohr.de
Covergestaltung: Buchgewand Coverdesign | www.buch-gewand.de
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2021 Lucia Bolsani
Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser,
herzlich willkommen zum zweiten Teil meiner Dilogie. Diesmal vorweg eine Warnung an alle, die den ersten Teil nicht kennen: Es ist durchaus sinnvoll, die Bücher in der Reihenfolge zu lesen, in der ich sie geschrieben habe. Selbstverständlich freue ich mich über jede Leserin und jeden Leser, auch wenn Du Dich nur für Il Conte interessierst. Es auch nicht so, dass man dem zweiten Teil nicht folgen kann, ohne den ersten gelesen zu haben. Es gibt sogar in schönster Seifenopernmanier einen Vorspann »Was bisher geschah«. Aber mal angenommen, Dir gefällt das Buch und Du möchtest Dich dann doch an den ersten Teil wagen, wäre da die Spannung so ziemlich futsch. Ich habe Dich jedenfalls gewarnt.
Ansonsten gilt, was ich im letzten Vorwort bereits erwähnt habe. Ich gehe davon aus, Du weißt, was Dich im Genre Dark Romance erwartet.
Leider haben sich die Manieren der handelnden Personen seit dem ersten Teil auch nicht wesentlich verbessert. Eine Übersetzung der bedauerlicherweise immer noch inflationär verwendeten italienischen Kraftausdrücke findet ihr im Anhang. Im Zweifel reicht es aber auch, sich ein deftiges Scheiße! oder Arschloch! vorzustellen.
Doch nun zurück zu einem München ganz ohne Dirndl, Lederhosen und Lebkuchenherzen. Ich wünsche Dir spannende Stunden!
Deine Lu
Was bisher geschah
München, Sommer 2019
Eine drogensüchtige Prostituierte gehört normalerweise nicht zu der Klientel, mit der die junge Anwältin Mayra Jennings sich herumschlagen muss. Doch die Begegnung mit Jasemina ist nur das erste einer ganzen Reihe unglaublicher Geschehnisse, die Mayra nicht nur beruflich, sondern auch privat an ihre Grenzen bringen. Denn das nächste unliebsame Mandat betrifft Tosh Silvers, Finanzmanager einer mafiaähnlichen Organisation, die in München ihr Unwesen treibt – und Jaseminas verhasster Bruder.
Mayra und Tosh ahnen nicht, dass ihr Zusammentreffen kein Zufall, sondern ein Ablenkungsmanöver von Tosh Silvers’ Boss Carlo Cortone ist, der alles daransetzt, damit sein Schützling niemals erfährt, dass es kein anderer als Carlo selbst war, der vor Jahren Toshs Großvater ermordet hat. Eine Tat, die ausgerechnet Jasemina aufdecken wollte.
Zwischen Mayra und Tosh entbrennt eine heiße Affäre, in der Mayra zum ersten Mal im Leben die Mauern einreißen kann, die sie um sich herum errichtet hat. Doch Carlos Intrige nimmt ihren Lauf, und es gelingt ihm, Tosh weiszumachen, dass sein einziger echter Freund Georg seinen Großvater auf dem Gewissen hat. Rasend vor Wut tötet Tosh Georg, kurz bevor Mayra den wahren Schuldigen entlarven kann.
Schockiert von der Wahrheit trennt Tosh sich von Mayra, und am nächsten Tag muss sie erfahren, dass ihr Geliebter ermordet wurde. Von Carlo Cortone, heißt es, auch wenn Mayra es besser weiß. Sie ist froh, dass der Fiesling Cortone in Untersuchungshaft gelandet ist. Wo er sich immer noch befindet, als ein paar Monate später ein neuer Oberstaatsanwalt seinen Fall übernimmt.
Doch wer ist eigentlich Carlo Cortone, der Mann, der hinter dieser Intrige steckt? Kehren wir zurück zu einem Ereignis, das vor vielen Jahren in Italien stattfand …
Prolog
Padolfi, 17. August 1993, nachts
Ich mag klare Regeln. Regeln, wie sie innerhalb der Famiglia gelten. Der Capo schafft an, und wer nicht gehorcht, verliert ein Körperteil, im schlimmsten Fall sein Leben. Nicht immer gibt der Boss sich mit einem Finger oder einem Auge zufrieden, weshalb so mancher Missetäter der Ansicht sein dürfte, der Verlust des Lebens wäre barmherziger gewesen. Nun ja, nicht meine Sache. Ich entscheide nicht, ich führe aus.
Matteo Cortone hat sein Leben jedenfalls verwirkt. Ebenso wie seine Frau und die zwei Bälger, die er in die Welt gesetzt hat. Matteo hat den Eid gebrochen, ist zur Konkurrenz übergelaufen. Stronzo! Glaubt er wirklich, der Chef der Ulivieris würde einem Verräter eine bessere Position anbieten als der eigene Capo? Pah!
Ich nehme meine Zukunft lieber selbst in die Hand. Ich werde meine Chance bekommen. Das wusste ich in dem Moment, als mir befohlen wurde, diese scheußliche Sprache zu lernen, die sich anhört, als belle ein alter Hund den Mond an. Das Land, in dem sie gesprochen wird, ist reizlos, kalt und nass, sagt mein Lehrer. Aber was jucken mich das Wetter und Männer, die Bier statt Grappa trinken? Hauptsache, ich bleibe nicht ewig ein Handlanger, nur gut genug, um jene aus dem Weg zu räumen, die es geschafft haben, die Bosse zu verprellen. Mir steht der Sinn nach mehr.
Aber erst muss ich beweisen, was in mir steckt. Indem ich meinen eigenen Onkel beseitige. Ich habe keine Gewissensbisse deswegen – warum sollte ich? Ein Gewissen – was soll das überhaupt sein? Etwas, auf das man gut verzichten kann, will es mir scheinen.
Es war unter der Würde des Capos, mich persönlich von seinen Wünschen zu unterrichten. Noch! Aber den richtigen Mann für diesen Auftrag hat er auf jeden Fall gewählt. Deswegen werde ich die Sache auch allein durchziehen, obwohl das riskant ist. Aber lautlos und schnell zu arbeiten war schon eine Spezialität meines Papàs, und ich war ein gelehriger Schüler.
Sorgfältig kontrolliere ich meine Ausrüstung. Benzinkanister, Seile, meine Lieblingsmesser. Die Thompson habe ich zu Hause gelassen, gehe aber davon aus, dass Matteo mir mit einem Revolver aushelfen kann, sollte ich eine Schusswaffe benötigen. Ich ziehe die dünnen Lederhandschuhe an und stülpe die Kapuze meines schwarzen Sweatshirts über den Kopf. Nicht, dass das notwendig wäre, nicht in diesem Teil von Padolfi. Niemand wird etwas aussagen, jede Ermittlung wird im Sande verlaufen. Aber schlampige Arbeit ist nicht das, was mich in der Achtung des Capos steigen lässt.
Wie auf Samtpfoten schleiche ich zu dem mickrigen Häuschen, das sich im fahlen Mondlicht abzeichnet, und stelle den Benzinkanister neben der Eingangstür ab. Das Schloss ist ein Witz, aber wahrscheinlich ging Matteo bis vor Kurzem davon aus, dass der Name Cortone ihn ausreichend schützen würde. Ich brauche nur Sekunden, dann ist die Tür offen. Ich habe Onkel Matteo nicht oft besucht, doch ich weiß, dass sich das Kinderzimmer im hinteren Teil der primitiven Behausung befindet. Ich schleiche hinein, die Kinder schlummern friedlich.
Ich beginne mit dem Jungen mit den dunklen Locken. Sein Kopf liegt entspannt auf einem gestreiften Kissen, der Mund ist ein klein wenig geöffnet. Ich zwänge einen Knebel zwischen seine ebenmäßigen Zähne, er wacht auf, strampelt wild, aber vergeblich. In Windeseile habe ich seine Hände und Füße gefesselt. Der Junge wirft sich im Bett herum, doch alles, was er damit erreichen wird, sind aufgeschürfte Gelenke. Na ja, allzu lange wird er darunter ja nicht zu leiden haben.
Das Mädchen mit den dicken Zöpfen bekommt von all dem nichts mit. Sie hat ihre Decke weggestrampelt und sieht sehr niedlich aus in ihrem geblümten Nachthemd. Schade, dass ihr Vater ein Verräter ist.
Auch die Kleine ist rasch verschnürt. Mit den Kindern werde ich mich später beschäftigen. Wenn ich sie nicht mehr als Druckmittel benötige. Die dicken Tränen werden dem Mädchen nicht helfen.
Leise betrete ich das Elternschlafzimmer. Das Ehepaar liegt eng beisammen, die Hände ineinander verschränkt. Wie süß, aber nicht gerade hilfreich. Ich werde die Frau kaum fesseln können, ohne dass ihr Mann aufwacht. Andererseits deutet dieses traute Zusammensein darauf hin, dass Matteo seine Francesca nicht einfach im Stich lassen und davonlaufen wird, sobald er merkt, was hier los ist. Ach Onkel, weißt du denn nicht, dass man seine Schwächen niemals so deutlich zeigen sollte? Aber andererseits, er hat sich dafür entschieden die Famiglia zu verraten, mit seinem Hirn kann es also nicht weit her sein.
Wie ihre Tochter hat die Frau ihr Haar zu Zöpfen geflochten, bevor sie zu Bett ging. Ich packe einen und zerre sie mit einem heftigen Ruck daran aus dem Bett. Derartig unsanft aus dem Schlaf gerissen, schreit sie wie am Spieß, was auch Matteo munter werden lässt.
Er springt aus dem Bett und zieht eine Pistole unter der Matratze hervor. Zu spät. Längst habe ich Francesca an mich gepresst und ein Messer an ihre Kehle gesetzt. Wenn Matteo jetzt schießt, wird er nur seine Frau treffen.
»Hallo, Onkel«, sage ich verächtlich. »Ich fordere deinen Gehorsam und deine Treue gegenüber der Famiglia ein!«
Matteos Hand mit der Waffe zittert merklich. Was für ein Schlappschwanz!
»Ach, ich vergaß, du gehörst ja nun zu Ulivieris verlauster Bande. Kannst dir sicher vorstellen, dass dem Capo nichts mehr an deinem Leben liegt. Aber was mit deiner Frau und den Kindern passiert, hängt allein von dir ab. Gib mir die Waffe.«
Er sollte wissen, dass außer mir niemand lebend hier herausspazieren wird. Aber welche Optionen hat er denn? Gegen mich hat er keine Chance, und wenn er die Kids nicht meiner Rache überlassen will, sollte er gehorchen.
Tatsächlich gibt Matteo auf und kickt die Knarre mit seinem nackten Fuß zu mir.
»Dreh dich um, Hände nach hinten«, befehle ich.
Zögernd wendet mein Onkel sich ab, während seine Frau nur noch erbärmlich schluchzt. Läuft doch! Ich fessele Francescas Handgelenke aneinander und stoße sie aufs Bett. Wie ein hilfloser Käfer versucht sie, von mir wegzurobben. Lächerlicher Versuch. Gelassen fixiere ich Matteos Hände hinter seinem Rücken.
»Lass Francesca und die Kinder gehen!«, krächzt er heiser. »Sie sollen das hier nicht sehen.«
»Aber, aber, wo bliebe denn da der Spaß?«, frage ich höhnisch.
Erneut greife ich mir Francesca, zerre sie hoch und zerreiße ihr Nachthemd.
»Nein!«
Mit einem wilden Schrei stolpert Matteo auf mich zu, doch damit habe ich natürlich gerechnet. Ich trete nach seiner Kniescheibe, er jault auf, taumelt zurück, bleibt zitternd in gebührendem Abstand stehen.
»Was für eine wunderbare, makellose Haut Francesca hat«, spotte ich. »Leider nicht mehr lange, fürchte ich.«
»Bitte, tu ihr nichts, sie kann doch nichts dafür«, jammert Matteo.
Mammoletta! Aber langsam geht das hier in die richtige Richtung.
»Vergiss es.«
Mit einem Arm presse ich Matteos Frau an mich, setze das Messer an und schneide in die weiche Haut unter ihren Brüsten. Die scharfe Klinge hinterlässt einen präzisen Schnitt, aus dem sofort ein dünnes Rinnsal Blut über ihre weiße Haut fließt. Francesca kreischt wie eine wild gewordene Gans, während Matteo brüllend und ungelenk in meine Richtung wankt.
Ich lache nur dreckig und trete erneut nach ihm.
»Warum gehst du nicht auf mich los? Ich bin doch schuld!«, stöhnt mein Onkel und reißt an seinen Fesseln.
»Niemand von euch wird diese Nacht überleben«, sage ich lapidar. Ein weiter Schnitt, nicht sehr tief, quer über Francescas Bauch. Sie plärrt noch lauter. »Aber wenigstens einer in diesem Raum wird sich zuvor ein wenig amüsieren.«
Francesca stößt einen Ton aus, dem einer Sirene nicht unähnlich, als ich die Klinge erneut ansetze.
»Bitte!«, röhrt mein Onkel.
»Darf ich das so verstehen, dass du dir einen schnellen Tod für sie wünschst?«, frage ich boshaft. »Was würdest du dafür tun?«
»Alles«, krächzt Matteo. »Was auch immer du sadistischer Bastard willst.«
Ich kann mir ein fieses Grinsen nicht verkneifen und hebe die Pistole auf, während Matteo seiner Frau ein letztes Mal tief in die Augen schaut.
»Verzeih mir«, flüstert er, aber da habe ich die Waffe schon an ihre Schläfe gesetzt und abgedrückt. Der Schuss hallt laut durch die Nacht, während ihr Blut und ihre Gehirnmasse auf mein Gesicht spritzt, doch Matteos Geheule übertönt alles. Er bricht auf der Stelle zusammen.
Angewidert stoße ich die tote Francesca von mir und werfe einen verächtlichen Blick auf meinen Onkel, dem Tränen und Rotz über die Fresse laufen.
»Da du schon mal am Boden liegst, kannst du gleich zu mir kriechen und darum betteln, dass du der Nächste bist, der mein Messer kennenlernen darf. Sonst könnte ich auf die Idee kommen, mit den Bälgern weiterzumachen.«
Heulend und ungelenk, dank der immer noch auf dem Rücken gefesselten Hände und dem sicher schmerzenden Knie, robbt er zu mir. »Bitte nicht«, schnieft er.
»Hm. Dann will ich aber hören, wie dankbar du mir dafür bist, dass du die Strafe für deinen Verrat allein erdulden darfst.«
»Ich danke dir, Carlo«, krächzt er und senkt unterwürfig den Kopf.
Mamma Mia, ich hätte nie gedacht, dass ich bei diesem Auftrag derartig auf meine Kosten kommen würde. Ich nehme das Messer zur Hand. Oh ja, Matteo wird für seine Untreue bezahlen!
Eine Stunde später sieht es in dem Schlafzimmer aus wie in einem Schlachthof. Mein Onkel hat länger durchgehalten, als ich es ihm zugetraut hätte, aber wer bin ich, dass ich mich darüber beklagen würde? Doch jetzt hat er definitiv den letzten Atemzug getan. Bleiben nur noch die Kids. Mehrmals habe ich Matteo in der vergangenen Stunde versprochen, es für sie kurz und schmerzlos zu machen, und der Ehrenkodex der Famiglia gebietet mir, mich daran zu halten. Schade eigentlich. Obwohl ich für eine Nacht wahrlich genug Tränen, Blut und Pisse gesehen habe. Erneut schnappe ich mir die Pistole und gehe ins Kinderzimmer.
Ich bin fest davon ausgegangen, zwei gefesselte, zu Tode erschrockene Kinder in ihren Betten vorzufinden. Doch nur die Seile liegen noch da, kringeln sich höhnisch auf dem Boden, während von den Kleinen jede Spur fehlt.
Porca puttana! Wie konnte das passieren? Ich war zu nachlässig, habe nicht daran gedacht, dass das Blut der Cortones auch in diesen kleinen Scheißern fließt. Haben sie die Zeit, in der ich mich mit ihrem Vater beschäftigt habe, genutzt, um zu fliehen, oder sind sie hier noch irgendwo?
Ich werde ganz ruhig. Horche in die Stille der Bude hinein, die nach den Schmerzensschreien der letzten Stunde geradezu gespenstisch ist. Tatsächlich, da ist ein Geräusch. Ein unterdrücktes Schluchzen, als presse sich jemand mit aller Gewalt die Hand auf den Mund. Sehr gut.
Ich schleiche zu dem klapprigen Schrank, aus dem das leise Wimmern kommt. Hebe die Pistole. Noch zwei Schüsse, dann ist es vorbei. Ich reiße mit der linken Hand die Schranktür auf, erwarte, beide Kinder zu entdecken, doch nur das Mädchen hockt in einer Ecke, das Blümchennachthemd eingenässt, Tränen kullern über ihre Wangen. Ich drücke ab.
Im selben Moment schießt ein dünnes Ärmchen aus dem obersten Fach des Schrankes, im Augenwinkel sehe ich etwas aufblitzen, das auf meine Kehle zielt. Instinktiv reiße ich den Arm hoch, blocke den Angriff ab. Doch die heftige Gegenwehr verleiht der Attacke erst richtig Kraft. Ein Messer trifft mein Gesicht, wie in Zeitlupe nehme ich wahr, dass eine Klinge in die Haut meiner Wange schneidet, hinunter bis auf den Knochen, und daran abrutscht. Dann erreicht die Schmerzexplosion meinen Verstand, gleißende Blitze toben durch meinen ganzen Schädel, zerstören jeden klaren Gedanken. Ich brülle wie ein Stier. Blutiger Nebel liegt vor meinen Augen, halb blind schieße ich mehrmals auf den Angreifer.
Wie ein nasser Sack fällt sein kleiner Körper aus dem Schrank und kracht zu Boden. Ich schieße erneut, feuere die letzte Kugel aus dem Magazin auf die leblose Gestalt. Eine neue, weit heftigere Schmerzwelle packt mich, schüttelt mich durch. Immer noch brüllend lasse ich die Pistole fallen. Das warme Blut, das über mein Gesicht läuft, macht mich wahnsinnig. Ich stolpere über den fadenscheinigen Teppich im Kinderzimmer, stoße wüste Verwünschungen aus und stürme hinaus in die Nacht. In wilder Raserei schleudere ich den Benzinkanister in den Flur und werfe ein brennendes Streichholz hinterher.
Ich habe keinen Nerv, den Brand sorgfältig zu legen, kann nur an die klaffende Wunde in meinem Gesicht und diese wahnsinnigen Schmerzen denken. Die Haut muss in Fetzen an meiner Wange herabhängen. Ich presse meine Hände auf den schmerzhaft pulsierenden Schnitt, fühle warmes, feuchtes Fleisch, wo glatte Haut sein sollte, klebriges Blut quillt mir durch die Finger. Figlio di puttana! Ich hoffe, dieser kleine Scheißer brennt in der Hölle!
Ein Flackern entsteht im Haus, das rasch zu einem ordentlichen Feuer anwächst. Schwer atmend stütze ich mich auf den Knien ab, wische mir die blutigen Hände an der Jeans ab. Nach und nach ergreifen die Flammen von der ganzen Hütte Besitz, fressen sich immer schneller durch das Holz. Nichts rührt sich mehr da drin, nichts außer dem Flackern des Feuers. Der stechende Schmerz verwandelt sich in ein fieses Pochen, während das Blut nur noch zäh aus der Wunde in meinen Kragen tropft. Cazzo! Aber der Auftrag ist erledigt. Und ich werde den Teufel tun und irgendwem verraten, dass es der elende Wicht war, der mich verwundet hat. Da werde ich ja zum Gespött der ganzen Famiglia.
Wenn ich erst in diesem München angekommen bin, wird es nicht lange dauern, bis ich dem Padre dort bewiesen habe, dass ich der beste Mann für den Posten des Capo Crimine bin. Und dann wird es keiner mehr wagen, mich zu fragen, wie das passiert ist.
Kapitel 1
München-Maxvorstadt, 08. Oktober 2019, nachmittags
»Schenken Sie mir doch einen Augenblick Ihrer kostbaren Zeit«, bitte ich Hauptkommissar Schneider, nachdem wir an meinem neuen Arbeitsplatz angekommen sind.
Während der Fahrt vom Bahnhof hierher hat Schneider keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er eigentlich etwas Besseres zu tun hätte, als den Chauffeur für seinen neuen Oberstaatsanwalt zu spielen. Mein Gepäck durfte ich selbst tragen und im Auto hat der Kommissar kaum die Zähne auseinanderbekommen. Nun gut. Auf solche Artigkeiten kann ich im beruflichen Umfeld ohne Weiteres verzichten, zumal vielen Menschen der Unterschied zwischen respektvoll und kriecherisch nicht so ganz klar ist.
Ich ahne ja, was Schneider denkt: Ich bin zu jung für diese Position, meine klassischen italienischen Gesichtszüge würden eher in ein Modemagazin als in einen bayrischen Gerichtssaal passen, und mein teurer Anzug sollte nach der langen Reise wenigstens den Anstand besitzen, ein wenig verknittert auszusehen. Zu allem Überfluss haben sie einem Münchner einen Oberstaatsanwalt vor die Nase gesetzt, der in Hamburg etliche Erfolge feiern durfte. Ein Fischkopf und ein Lackaffe also.
Alles in meinem Leben ist hart erkämpft, oder ich musste verdammt teuer dafür bezahlen. Aber das geht den Kommissar nichts an. Allerdings muss ich darauf bestehen, dass er seine Arbeit ordentlich erledigt. Was ich ihm nun mitzuteilen gedenke. Die Haudegen von der Kripo brauchen gar nicht erst auf den Gedanken zu kommen, dass sie sich bei mir irgendwas herausnehmen können.
Ich betrete mein neues Büro und frage mich im selben Moment, ob ich nicht nur einmal quer durch Deutschland gereist bin, sondern aus Versehen gleich noch eine Zeitreise in die Vierzigerjahre unternommen habe: Schwere, dunkle Eichenmöbel dominieren den Raum, die gerahmten Ölgemälde an den Wänden zeigen Berge, Wälder und Wild. Mit Mühe unterdrücke ich ein Schaudern. Davon bekommt man ja Albträume. Aber um die Einrichtung werde ich mich später kümmern.
»Wenn Sie mich bitte über den Stand der Ermittlung bezüglich des Todes von Dr. Walther informieren würden«, sage ich höflich zu Schneider, nachdem ich den ersten Schreck überwunden habe.
Der breitschultrige Mann plumpst unaufgefordert in den monströsen Besucherstuhl, der ärgerlicherweise vor meinem neuen Schreibtisch steht, und legt seinen linken Fuß mitsamt ausgelatschtem Cowboystiefel lässig auf den rechten Oberschenkel. Sein Blick schweift aus dem Fenster, so als hätte er mich nicht gehört.
Ich nehme auf einem knarzenden Ledersessel hinter dem Schreibtisch Platz. »Herr Schneider? Was können Sie mir über den Suizid meines Vorgängers sagen?«, frage ich unverändert freundlich.
»Nichts.«
Aha. Aber ich kann auch anders. Ich nehme einen schmalen Hefter aus meiner Aktentasche.
»Sie sollen ein guter Ermittler sein. Aber wenn das hier«, ich werfe die Mappe, die außer ein paar hässlichen Fotos gerade mal eine lächerliche Berichtseite enthält, so schwungvoll auf den Tisch, dass sie direkt auf der anderen Seite wieder zu Boden segelt, »ein Hinweis darauf ist, wie sorgfältig Sie arbeiten, frage ich mich schon, wie der leitende Oberstaatsanwalt zu dieser Einschätzung Ihrer Fähigkeiten gekommen ist.«
Keiner von uns macht Anstalten, den dünnen Ordner aufzuheben. Schneider starrt mich unter seinen buschigen Augenbrauen verdrossen an.
»Haben Sie irgendeine Erklärung für diese Schlamperei?«
»Herr D’Vergy, die Obduktion hat eindeutig ergeben …«, fängt der Kommissar an.
Ich unterbreche ihn sofort. »Der Bericht der Gerichtsmedizin ist bereits zehn Tage alt. Außerdem wird eine Obduktion nie belegen können, dass mein Vorgänger nicht dazu gezwungen wurde, sich die Pulsadern aufzuschneiden.« Wenn der Kommissar sich so benimmt, als müsse man ihm seinen Job erklären, bitte schön, dann tue ich das eben, und da sind mir die fast zwanzig Jahre Berufserfahrung, die er mir voraushat, scheißegal. Ich lehne mich zurück und lege die Fingerspitzen aneinander. »Sie haben keinen Abschiedsbrief. Keine Hinweise auf finanzielle oder berufliche Probleme. Niemanden, dem wenigstens eine depressive Verstimmung aufgefallen ist. Alles, was Sie haben, ist ein anonymer Anrufer, der pikante Details aus Dr. Walthers Privatleben zu kennen glaubt. Was Sie aber scheinbar nicht weiter untersucht haben.«
»Es reicht doch, dass sich die ganze Behörde das Maul über den früheren Oberstaatsanwalt zerreißt«, erklärt Schneider grantig. »Hätten wir auch noch seine Familie mit diesen Gerüchten behelligen sollen? Dr. Walther ist freiwillig aus dem Leben geschieden, um genau das zu verhindern. Denken Sie doch an die Angehörigen!«
Ah ja. Alles schön unter den Teppich kehren. So was habe ich ja gefressen. »Offenbar haben Sie ihre Zeit nicht mit gewissenhafter Arbeit vergeudet. Dann hätten Sie diese wenigstens nutzen können, um herauszufinden, dass es nicht zu meinen Angewohnheiten gehört, schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen«, entgegne ich eisig.
Schneiders Kiefermuskeln treten hervor, aber ich bin noch nicht fertig.
»Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass der anonyme Anrufer Dr. Walther ganz gezielt verunglimpft hat, um ihn in den Tod zu treiben? Aber warum? Ging es um Dr. Walther persönlich oder um Dr. Walther in seiner Eigenschaft als Oberstaatsanwalt? Ich werde sicher nicht ruhen, bis ich eine Antwort auf diese Fragen bekommen habe, ganz gleich, ob an den anonymen Anschuldigungen etwas dran ist oder nicht.«
»Selbst wenn da etwas dran wäre, dann heißt das ja noch lange nicht, dass Dr. Walther sich strafbar gemacht hat«, entgegnet Schneider stur.
»Ist etwas dran?«, frage ich direkt. Ich beobachte, wie sich der Adamsapfel des Kommissars rasch auf- und abbewegt. Sein Gesichtsausdruck verrät nichts. Aber er zögert mit einer Antwort. Zu lange. Das reicht mir.
Offensichtlich müsste er mir direkt ins Gesicht lügen, wenn er Nein sagt, und ich bin einigermaßen erleichtert, dass er das nicht tut.
»Im Moment sind Dr. Walthers außereheliche Aktivitäten wirklich nicht von Belang. Was mich interessiert, ist der anonyme Anrufer und dessen Motiv. Hat er Dr. Walthers Geheimnisse absichtlich ausgeplaudert, um ihn in den Tod zu treiben? Warum? Sehen Sie zu, dass Sie das herausfinden.«
Schneider nickt zögernd, und ich beschließe, mich mit dieser verhaltenen Zustimmung zufriedenzugeben.
»Apropos anonym … da war doch noch ein Fall, eine Mail ohne Absender, in der jemand Carlo Cortone beschuldigt, Jasemina Brandelhuber getötet zu haben. Haben Sie dazu neue Erkenntnisse?«
»Nein. Frau Brandelhuber gilt als vermisst, der Verfasser der Mail konnte nicht festgestellt werden.« Der Kommissar räuspert sich. Offenbar schmeckt es ihm gar nicht, dass ich zielsicher die beiden Fälle herausgepickt habe, bei denen die Ermittlungsarbeit zu wünschen übrig lässt. Nun, daran wird er sich wohl gewöhnen müssen.
»Bleiben Sie da dran. Ich werde ohnehin beantragen, dass der Prozess gegen Carlo Cortone vertagt wird.«
»Wieso?«, fragt Schneider verdattert. »Der Mord an Tosh Silvers kann doch unabhängig vom Fall Jasemina Brandelhuber verhandelt werden. Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass Cortone Silvers erschossen hat.«
Nachdem Schneider nicht mehr ganz so bockig ist, verzichte ich gnädig darauf, ihm den Unterschied zwischen Indizien und Beweisen zu erklären. »Womöglich plädiert Cortones Verteidiger auf Leichenschändung«, sage ich stattdessen.
»Wie bitte?« Schneider starrt mich entgeistert an. »Silvers lag auf den Knien, die Hände mit Kabelbinder auf dem Rücken gefesselt, als er mit einem gezielten Schuss hingerichtet wurde. Das ist doch eindeutig.«
»Silvers hat auf eine Zyankalikapsel gebissen, bevor das Projektil in seinen Schädel eingedrungen ist«, wende ich ein, unterbinde jedoch eine weitere Diskussion zu dem Thema mit einer knappen Handbewegung. »Wir werden sehen. Auf jeden Fall muss ich mich mit der umfangreichen Aktenlage vertraut machen, bevor der Fall verhandelt wird. Wenn Cortone der Mörder ist, werde ich ihn nicht mit Totschlag davonkommen lassen.«
Das scheint Schneider wenigstens zu gefallen.
»Sehen Sie bitte zu, dass Sie inzwischen die anonymen Hinweisgeber auftreiben«, fahre ich fort. »Und treten Sie in Gottes Namen den Leuten von der Vermisstenabteilung auf die Füße – solange wir nicht wissen, ob Jasemina Brandelhuber überhaupt einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, können wir Cortone in dieser Angelegenheit gar nichts, egal was in dieser Mail behauptet wird.«
Der Kommissar nickt, steht ohne ein weiteres Wort auf und bückt sich nach der Akte. Eigentlich bin ich es ja, der bestimmt, wann eine Besprechung zu Ende ist. Aber das wird Schneider schon noch lernen.
»Da Sie gerade gehen, können Sie gleich den Stuhl vor meinem Tisch mitnehmen. Ich benötige ihn nicht. Wenn ich möchte, dass meine Besucher sich setzen, werde ich ihnen einen Platz am Besprechungstisch anbieten.«
Der Kommissar hält mitten in der Bewegung inne, seine Hand schwebt einen Augenblick über der Akte. »Arrogantes …«, flucht er leise, den Rest des Satzes verschluckt er klugerweise.
Aber es gefällt mir, dass es mir gelungen ist, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. »Natürlich bin ich ein arrogantes Arschloch«, sage ich spöttisch, als er die Mappe endlich aufgehoben hat. »Ich habe hart daran gearbeitet. Sie werden es lieben, wenn sich die Tatverdächtigen vor Gericht damit auseinandersetzen müssen. Der Haken ist leider, dass Sie sich auch damit arrangieren müssen, wenn möglich, ohne beleidigend zu werden.«
Schneider starrt mich kurz perplex an, doch dann grinst er breit. »Ich werde in Zukunft auf Ihre Befindlichkeiten Rücksicht nehmen«, verspricht er, legt die Ermittlungsakte auf den Tisch und klemmt sich tatsächlich dieses Monstrum von Besucherstuhl unter den Arm. »Willkommen in München, Herr Graf!« Dann marschiert er hinaus.
Ich seufze. Was habe ich erwartet? Natürlich hat Schneider sich über mich informiert und natürlich hat er als Erstes meinen Spitznamen herausgefunden. Wobei es Schlimmeres gäbe, und aus dem Mund eines Münchners klingt das ja fast wie ein Kompliment. Es besteht also durchaus Hoffnung, dass der Kommissar und ich in Zukunft gut zusammenarbeiten werden. Außerdem mag ich es irgendwie, dass er am Schluss ein bisschen frech geworden ist. Vielleicht hat er ja doch den nötigen Biss, um ein guter Ermittler zu sein?
Ich klappe meinen Laptop auf.
»Willkommen zu Hause«, sage ich leise zu mir selbst und mache mich an die Arbeit.