Kitabı oku: «Schauplatzwunden»
Ludwig Laher
SCHAUPLATZWUNDEN
Über zwölf ungewollt verknüpfte Leben
Ludwig Laher
SCHAUPLATZWUNDEN
Über zwölf ungewollt verknüpfte Leben
Gedruckt mit Unterstützung der Kulturabteilung des Landes Oberösterreich, der Stadt Wien, Kultur, des Zukunftsfonds der Republik Österreich und des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus.
Laher, Ludwig: Schauplatzwunden / Ludwig Laher
Wien: Czernin Verlag 2020
ISBN: 978-3-7076-0707-9
Die Orthographie entspricht weitgehend der alten Rechtschreibung.
© 2020 Czernin Verlags GmbH, Wien
Lektorat: Karin Raschhofer-Hauer
Autorenfoto: Reinhard Winkler
Umschlaggestaltung: Mirjam Riepl
ISBN Print: 978-3-7076-0707-9
ISBN E-Book: 978-3-7076-0708-6
Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien
Inhalt
Einbegleitung
Auleitner, Alois
Blach, Amalia
Bogner, Johann
Haas, Rudolf
Haller, Edmund
Hamberger, Gottfried
Huber, Josef
Mayer, Josef
Neuwirth, Josef
Rosenfels, Albine
Steffl, Ludwig
Steininger, August
Nachschrift
Anmerkungen
Ich war überzeugter Nationalsozialist und bin es im Grunde genommen heute auch. Man kann uns ja außer dieser Judengeschichte gar nichts nachweisen. Es ist ja nur Gutes geschehen. (Stefan Schachermayr, Ex-SA-Obersturmführer und Gauinspekteur von Oberdonau außer Dienst, 2005)
Was wir da alles mitmachen haben müssen. Ich sag halt immer, die hätten sie irgendwo hintun sollen, wo sie abgeschlossen gewesen wären, nicht? Wo niemand nichts gesehen hätte, wo niemand dieses Leid und dieses Dings gesehen hätte. Irgendwo versteckt. Aber wir haben da alles mitmachen müssen.
(Eine namentlich bekannte Zeitzeugin, deren Bauernhof direkt gegenüber dem Lager Weyer situiert war, 1985)
Einbegleitung
In diesem Buch will ich von etlichen Menschen berichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben. Alt Gewordene und jung Gestorbene werden darin aufgerufen, etwa ein Jurist mit erstaunlicher Berufskarriere oder ein Säugling, der lediglich vier Wochen leben darf, und das im Elend. Sie stammen aus einfachen oder aus begüterten Verhältnissen, auch ihr kultureller Hintergrund differiert zuweilen beträchtlich.
Der Zufall, besser gesagt die reine Willkür derer, die sich berechtigt sehen, über andere nach Belieben zu verfügen, verknüpft sie ohne Ausnahme für eine Weile mit ein und derselben Adresse, obwohl der wohlbestallte Bauer und Grundbesitzer aus Kirchschlag im dem Reichsgau Oberdonau angegliederten Südböhmen hoch über einem Moldauknie, heute Světlík in Tschechien, dem auffällig gewaltaffinen Fleischhauer aus dem oberösterreichischen Prambachkirchen sonst kaum je einmal begegnet wäre, jedenfalls nicht auf diese fatale Weise. Und so gut wie niemand von ihnen wäre nur Wochen davor auf die Idee gekommen, jemals mit dem abgelegenen winzigen Weiler Weyer am Rand des ausgedehnten Weilhartforstes bei Braunau am Inn in Verbindung gebracht zu werden.
Überwiegen auf den folgenden Seiten wie in der Wirklichkeit von damals sollen jene, deren Sterbeurkunde die ominöse Adresse beinhaltet, die aus Rache oder wegen der schlimmen gesundheitlichen Folgen des Aufenthaltes dort samt dem Nachspiel Mauthausen ihre Entlassung nicht lange überleben, die von Weyer über andere Lager einzeln in den gewaltsamen Tod gehen oder im Sammeltransport direkt zur Vernichtung deportiert werden, weil anderswo effizienter gemordet werden kann. Es braucht eben nur wenige, um viele zu beaufsichtigen, auszubeuten, leiden zu lassen, aktiv zu quälen, zur Befriedigung sadistischer Gelüste gegebenenfalls gar totzufoltern, sofern die wenigen gut bewaffnet sind, das Lagergelände ausreichend befestigt ist und solches Vorgehen sich als politisch erwünscht erweist.
Doch geht es diesem Buch ganz bewusst nicht nur um behutsam literarisierte, wenngleich reale Biographien der sogenannten Opfer, exemplarisch wird auch bei den Tätern vorbeigeschaut sowie bei Leuten, die weder der einen noch der anderen Gruppe angehören und doch nachhaltig in jene Geschehnisse verwickelt sind, denen sich mein Vorhaben verdankt.
Als nüchterne Gliederung soll mir das Alphabet dienen. Bunt durcheinandergewürfelt, gereiht nach den zufälligen Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen, werden die Menschen hier vorgestellt. Dass daraus dennoch statt Stückwerk ein großes, beziehungsreiches Ganzes entstehen möge, ist mir gestalterische Herausforderung. Vorwiegend handelt es sich bei den Ausgewählten übrigens um Männer und Kinder, denn deren Anzahl dominiert unter denen, die leiden, oft sterben müssen, beträchtlich. Die Täter wiederum rekrutieren sich ohnehin ausnahmslos aus den selbsternannten Herren der Schöpfung.
Anfang des Jahrtausends legte ich einen dokumentarischen Roman zum gleichen Thema vor, dessen Erfolg bei Kritik und Publikum auf der Recherchequalität, seiner konsequent radikalen Sprache und wohl auch auf der Tatsache gründete, dass es der kollektiven Erzählfigur nicht vergönnt war, sich in der ameisenartig utilitaristischen Welt nationalsozialistischer Prägung länger bei einzelnen Menschen aufzuhalten, gar richtige Protagonistinnen, Protagonisten aufzubauen. Helden, wenn man dieses Wort verwenden will, Helden sind in Herzfleischentartung die Strukturen der Barbarei, im Rahmen derer einzelne, sofern sie nicht zur obersten Machtelite zählen, keine besondere Rolle spielen.
Wenn nun in diesem Komplementärunternehmen konkreten Menschen nachgespürt wird, so versteckt sich dahinter keineswegs die Absicht, meinen ursprünglichen Ansatz zu korrigieren, ganz im Gegenteil. Die Porträtierten, selbst wenn sie in Ausnahmefällen Befehlsgewalt ausübten oder sich, soweit möglich, auflehnten gegen Unrecht und Terror, bleiben auch diesmal in erster Linie Spielbälle der Verhältnisse, Nutznießer die einen, Leidtragende die anderen, problematisch Eingebundene die Dritten. Alle zusammen erweisen sie sich als einigermaßen beliebige Versatzstücke des gesellschaftlichen Durchbruchs einer ebenso absurden wie stringenten Schreckensherrschaft. Das relativiert, entschuldigt nichts, aber die Begriffe Schuld und Unschuld, Gut und Böse stehen weniger im Mittelpunkt meines Interesses als die komplexe, zum damaligen Zeitpunkt und weit darüber hinaus nicht nur für die meisten direkt Betroffenen undurchsichtige Gemengelage, die solch Entsetzliches zuließ und sich auch dem Leser, der Leserin nur häppchenweise erschließen soll.
Es hätte eines beträchtlichen, eines schmerzhaften Aufwandes bedurft, nach dem Wiedererstehen der Republik Österreich wirklich Licht in die zahllosen Dunkel zu bringen, von denen dieses hier meiner Überzeugung nach besonders viele bedenkenswerte Facetten aufweist. Dass darauf im großen und ganzen verzichtet wurde, ist heute allgemein bekannt und bis zu einem gewissen Grad auch nachvollziehbar. Welche Langzeitfolgen damit bis in die unmittelbare Gegenwart verbunden sind, wird immer noch sträflich unterschätzt.
Aus Respekt vor den Opfern, Leuten wie du und ich, und jenen wenigen, denen die Verfolgten auch in äußerst gefährlichen Zeiten ein echtes Anliegen waren, bitte ich die einen vor den Vorhang. Anderen, den Tätern, wird schon dieser Vorsatz höchst unangenehm sein, denke ich mir. Solchen Herrschaften wäre es natürlich sehr recht, bliebe wenigstens ihre eigene Geschichte ausgespart. Diese Freude will ich ihnen nicht machen.
Zweifellos helfen das auch nachträglich geringe gesellschaftliche Gewicht ihres monströsen Fehlverhaltens und die erbärmliche Kumpanei angesehener Institutionen mit den angeblich einer Siegerjustiz ausgelieferten Mördern etlichen von ihnen dabei, sich lange erfolgreich distanzieren zu können, oft auch geographisch. Das Die-Sau-Rauslassen begreifen sie bald nur mehr als ferne Episode ihres Lebens.
Damit soll jetzt Schluss sein. Ich gehe ihnen nach, wenn es sein muss, bis ans andere Ende der Welt. So spannt sich der räumliche Bogen vom abgelegenen Fleckchen in einem verschlafenen Winkel des oberösterreichischen Innviertels ganz selbstverständlich bis hin nach Italien und Syrien, sogar bis über den großen Teich in die unabsehbaren Weiten Südamerikas.
Und auch zeitlich geht es zuweilen tief zurück, nicht zuletzt wegen der Inhalte teils prophetischer Schriften eines in Weyer geschundenen Germanisten, dessen Großvater als junger Mann mit Franz Schubert befreundet war. Der Ich-Erzähler meines Buches wiederum ist eindeutig in der Gegenwart angesiedelt, und manches, was ausgebreitet wird, reicht ebenfalls fast an diese heran.
Sie haben es längst bemerkt, ich erlaube mir darüber hinaus ohnehin, alle Gewesenen in eine andersartige, eine zeitlose Gegenwart zurückzuholen, vergegenwärtige sie mir, Ihnen im Wortsinn. Nicht als abgeschlossene Abgelegte will ich sie nämlich begriffen wissen, sondern als unmittelbare Gegenüber, denen ich, wenigstens vom Ansatz her, ein mir letztlich nur ausschnitthaft zugängliches Eigenleben und ein gewisses Mitspracherecht zubillige. Ich bin jedenfalls bereit, mich auf sie einzulassen. Nichts ist vergangen.
Es ist wichtig, beim Lesen stets mitzubedenken, dass vielen der handelnden Personen die in der folgenden Prosa umfassend aufgeschlüsselten, für sie relevanten Zusammenhänge oft bis an ihr Lebensende ganz oder in Teilen unbekannt bleiben. Einen weitgehenden Überblick habe nur ich, haben nach der Lektüre aber auch Sie, selbst wenn sich nicht alle Lücken schließen lassen.
Ob sich eins zu eins wiederholen könnte, was Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts einen trotz aller vorangegangenen Greuel beispiellosen Zivilisationsbruch ausmachte, ist eine müßige Überlegung. Außer Frage steht für mich, dass leider keine evolutionären Schutzmechanismen vorgesehen sind, die den Homo sapiens vor ähnlichen Eruptionen dauerhaft feien würden.
Die einst mit einer nach wie vor gültigen Adresse in Weyer tragisch Verknüpften stehen daher gut und gern auch für jene, die heute an verschiedenen Ecken und Enden emsig ihren Geschäften nachgehen oder, gerade einmal eingetroffen auf diesem Planeten, gesäugt werden und irgendwann in der Zukunft womöglich in einen vergleichbaren Spiralstrudel geraten, ihn gar mitverursachen könnten, den rechtzeitig abzuwenden jede Generation neu aufgerufen ist. Dafür bedarf es freilich eines gesellschaftlichen Sensoriums ausreichend vieler mit historischem Wissen ausgestatteter, sprachlich sensibler und vor allem herzensgebildeter Individuen, die konsequent davon Abstand nehmen, analog wie digital mit den Wölfen zu heulen.
Auleitner, Alois
Der adrett gescheitelte, ausgesprochen fesche Knabe im zeittypischen Matrosenanzug hat gegen Ende der Zwanzigerjahre auf einem gepolsterten Bugholzsessel Platz genommen. So richtig wohl scheint er sich in dieser fremden Umgebung aber nicht zu fühlen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sitzt er in einem professionellen Photostudio. Minutenlang hat man ihn ins beste Licht zu rücken versucht, seine Haltung bis ins Detail korrigiert. Vor sich auf den Knien ein geöffnetes Büchlein, blickt Alois Auleitner ernst in die Kamera und hält sich still. Sein Vater Jakob, ein Magazineur, ist dreiundzwanzig Jahre älter als seine Frau Maria. Ich stelle mir vor, er wird gehörigen Stolz für seinen späten Nachwuchs empfinden, wenn er diese Aufnahme zum ersten Mal in der Hand hält.
Nach der Schule durchläuft das Kind eine kaufmännische Lehre, wird Handelsangestellter, wechselt in der zweiten Hälfte der stürmischen Dreißiger zur Eisenbahn. Ein sicherer Arbeitsplatz bei einem Staatsbetrieb ist in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Gold wert. Als der Säugling Alois im Mai 1916 in Ried im Innkreis geboren wurde, schaute es auch nicht besser aus, ganz im Gegenteil. Der Weltkrieg tobte, der Zerfall Österreich-Ungarns, die verheerende Spanische Grippe, Hunger, Not, Geldentwertung standen unmittelbar bevor.
Erneut hat Auleitner einen Termin im Atelier des Photographen, er nimmt dieselbe Haltung ein wie damals: Viertelprofil von rechts, Kopf dem Betrachter zugewandt. Diesmal aber trägt der smarte, wohlgenährte junge Mann, vor kurzem erst großjährig geworden, bilde ich mir ein, einen eleganten, perfekt sitzenden schwarzen Anzug mit weißem Stecktuch, ein weißes Hemd und Krawatte. Er lächelt sogar, eher schüchtern als selbstgewiss.
Als er im November 1939 für den Kriegsdienst registriert wird, hat Alois Auleitner gerade die Liebe seines kurzen Lebens kennengelernt. Theresia ist zweieinhalb Jahre älter als er und gelernte Damenschneiderin. Was für ein Glück, dass Eisenbahner kriegswichtig sind und vorläufig nicht fürchten müssen, an die Front geschickt zu werden.
Doch schon im Juli 1940 macht die Deutsche Reichsbahn dem jungen Paar, das an Heirat denkt, einen dicken Strich durch die Rechnung. Von einem Tag auf den anderen versetzt man Auleitner nämlich zum Gleisbauzug in die soeben vom besiegten Frankreich annektierte Saarpfalz, einen Landstrich im Norden Lothringens. Noch im selben Jahr wird die ganze Region in Westmark umbenannt werden. Ostmark, Westmark, damit ist eigentlich alles gesagt, von einem Ende des Reiches ans andere schickt man den Lois um des in atemberaubendem Tempo immer größer werdenden Ganzen willen. Er wird seine Resi in Zukunft wohl nur noch sehr selten zu Gesicht bekommen.
Widerwillig tritt er die lange, umständliche Reise an, erhält in Hundlingen, einem kleinen, auf den ersten Blick gesichtslosen Nest, sein Quartier zugewiesen, wird eingekleidet. Am nächsten Tag soll er zum Dienst erscheinen, doch da sitzt Auleitner schon im Zug zurück ins Innviertel. Die unmittelbare Ursache für seine spontane Entscheidung lässt sich beim besten Willen nicht mehr rekonstruieren. Ist es bloß die Sehnsucht nach Theresia, das verdammte Heimweh? Über die möglichen Folgen seines Tuns dürfte der junge Mann sich jedenfalls nicht ausreichend informiert haben. Daheim möchte er sich zur Eisen- und Metallverarbeitungsfachkraft ausbilden lassen, sagt er, als er wieder in Ried ist.
Es ist noch nicht lange her, dass das generelle Verbot eines Arbeitsplatzwechsels ohne Zustimmung des Arbeitsamtes in Kraft trat. Schnell spricht sich Auleitners unerlaubte Entfernung vom Dienstort bis zum Bürgermeister von Ried durch. Reiner Zufall, aber ausgesprochen praktisch, dass nahezu zeitgleich im äußersten Südwesten des Reichsgaus Oberdonau dicht an der überwundenen früheren Staatsgrenze zum Altreich ein zweckmäßiges Arbeitserziehungslager für asoziale Elemente seine Pforten öffnet.
SA-Obersturmbannführer Franz Kubinger, der kürzlich ernannte Gaubeauftragte für Arbeitserziehung, beehrt sich, diese segensreiche Einrichtung allen Bürgermeistern anzeigen zu dürfen: »Eingeliefert können solche Volksgenossen werden, die die Arbeit grundsätzlich verweigern, die dauernd blaumachen, am Arbeitsplatz fortwährend Unruhe stiften oder solche, die überhaupt jede Annahme einer Arbeit verweigern, obwohl sie körperlich dazu geeignet sind. Sie müssen aber alle das 18. Lebensjahr erreicht haben. Nur Fälle krimineller Natur können hieramts nicht behandelt werden. Ich bitte aber zur Kenntnis zu nehmen, daß im Erziehungslager schwere körperliche Arbeit geleistet werden muß. Die bekannten Speckjäger, also ausgesprochene gewohnheitsmäßige Bettler, sind unerwünscht, weil diese zu einer Arbeit nicht taugen.«
Gauleiter August Eigruber hat es sich in den Kopf gesetzt, dem in raschem Aufbau begriffenen, quasi exterritorialen KZ-Imperium Heinrich Himmlers eine regionale Infrastruktur zur Seite zu stellen, die in bescheidenerem Rahmen, aber ähnlich brutal, für Angst und Schrecken unter der Bevölkerung sorgen soll und lokale NS-Funktionäre in die Lage versetzt, unliebsame Zeitgenossen bequem loszuwerden. Nicht die elitäre SS, sondern die etwas ins Abseits geratene, bodenständigere SA hat in Weyer-Sankt Pantaleon das unumschränkte Sagen.
Bald schon werden Dutzende KZ-Außenlager von Mauthausen überall im Land wie Pilze aus dem Boden schießen, momentan ist davon aber erst ein einziges, Gusen, in Betrieb. Weyer-Sankt Pantaleon gehört also zu den frühesten Terrorstätten im Heimatgau des Führers.
Derweil zieht die Deutsche Reichsbahn im Fall Alois Auleitner die erwarteten dienstrechtlichen Konsequenzen. Auch sein UK-Status wird widerrufen, er ist also nicht länger unabkömmlich. Das heißt im Klartext: Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit wird er zur Strafe für sein Verhalten in den Krieg geschickt werden.
Bürgermeister Rudolf Pospischek aber schwebt anderes vor. Dieses disziplinlose Früchtchen, womöglich gar ein gemeiner bolschewistischer Saboteur wie viele unter den Eisenbahnern, will er auf keinen Fall so billig davonkommen lassen. Schriftlich drückt das Stadtoberhaupt gegenüber dem Vorstand des Reichsbahnhofes Ried seine feste Überzeugung aus, der Arbeitsplatzflüchtling Alois Auleitner sei nicht würdig, den Ehrenrock eines deutschen Soldaten zu tragen. Er halte es, lässt er verlauten, unter diesen Umständen für dringend geboten, Auleitner umgehend in das Arbeitserziehungslager Weyer-Sankt Pantaleon einzuweisen. Postwendend setzt Pospischek die dafür erforderlichen Schritte. Erwartungsgemäß hat er Erfolg.
Sicherlich macht sich Alois Auleitner bei seiner Festnahme nicht im entferntesten einen Begriff davon, was ihn jetzt als drakonische Vergeltung für sein Vergehen erwartet, nämlich ausbeuterische Zwangsarbeit im Freien von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, zu jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter, sechs Tage die Woche. Miserabel ausgerüstet, mit gewöhnlichen Holzpantoffeln und viel zu leichter Bekleidung selbst bei Eis und Schnee, sind die Internierten angehalten, die brachliegenden Flächen des Waidmooses und des Ibmer Moores zu entsumpfen, an deren Stelle zweihundertfünfzig neue Bauernhöfe entstehen sollen. Das schnell wachsende Herrenvolk muss satt werden.
Zunächst geht es darum, die Moosach zu regulieren. Sie bildet hier eine natürliche Grenze zwischen Salzburg und Oberdonau und entwässert die ausgedehnte Hochmoorlandschaft. Statt der vielen Mäander ist ein schnurgerader Flusslauf vorgesehen, bis zu sieben Meter unter der Geländekante und ausgekleidet mit Mauthausener Granit. Ursprünglich hat schon der verblichene Ständestaat dieses Projekt in Angriff genommen, allerdings etwas bescheidener dimensioniert. Was damals als Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahme gedacht war, ist jetzt im Krieg nur noch mit Zwangsarbeitern und einigen wenigen Wasserwirtschaftsfachkräften durchführbar.
Erbarmungslose körperliche Züchtigung gehört ebenso zum inoffiziellen Repertoire der Erziehungsmaßnahmen wie mangelhafte Ernährung. Zeitweise ist jede Form von Unterhaltung zwischen den Lagerinsassen ausnahmslos untersagt, selbst in der kargen Freizeit. Nur gegenüber dem Aufsichtspersonal darf man dann den Mund aufmachen. Wer allerdings glaubt, es müsste den Machthabern daran gelegen sein, möglichst wenig Aufhebens um solche Orte sadistischer Entwürdigung harmloser Mitbürger zu machen, verkennt einen wesentlichen Teil ihres Sinns und Zwecks.
Denn die bald drei Dutzend Lager allein in Oberdonau sind nicht zuletzt als äußerst wirksame Drohgebärde gegenüber breiten Bevölkerungsschichten zu verstehen: Jedem von euch kann es jederzeit genauso ergehen, heißt die Botschaft. Inmitten der in Reih und Glied marschierenden Häftlingskolonne wird Alois Auleitner mit geschultertem Spaten frühmorgens etliche Kilometer zur Zwangsarbeitsstätte geführt werden, auch durch das einige hundert Einwohner zählende Bauerndorf Sankt Pantaleon selbst. Auf dem Hin- wie auf dem abendlichen Rückweg müssen die Ausgepumpten, womöglich gar nach einer der beim Wachpersonal beliebten Scheinertränkungen im Fluss, flotte Nazilieder schmettern. Wer beim besten Willen nicht mehr weiter kann, auf den hetzt man einen der Schäferhunde, oder er wird schon einmal mitten auf der Straße totgeprügelt, bis ihm das Blut aus dem After quillt. Wehe, ein Passant riskierte es, sich einzumischen.
Keiner von Auleitners Mitgefangenen hat etwas verbrochen, die Einweisung Krimineller ist ja ausdrücklich verboten. Er wird manche Leidensgefährten gewaltsam sterben sehen müssen. Bei jedem Aufstehen hat er einzukalkulieren, dass er die kommende Nachtruhe selbst nicht mehr erleben wird. Wofür um alles in der Welt? Zweifellos hat er einen Fehler begangen, eine Rechtsvorschrift gebrochen, wissentlich, unwissentlich. Dafür ist in einem Rechtsstaat eine Sanktion zu erwarten, und wenn sie zu hart ausfällt, lässt sich dagegen berufen.
Rechtsstaat, das war einmal. Gleich nach seiner Einlieferung wird der Neuankömmling dem Lagerkommandanten SA-Obertruppführer August Steininger vorgeführt. Der herrscht ihn an, gefälligst strammzustehen. Nach dem ersten gezielten Faustschlag mitten in sein Gesicht dämmert es Alois wohl schnell, dass hier absolute Gesetzlosigkeit herrscht. Es steht ganz im Belieben der Rohlinge in brauner Uniform, wer wann wieder entlassen wird, wer wie lange überleben darf und wer gar nicht.
Alois Auleitner kommt augenscheinlich nicht für eine vorzeitige Entlassung in Frage. Die Monate vergehen, die Kräfte schwinden. Seine Theresia ist jetzt unendlich viel weiter weg, als sie das im lothringischen Hundlingen je hätte sein können. Hält der Gedanke an die Liebste den Lois aufrecht, oder hat er sich innerlich längst aufgegeben?
Dann und wann gelingt es dem Lagerarzt, selbst NSDAP-Mitglied und einflussreicher Gemeinderat im Ort, schwerst Erkrankte oder lebensgefährlich Misshandelte mit seinem Privatauto in eines der umliegenden Krankenhäuser bringen zu dürfen. Die Folterknechte fühlen sich absolut sicher, kein Arzt wird trotz des eindeutigen Verletzungsbildes mancher Patienten den Mut aufbringen, etwas gegen die Verursacher zu unternehmen.
In den Spitälern behandelt man die fortgeschrittenen Lungenentzündungen, die massiven Erfrierungen, die klaffenden Platzwunden. Man flickt die fürchterlich Zugerichteten entweder notdürftig wieder zusammen und schickt sie zurück zu ihren Peinigern, oder sie werden als hoffnungslose Fälle still und heimlich auf Friedhöfen in der Stadt Salzburg oder in Laufen an der Salzach gleich drüben im Altreich an der ehemaligen Grenze unter die Erde gebracht.
Am Abend des Heiligen Abends 1940 sind alle Häftlinge im Speisesaal versammelt. Ein Christbaum wird aufgestellt, Kerzen werden daran befestigt, eine Weihnachtsbescherung ist angekündigt. Die fällt allerdings anders aus als erwartet: Das pädagogische Personal hat Order vom urlaubenden Lagerkommandanten, neun ausgewählte Objekte dafür aufzurufen. Sie müssen, einer nach dem anderen, das Gesäß entblößen, werden bäuchlings auf die Sitzbänke geschnallt. Mithäftlinge müssen sie fixieren und ihnen mit Mützen den Mund zuhalten.
Es folgt eine wahre Prügelorgie der zu diesem Zeitpunkt bereits merklich angetrunkenen Wachmannschaft. Ein wenig handfesten Spaß wird man doch noch haben dürfen, wenn man während der höchsten Festtage im Jahr zu arbeiten gezwungen ist. Auf jedes der Opfer, darunter ein erst Siebzehnjähriger, dreschen SA-Truppführer Josef Mayrhofer, SA-Sturmführer Gottfried Hamberger und SA-Oberscharführer Alois Rothenbuchner exakt fünfundzwanzigmal wie verrückt mit dem Gummiknüppel ein. Alois Auleitner ist nicht unter ihnen. Aber er muss eine schreckliche Stunde lang zuschauen.
Von Woche zu Woche erlauben sich die Aufseher mehr, niemand hindert sie offenbar daran, ihre Gewaltphantasien nach Herzenslust auszuleben, im wahrsten Wortsinn ohne Rücksicht auf Verluste. Allein im Monat Dezember bringen sie auf diese Weise drei Zöglinge um. Die Opferzahl hätte aber leicht noch größer sein können.
Einer der ältesten Internierten, längst fix und fertig, bat vor kurzem untertänig darum, sich erhängen zu dürfen. Diese Vergünstigung wollten die Pädagogen dem faltigen Mann mit schlohweißem Haar gerne zugestehen, sofern er sich vorher ein letztes Mal kräftig züchtigen lassen würde. Er willigte ein, wurde zur Abwechslung mit einer Geißel ausgepeitscht und bekam dann vereinbarungsgemäß das Werkzeug ausgehändigt. Zum Gaudium der umstehenden und feixenden Braunhemden riss der Strick. Pech gehabt, eine zweite Chance war nicht vorgesehen. Ferdinand Duböck muss weiterleben.
Doch mit einem Schlag ist kurz vor Silvester alles anders. Ob das gar mit dem kurz zuvor Umgebrachten zu tun hat, einem Mann um die vierzig, der erst am Tag vor Weihnachten angeliefert und seither pausenlos besonders schwer misshandelt wurde? Das Wachpersonal wirkt sichtlich nervös, hält sich jetzt spürbar zurück, der Alkohol fließt nicht mehr in Strömen. Dann erscheinen plötzlich fremde Herren in Anzügen auf der Bildfläche, holen Auskünfte bei der Lagerleitung ein, durchstreifen das ganze Gelände, sichern Spuren.
Am neunten Jänner 1941 wird das Lager Weyer-Sankt Pantaleon totalevakuiert, man treibt die Häftlinge zur Eile an. Ein Teil wird kommentarlos freigelassen und im allgemeinen Chaos einfach weggeschickt, die restlichen einundfünfzig, unter ihnen Alois Auleitner, transportiert man ohne Zielangabe ab. Er hat wie die anderen nicht den Schimmer einer Ahnung, was da gerade abläuft, wohin die Reise gehen soll. Wahrscheinlich denkt er, schlimmer kann es ohnehin nicht kommen. Dass er zu jenen gerechnet wird, die fürs Wegschicken ungeeignet sind, ist andererseits ein Alarmzeichen. Sein letztlich doch recht harmloses Delikt sieht man offenbar als gravierend an, oder man ist Bürgermeister Pospischek im Wort, den Mann auf Dauer wegzusperren, mag kommen, was will.
Es geht Richtung Osten. Den Gefangenen wird ihre Überstellung ins etwa zweihundert Kilometer entfernte Konzentrationslager Mauthausen, das seine endgültigen Dimensionen noch nicht erreicht hat, erst bewusst, als sie nach vielstündiger Fahrt endlich dort eintreffen. Alois Auleitner bekommt die Häftlingsnummer eintausendneunhundertfünfundsiebzig zugewiesen. Jetzt gilt der gerade noch Arbeitsscheue wie alle Schicksalsgenossen aus Weyer auf einmal als politischer Schutzhäftling. Ihn wundert nichts mehr. Es ist jetzt bald ein halbes Jahr her, dass er in die Mühlen des Lagersystems geriet. Er ist vierundzwanzig Jahre alt.
Ausgerechnet ein Organ der Rechtspflege des Dritten Reiches bringt allen einundfünfzig in Mauthausen internierten ehemaligen Weyer-Insassen schon am elften Februar 1941 völlig unerwartet die Freiheit. Bald darauf muss Alois Auleitner als Zeuge im Verfahren gegen das Lagerpersonal Rede und Antwort stehen. Es dürfte ihm ein weiteres Mal schwerfallen, sich einen Reim auf diese Vorgänge zu machen. Kann er bei der Einvernahme auspacken, frei von der Leber weg reden, die Exzesse genau schildern, Namen nennen? Man behandelt ihn korrekt, er wird höflich mit Herr Auleitner angesprochen. Gibt es denn tatsächlich noch so etwas wie eine unabhängige Justiz? Oder ist das alles bloß eine besonders perfide Falle? Wer könnte was damit bezwecken?
Sein Sohn, der den gleichen Namen trägt, wird als schon älterer Herr davon sprechen, der Vater sei in der Folge zur Bewährung einer Strafkompanie zugeteilt worden. Belege dafür habe ich keine. Wohl muss Alois Auleitner umgehend einrücken, wie das schon vor der Intervention des Rieder Bürgermeisters vorgesehen war. Und dass es jemand, der als Politischer direkt aus Mauthausen kommt, in der Wehrmacht nicht unbedingt leicht haben wird, ist gut vorstellbar.
Aber diverse Photographien anlässlich seiner Fronturlaube lassen die vorsichtige Vermutung zu, dass sich sein Schicksal von nun an nur wenig von jenem anderer Wehrmachtsangehöriger unterscheidet. Gealtert ist er sichtlich in diesen Lagermonaten, das schon, hager die Gestalt, das Gesicht eingefallen, die Stirnglatze, von der vor vier oder fünf Jahren nicht einmal ein Ansatz zu sehen war, reicht weit nach hinten.
Resi hat auf ihn gewartet. Im Februar 1943 läuten, sollten sie für Rüstungszwecke nicht bereits abmontiert sein, endlich doch die Hochzeitsglocken, und der Lois dürfte auch Anfang 1944 kurz einmal daheim gewesen sein, denn am zwölften Oktober gebiert seine Frau einen Sohn. Die letzten Bilder zeigen Alois Auleitner, weißes Hemd, ärmelloser dunkler Pullover, mit dem winzigen Säugling im Arm. Das muss unmittelbar nach dessen Geburt sein. Viel ernste, innige Zugewandtheit zum Kind verrät mir der Blick des Vaters, strahlende Freude entnehme ich hingegen dem Gesicht der Mutter. Der Mann auf dieser Photoserie ist für mich bestenfalls ein Enddreißiger. Achtundzwanzig? Ausgeschlossen, lächerlich.
Der totale Krieg neigt sich inzwischen dem Ende entgegen. Alois Auleitner hat wieder einmal Pech, er erlebt es knapp nicht. Nach den vom Deutschen Roten Kreuz erstellten Vermisstenlisten datieren die letzten Nachrichten von Angehörigen der zweiten Kompanie des Grenadier-Regiments einhundertdreißig, in der Auleitner Dienst tut, vom Jänner 1945 aus Radom unweit von Litzmannstadt, bald wieder Łódź. Diese Einheit wird auf dem Rückzug vollständig aufgerieben, wie das im Militärjargon so schön heißt. Am sechzehnten Jänner nimmt die Rote Armee die Stadt ein. Das Außenlager Radom des KZ Majdanek ist zu diesem Zeitpunkt bereits ein halbes Jahr geräumt, die Internierten des Judenghettos am Ort, zehntausende Menschen, sind längst vernichtet.
Alois Auleitners Mutter übernimmt es, die Todeserklärung anzustrengen. Als Datum wird amtlich der sechste Jänner 1945 festgelegt. Sein Name findet sich auf dem Kriegerdenkmal im alten Stadtpark von Ried eingraviert.