Kitabı oku: «Den Tod für Tante Trudl!», sayfa 2
Italienurlaub Zweitausendundsoundsoviel
Das letzte, was ich mit meinen Eltern unternahm, war ein Italienurlaub in einer kleinen Bucht namens „Buonasera“ oder so ähnlich. Ich weiß es nicht mehr genau. Die anderen Begebenheiten dieses Urlaubs haben sich zu tief in mein Gedächtnis gebrannt, als dass ich mir unbedeutende Kleinigkeiten wie Namen noch merken könnte. Das einzigste, was ich außer der Katastrophe, dem Schicksalsschlag, diesem ... diesem ... ach, mir fehlt es ja an Worten, um das zu beschreiben, was mein Leben so jäh umkrempeln sollte, was mich hier her, in diesen Keller unter Tante Trudls Haus gebracht hat, was die alleinige Schuld an meiner ersten Begegnung mit der Qual trägt. Ach, es ist so schrecklich. So schrecklich. Und so lächerlich!
Ich weiß gar nicht, wie ich dir, du heimtückischster aller Leser, diese Tragödie beibringen soll, damit du recht weinst, so wie ich es jeden Abend tue. Es ist ja alles so lächerlich. Und ich fürchte mich so, du würdest lachen. Du würdest deinem Gesicht einen mitleidigen Anstrich geben, im tiefsten Innern würde es dich aber zerreißen vor Lachen. Ich weiß, dass es vielen so gegangen ist. Ich habe es danach in ihren Augen und an ihren geröteten Gesichtern gesehen. Tiefe Trauer und schlimme Bestürzung liegen nicht weit vom irren Gelächter entfernt, das weiß ich jetzt. Es gibt Todesfälle, die einen zuerst belustigen, bis man den schrecklichen Ernst dahinter begreift.
Stell dir beispielsweise vor, du säßest in einem Wirtshaus – es wurmt mich, von Wirtshäusern zu schreiben, denn hier, wo ich jetzt bin, gibt es keine Wirtshäuser, nur Gaststätten, wo sie die Teller reichlich mit „Buttermöhrchen“ und „Buttererbschen“ beladen. Dafür sind die angebrannten Schuhsohlenschnitzel aber umso kleiner; pfui Teufel! Wenn man nicht kochen kann, sollte man’s halt bleiben lassen! – also, nochmal: Stell dir vor, du säßest in einem Wirtshaus in Tupfing oder in Wien oder in Mailand oder sonst an irgendeinem Ort, wo es charakterlich aufrechte Menschen gibt, die richtige Schnitzel auf den Tisch bringen: Tellergroß und an der dunkelsten Stelle beige, dabei aber so dünn, dass man es als Lesezeichen verwenden könnte, wenn man sich nicht wie ein Wahnsinniger darauf stürzen und es hinunterschlingen würde.
Ach, Mann, ich komme schon wieder vom Hundertsten ins Tausendste. Das liegt daran, dass ich Hunger habe. Das Nahrungspyramidenessen und das Unvermögen des hiesigen Menschenschlags, richtig zu kochen, haben mich schlank werden lassen. Vor lauter Appetit auf ein gescheites Schnitzel habe ich einmal sogar mein Taschengeld gespart und bin durch die Großstadt getigert – ich gebrauche diesen Ausdruck absichtlich, denn ich fühlte mich wie ein wahnsinniger Tiger auf der Jagd – und bin zuletzt in ein „Schnitzelhaus“ eingekehrt, weil ich dachte, wo Schnitzelhaus dran steht, ist auch Schnitzelhaus drin. Ich habe mir das teuerste Schnitzel bestellt, dazu eine Coke und eine extra große Portion Kartoffelsalat. Während der Kellner fröhlich mit meiner Bestellung in der Küche verschwand, wartete ich zitternd vor Aufregung auf mein Essen. Endlich einmal keine Nahrungspyramide, dachte ich mir. Zuerst kam der hoch gewachsene Kellner zurück und brachte mir die Cola. Er war bester Laune. Das sind die Leute hier übrigens immer. Es ist eine der größten Kuriositäten der Welt, dass die Menschen in schönen Gegenden immer schlecht gelaunt und die Menschen in kreuzabgefuckten Gegenden gut gelaunt sind. Das verstehe, wer will! In Tupfing hatte man noch das Gefühl, dass man sich bei den Kellnern und Köchen entschuldigen musste, dort essen zu gehen. Neu eröffnete Buchhandlungen und Spielzeugläden betrat man nur mit beklommenem Gefühl, weil die Verkäuferinnen so griesgrämig waren, dass man es wirklich mit der Angst bekam. Erst nach mindestens vier gekauften Spielzeugen oder Büchern weichten diese Frauen dann auf und ließen sich zu einer freundlichen Grimasse hinreißen. Aber hier?
Die Leute wohnen zwischen oder in grauen Betonblöcken, schauen – wenn sie einmal Gelegenheit haben, in die Ferne zu schauen – auf eine weite ebene Fläche ohne Berge, ohne Täler und haben trotzdem immer gute Laune. Sie begrüßen einen auf der Straße, in den Geschäften, unterhalten sich mit einem, haben auch Töchter, die vielleicht in meine Klasse gehen und so weiter und so weiter. Manchmal frage ich mich, ob es der Gedanke an den Sommerurlaub ist, der einen Menschen glücklich oder wütend macht. Während ein Tupfinger sich jedes Jahr wieder ärgern muss, so viel Geld für einen Urlaub ausgegeben zu haben, wo es keine schönen Berge und Seen und prunkvollen Schlösser und wunderbare Schnitzel gibt, können sich Tante Trudl und ihre Komplizen das ganze Jahr auf ihren Urlaub vorbereiten. Und sie können ja wirklich in die ganze Welt fahren, denn so scheußlich wie daheim ist es wohl auch in der Sahara nicht.
Die Cola war noch ok. Aber dann, dann kam das Schnitzel. Und ich hatte gute Lust, den Teller zu packen und dem spaßigen Kellner um die Ohren zu schmeißen. Denn es bestand wieder nur ein Viertel des Tellerinhalts aus Schnitzel. Der Rest war wie gewöhnlich mit Buttermöhrchen und Buttererbschen aufgefüllt. Wo haben die Leute das nur gelernt, alles mit diesem an sich schon ekligen Gemüse – von der Zubereitungsart möchte ich gar nicht reden – aufzufüllen? Sie tun das, wie andere Leute Styroporkugeln in Pakete mit zerbrechlicher Ware kippen. Warum??
Jetzt wirst du gegenfragen: Was war denn mit der extra Portion Kartoffelsalat? Das will ich dir schon beantworten: Das war ein Eimer Mayonnaise!
„Wo sind denn die Kartoffeln?“, habe ich den Kellner gefragt und konnte mich der Tränen bald nicht mehr erwehren. Da hat er nur gelacht und in die Mayonnaise gezeigt. Und tatsächlich! Da schwammen zwei, drei Stückchen herum, die ein wenig an Kartoffeln erinnerten.
Wie mir der Magen knurrt!
*
Tod in Buonasera
Stell dir also vor, du sitzt im Wirtshaus. Du sitzt unter dem Bild des Königs und erfreust dich an einem königlichen Schnitzel und trinkst eine Cola. Oder, wenn du doch schon ein Erwachsener sein solltest, dann trinkst du halt ein Bier oder ein Weißbier. Deine große Familie sitzt um dich herum. Alle sind lustig und feiern und lachen. Dein Onkel trinkt wie immer etwas mehr und beginnt irgendwann auf die Ausländer zu schimpfen. Dann fährt ihm dein Vater über den Mund, der auch schon etwas angetrunken ist. Mit der Zeit bekommen sie rote Köpfe und lassen sich nicht mehr ausreden. Das wiederum belustigt die restliche Familie, man hält sich den Bauch vor Lachen, wie die anfangs spaßige Diskussion immer hitziger wird und irgendwann Kraftausdrücke fallen. Das sind aber keine echten Kraftausdrücke, weil ja Kinder anwesend sind. Es sind Ausdrücke wie: Rindvieh, Vollhirsch, Halbdackel und Hodenkopf. Irgendwann liegen sich Onkel und Vater in den Armen und sinnieren über die guten alten Zeiten.
Und jetzt stell dir vor, die ganze Familie außer dir selbst würde auf einmal wie vom Schlag getroffen umkippen. Von einer Sekunde auf die andere. Als wenn jemand mit den Fingern geschnipst hätte, so plötzlich werden die Augen glasig und die Köpfe fallen auf den Eichenholztisch. Und es wäre mit einem Mal totenstill.
Was würdest du im ersten Moment tun? Richtig. Du würdest lachen! Du würdest selbst den Kopf auf den Tisch schmeißen, aber nicht weil du plötzlich tot bist, sondern weil du etwas entsetzlich Komisches erlebt hast. Ja, du würdest sogar lachen, wenn du genau wüsstest, dass deine ganze Familie, die ganze lustige Gesellschaft von gerade eben jäh verstorben ist.
Und das ist das Fürchterliche daran. Irgendwann wird sich dein Lachen in Weinen verwandeln. Es ist ein fließender Übergang. Du weißt gar nicht, wann du zu weinen begonnen hast. Nach Stunden des Weinens lachst du mal wieder, weil es in all seiner Tragik so lächerlich war. Das ist aber fürchterlich! Denn es ist dir unmöglich, deine Trauer zu verarbeiten. Noch bei der Beerdigung stehst du da und lachst genauso viel, wie du weinst. Und darum hört es niemals auf wehzutun.
Und noch schlimmer: Du kannst niemandem von der Todesart erzählen, weil alle lachen würden. Du könntest zum Psychiater gehen und ihm erzählen, dass keiner den Tod deiner Familie ernst nimmt und er wird dich fragen, wie sie denn gestorben sind. Danach muss die Sitzung abgebrochen werden, weil seinerseits der Psychiater lachend abgebrochen ist.
Dennoch will ich dir die Katastrophe nicht vorenthalten. Verzeih bitte die Änderung meines Schreibstils, aber es muss sein:
Im Jahre Zweitausendundsoundsoviel fuhr die dreiköpfige Familie wie jedes Jahr nach Ligurien, was im Zitronenland liegt. Es ging mal lustig, mal ernst zu, mal harmonisch, mal streitlustig, wie es so in einer Familie abläuft, die nicht weiß, dass sie bald für immer voneinander getrennt sein wird. Man fährt zur Pension, checkt ein, macht noch einen abendlichen Spaziergang um die Bucht und geht dann das erste Mal schön essen. Es gibt Pizza, Pasta oder Costoletta alla milanese. Die kleine figlia heißt Maja und ist gerade zehn Jahre alt, der padre ist groß und dick und hat einen Hang zum Rotwein. Die madre ist eine zierliche Person, ein bisschen weniger charismatisch als der padre vielleicht, aber das liegt an ihrer aufopfernden Liebe zum padre und zur figlia und ist somit nur ein Zeichen ihres besseren Charakters.
Die Tage verbringt die famiglia damit, spät zu frühstücken. Joghurt und geschmacksneutrales Weißbrot, dafür aber den allerbesten Kaffee. Die Sonne scheint jeden Morgen durch das staubige Frühstücksfenster – ein getrübtes wunderbares Licht. Bei diesem guten Kaffee schlägt sogar Maja zu. Sie ist eigentlich noch zu jung für Kaffee und trinkt ihn, wenn überhaupt, nur mit sehr viel Zucker. Aber Latte Macchiato ... ach, ach! Das ist besser als der beste Kakao. Jeden Morgen trinkt Maja eine Tasse Latte Macchiato. Manchmal macht sie ein Foto davon und schickt es umgehend ihren beiden Freundinnen, damit die vor Neid platzen. Dann verlässt die famiglia das Haus und geht zum Strand. Es wird gesonnt, gespielt, geschnorchelt. Dann Siesta. Dann manchmal Kultur – zum großen Leidwesen Majas. Dann wieder Essen gehen: Costoletta alla milanese oder Cozze al pomodori. Der padre trinkt zum Essen Rotwein. Das genügt ihm aber nicht. Wenn er mit madre und Maja in die Pension zurückgeht, will er mehr Wein. Noch mehr Wein. Zu diesem Zweck hat er schon nachmittags eine Flasche Lambrusco gekauft und sie auf den Tisch neben die Vase mit den Plastikblumen gestellt.
Maja macht sich Sorgen. In der deutschen Schule haben sie über Alkohol und Drogen geredet. Und über Abhängigkeiten. Sie meint es gut mit ihrem padre. Sie möchte ihn davon überzeugen, dass er die Flasche Lambrusco an diesem Abend nicht mehr öffnet, sondern aqua minerale oder Aranciata trinkt. „Warum?“, fragt der padre unwirsch.
„Nun, weil Alkohol ungesund ist“, antwortet Maja.
„Er macht dich krank“, antwortet Maja.
„Er macht süchtig“, antwortet Maja.
„Öffne diese Flasche nicht“, antwortet Maja.
Und der padre betrachtet sein Kind mit schäkerndem Blick und wirft den Kopf zurück und lacht. Und er legt den Korkenzieher weg und sagt: „Meinetwegen, dann trink ich halt ... wie heißt das Zeug?“
„Aranciata!“
„Ja, na gut, Aranciata!“
Da lächelt madre und geht auf den Balkon hinaus, um die getrockneten Handtücher hereinzuholen. Wenn die Tür offen ist, bläst der laue Meereswind durch die Gardinen und die Aranciata und das zuckersüße italienische Gebäck schmecken noch besser. Wenn der padre für einen Moment still ist, kann Maja die Brandung hören. Die Wellen peitschen gegen die Felsen, die die Bucht an beiden Seiten begrenzen. Dort leben die größeren Fische und der Boden liegt tief unter den nackten Beinchen. Man wundert sich, wie plötzlich man vom flachen Schnorchelwasser in so tiefblaues Meer gelangen konnte. Und plötzlich sind da Fische, die sind so groß wie man selbst. Und man strampelt und paddelt, bis man wieder kiesigen Sand unter den Füßen hat. Hier leben die kleinen Fische. Seezungen und auf dem Boden sitzende Petermännchen.
Der padre macht Schattenspiele an der Wand. Es ist ein kleiner Teufel, den er mit den Fingern der linken Hand formt. Ein großer Kasperl kommt hinzu. Er will den Teufel vertreiben. Denn dieser hat sich heimlich der madre auf dem Balkon genähert. Er wartet auf der Gardine und hat einen Prügel in der Hand. Er möchte ihr den Prügel auf den Kopf hauen, wenn sie wieder hereinkommt. Doch der Kasperl ist schon da, um ihn daran zu hindern. So rangeln die beiden einige Zeit. Es dauert lange, denn madre lässt sich sehr viel Zeit auf dem Balkon. Vielleicht hat sie die Augen geschlossen und atmet die salzige Luft ein. Vielleicht schaut sie auch einfach nur in den dunklen Abend. Hinüber zu den Lichtern an der Küste. Vielleicht tut sie auch überhaupt nichts. Wer kann das sagen?
Der Teufel hat ihr auf jeden Fall keinen Hieb mit dem Schattenprügel versetzt. Aber nicht etwa, weil der Schattenkasperl ihn gehindert hätte, sondern weil in diesem Augenblick höchster Spannung, höchster Belustigung die Lambruscoflasche explodiert.
PAFF!!! Klirr klirr klirr!
Vielleicht war sie geschüttelt worden. Vielleicht war es zu warm gewesen.
Die Scherben prasseln dem padre ins Gesicht, das rotrote Gemisch von Blut und Rotwein springt aus seinem Hals. Maja, die an seiner Seite gesessen ist, hat nichts abbekommen. Er rennt auf die madre zu, wahrscheinlich, um sie um Hilfe zu bitten. Die aber bekommt einen solchen Schreck, dass sie hinten über den Balkon hinunterstürzt.
Maja rennt in ihr Zimmer und versteckt sich hinter dem Bett.
Sie hätte Hilfe holen sollen. Aber sie kann nicht. Sie kann sich nur hinter ihr Bett kauern und hoffen, das wilde Fußgetrappel des padre würde endlich aufhören.
Und irgendwann hörte es auf.
*
Die schreckliche Qual
Ich wohnte schon hier bei Tante Trudl – dass es gegen meinen Willen geschah, brauche ich wohl nicht hinzuzufügen – und befand mich noch in der tiefsten Trauerphase, du weißt schon, die Phase, wo man nichts essen will, wo man sich nicht mehr wäscht, wo man tags unruhig und nachts gar nicht mehr schläft, als ich die Qual kennenlernte. Oder besser: Als ich kennengelernt wurde!
Ich hatte mich in einer Ecke auf dem Fußboden verkrochen. Zwischen zwei Stühlen hing eine Decke und ich saß darunter. Ich wollte niemanden sehen. Vor allem diese Tante nicht. Auch dieses Zimmer nicht. Und schon gar nicht diesen Ort, weit, weit weg von zu Hause. Nie mehr.
Doch Tante Trudl klopfte sacht an der Zimmertür und rief einen Namen: „Steffi!“
Das ist aber nicht mein Name. Ich heiße ja – das dürftest du inzwischen schon mitbekommen haben – Maja. Doch Tante Trudl meinte trotzdem mich.
Ich antwortete nicht. Aber nicht wegen dem falschen Namen. Ich hätte auch bei meinem richtigen Namen ihr nicht geantwortet. Nicht dieser unangenehmen alten Nuss.
Tante Trudl wartete einige Zeit, bis sie ihr Rufen wiederholte. „Komm doch heraus!“
Sie ging ein paar Schritte durch’s Zimmer, als würde sie mich irgendwo suchen. Dabei war es doch ganz logisch, dass ich unter der Decke steckte. Meine Beine schauten ja darunter heraus. Im Leben ist es doch immer dasselbe: So klein du auch bist, deine zugewiesene Decke zum Verstecken ist noch kleiner.
„Ich habe eine Spielgefährtin für dich gefunden,“ begann die Tante und steuerte nun geradewegs auf mein Versteck zu, „damit du dich besser eingewöhnen kannst.“
Ich will mich nicht eingewöhnen, dachte ich. Meine Freundinnen sind in Tupfing. Dort gehöre ich auch hin!
„Komm doch mal heraus,“ fuhr Trudl fort, „bitte.“
Eine Spielgefährtin ...
Am Ende eine Puppe oder sonst was Behämmertes. Lass mich in Ruhe. Ich bleibe hier in meinem Versteck.
„Sie wird nächstes Schuljahr ans Gymnasium gehen. Genau wie du“, ergriff Trudl wieder das Wort. Ich konnte sehen, wie sie sich auf ihre Knie herabließ. Bitte heb jetzt bloß nicht die Decke an! Das fehlte gerade noch, dass ich dein hässlich gesundes Gesicht so nah vor meinem hätte.
Aber weißt du, Leser, was sie tat. Ja, eben das! Sie hob die Decke an und streckte den Kopf in meine Privatsphäre! Ihr Gesicht war zehn Zentimeter von meinem entfernt. Und ich hatte das dringende Verlangen, da rein zu spucken, zügelte mich aber noch. Wie du bereits weißt, denn ich habe die jüngere Vergangenheit schon vor dieser älteren aufgeschrieben, habe ich das auch später getan. Aber in diesem Moment größter Abscheu vor dieser Person zügelte ich mein Bedürfnis.
Ich muss gestehen, dass es nicht nur die Nähe zu ihrem Gesicht war, was mich veranlasste, aus dem Versteck zu springen und mir diese Spielgefährtin anzuschauen. Die Aussicht, im baldigen Gymnasialjahr eine Freundin und Banknachbarin zu haben – denn im Grunde wusste ich ja, dass ich nicht zurück nach Tupfing konnte –, war mir doch angenehmer, als ich vorerst zugeben wollte. Ja, das dachte ich.
Deshalb trottete ich wortkarg vor meiner Tante her, durch das duftende und blühende Haus hinunter Richtung Hausgang. In der Tür davor war ein verschwommener Spiegel angebracht, ich sah mich kurz mit roten Augen darin, wie ich widerwillig hin und her trippelte.
Doch nein! Ich musste mich getäuscht haben! Die Tante lief doch neben mir, aber ich konnte sie im Spiegel nicht sehen! Schnell drehte ich mich nach ihr um. Ich hatte sie rechts hinter mir erwartet und tatsächlich stand sie dort auch! Und wieder drehte ich mich nach dem Spiegel, um ihre Erscheinung darin zu erblicken. Aber es war genau wie beim ersten Mal! Keine Tante Trudl war dort zu erkennen!
Nun wurde mir alles klar! Tante Trudl war ein Vampir! Ach, ich hatte es ja schon lange vermutet, weil sie mir ja alle Energie und Freude aus dem Körper gesaugt hatte.
Das war der erste Moment,
an dem ich darüber nachdachte,
Tante Trudl umzubringen.
„Du brauchst nicht schüchtern sein“, wisperte mir ihre Stimme ins Ohr. Sie hatte mein Stehenbleiben falsch gedeutet. Ich zeigte auf den Spiegel und verfluchte mich im selben Moment dafür. Trudl durfte nicht wissen, dass ich ihr Geheimnis kannte.
„Ja,“ sagte sie und ich muss zugeben, dass mich ihre folgenden Worte sehr verwirrten, „das ist sie.“
Ich wandte mich zu ihr um und schaute ihr das erste Mal ins Gesicht. „Wer ist das?“, fragte ich. Hinter dem Terrassenfenster stand der Apfelbaum. Er war so grün, so grün vor dem schrecklichen Beton. Seine goldenen Früchte und die braunen Zapfen blinkten durch das Blätterwirrwarr. Ich erzähle das nur deshalb, weil ich mir in diesem Moment nichts mehr wünschte, als eben dort oben zu sitzen. Ich wollte in diesem grünen wunderbaren Häuschen sein, von den Äpfeln kosten und an den Zapfen schnuppern! Und ich wollte niemals mehr hinunterkommen. Ich wollte dort sitzen, bis mir die verzweifelte Vampirtante versprechen würde, dass ich nach Hause dürfte. Aber ich war ja viel zu gering, um dort hinaufzukommen.
„Das Mädchen ist deine neue Spielgefährtin“, antwortete die Tante und runzelte die Stirn. „Wie lange willst du sie denn noch warten lassen?“
„Aber, aber das ist doch ein Spiegel“, entgegnete ich. Mir war nun wirklich eigenartig zu Mute. Wenn ich nur auf diesen Baum gelangen könnte! Wäre er unter meinem Zimmerfenster gestanden, ich schwöre dir, du Leser, ich wäre in einer Nacht- und Nebelaktion dort hineingesprungen. Aber jetzt war kein Fortkommen. Plötzlich lachte die Tante und riss mich aus meinen Freiheitsgedanken.
„Steffi, das ist doch kein Spiegel. Eine verschwommene Glasscheibe ist es, sonst nichts!“
Und sie hatte recht. Denn sie öffnete die Tür und da stand das Mädchen noch im Hausgang. Und als sie hereintrat und die Tür wieder verschlossen wurde, war niemand mehr im Spiegel zu erkennen. Ich hätte mich schon selbst schrecklich schimpfen wollen für die Dummheit, wenn ich nicht zu sehr von dieser Mädchengestalt abgelenkt gewesen wäre.
Sie sah mir gar nicht unähnlich, hatte wie ich schmutzigblondes halblanges Haar, eine schöne kleine Nase und einen ganz leichten Überbiss. Doch waren ihre Augen – soweit das möglich ist – noch geröteter als meine. Und war ich zu diesem Zeitpunkt schon schlanker als früher, so war sie hager. Auch ihr Teint war blasser als meiner. Das merkwürdigste an ihr waren aber ihre Wimpern, die zum Teil an ihrer Iris festzukleben schienen. Vielleicht waren sie der Grund, warum ihre Augen so tränenreich und gerötet waren, ich weiß es nicht. Bis heute nicht.
Nur ein Teil ihrer Wimpern wuchsen mir entgegen, der andere Teil – es war sicher eine gute Hälfte davon – verlief exakt senkrecht über die offenen Augen. Mein erster Gedanke war: Das müssen ja enorme Schmerzen sein, die das Mädchen zu ertragen hat!
Der Schock aber kam, als ich einen Schritt auf sie zutrat, vielleicht, um ihr die Hand zu schütteln oder um sie einzuschüchtern, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß aber, dass ich ihr tief in die roten Augen blickte und mich dann ähnlich erschreckte, wie es meine Mutter in ihren letzten Atemzügen getan hatte.
Ich erblickte mein Spiegelbild in ihren Augen. Es war mein Gesicht, das mit doppelter Beklommenheit auf mich zurückstarrte. Doch die senkrecht verlaufenden Wimpern erschufen ein grässliches Gesamtbild. Es sah doch haargenau aus wie eine Gefängniszelle, in der mein blasses Gesicht gefangen war. Ihre Wimpern waren zu Gitterstäben für mein Spiegelbild geworden!
Ich wich vor dem Mädchen zurück und glaubte – es mag Einbildung sein – eine kaum wahrnehmbare Häme über das zarte Gesicht wandern zu sehen.
Tante Trudl schämte sich für mich: „Was ist denn mit dir los? Willst du der Qual nicht guten Tag sagen?“
„Wie heißt sie?“, erwiderte ich unter erstickten Lauten.
Tante Trudl stöhnte. Dann sagte sie: „Steffi, das ist die Qual! Qual, das ist meine Nichte Steffi!“
*
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.