Kitabı oku: «Der Pakt mit dem Feuerteufel», sayfa 2

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Paul nickte und wollte sich bereits verabschieden, als Ade mit hektischer Stimme hinzufügte: „Ich wollte heut auch in der Stadt essen!“

Also lenkten beide ihre Schritte Richtung Innenstadt, während sich Ade beglückwünschte, am Morgen den Fünfzig-Euro-Schein eingesteckt zu haben, den er von seiner Patentante zum Geburtstag bekommen hatte. Den Gulasch, den ihm seine Mutter extra vorgekocht hatte, damit er ihn sich mittags warmmachen konnte, würde er schon trotzdem noch essen können. Ansonsten müsste er ihn halt erst mal in seinem Zimmer bunkern. Oder wegwerfen ...

„Wo gehen wir denn heute hin?“, fragte er seinen Freund, während der Herbstwind der warmen Stadt angenehme Kühle zufächelte.

„Ich wollte heut eigentlich zum Döner,“ antwortete Paul, „ich habe langsam nicht mehr viel Auswahl.“

An einer Laterne, an der die Buben vorbeigingen, klebte ein Zettel, auf dem das Gesicht eines jugendlichen Mädchens abgebildet war. „Vermisst“ stand darunter.

„Was machst du eigentlich, wenn deine Eltern mal mit dir essen gehen wollen?“

Pauls Lachen klang bitter. „Das kommt nicht vor. Vielleicht irgendwann mal, wenn das Reformhaus eine Gaststätte eröffnet.“

Das verstand Ade nicht. Doch er nickte wie immer verständnisvoll.

„Ah, zwei Buben, Grüß Gott“, sagte der Dönermann, nachdem Paul und Ade an einem Tisch vor dem kleinen Laden platzgenommen und ihm zugenickt hatten.

„Wir hätten gerne ...“, begann Paul.

„Einmal Dönerteller groß und einmal Dönerteller ganz klein!“, beendete der Türke den Satz. In Ade flammte bei diesen Worten ein Gefühl auf, das er schon viel zu oft hatte ertragen müssen. Es war wie ein gezielter Tritt ins Herz. Plötzlich hasste er diesen Dönermann!

„Ähm,“ fuhr Paul fort und bedachte Ade mit einem besorgten Blick, „wir nehmen zweimal den Dönerteller mit Pommes. Ach, und zwei Colas.“

„Spezi“, verbesserte ihn Ade, ohne aufzuschauen.

„Einverstanden!“, rief der Dönermann und verschwand.

Paul schaute ihm kopfschüttelnd nach: „Lustiger Typ.“

„Hm ...“, entgegnete Ade.

„Der läuft hier draußen umeinander und hat nichts als ein Unterhemd an“, fuhr Paul fort und zog den Reißverschluss seiner Sommerjacke demonstrativ nach oben.

„Willst du die Pommes dann eigentlich wieder mit Zahnstochern spicken?“, fragte Ade mit gesenkter Stimme, denn am Tisch neben ihnen hatte ein älterer Herr platzgenommen.

„Ja, das ist am sichersten. Die Pommes werden in der Gastronomie immer weiterverwendet“, gab Paul flüsternd zurück und befreite vorsorglich einige Zahnstocher aus ihrer Papierverpackung. Wieder kehrte eine kühle Bö durch die Straßen und ließ die roten Blätter tanzen. Auch Ade zog den Reißverschluss seiner Jacke zu.

„Hast du am Freitag schon was vor? Sonst könnten wir da mal den seltsamen Garten erkunden“, schlug er vor, als der Dönermann die zwei Getränke brachte. Er versuchte, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen.

Paul zog die Mundwinkel nach unten. Dann trank er die Cola auf einen Zug leer.

„Ich weiß ja nicht ...“, antwortete er schließlich, einen Rülpser unterdrückend. „Was versprichst du dir denn davon?“

Ade zuckte mit den Schultern.

„Zweimal Kebab mit Schoffsgass!“, rief der Türke plötzlich und warf die Döner-Pommes-Teller auf den Tisch, um sich sogleich zum Nachbartisch umzudrehen und den älteren Herrn zu bedienen.

„Schoffsgass??“, fragte Ade und runzelte die Stirn. „Ist das türkisch für Pommes?“

Paul lachte: „Ich glaube, das ist türkisch-bayerisch für Schafskäs.“

Als die beiden alles, bis auf die Pommes Frites, aufgegessen und selbige in mühsamer Kleinarbeit mit Zahnstochern durchstochen hatten, winkte Paul nach dem Dönermann. Ade beobachtete die ganze Situation mit einer Mischung aus Scheu und Ehrfurcht. Es nochmals zu beobachten, wie Paul geschäftsmäßig Geld aus der Nase eines Dienstleisters ziehen würde, war für ihn das Größte. Es erinnerte ihn ein wenig an früher, wenn er in Comicbüchern Superhelden bei der Verbrechensbekämpfung zugesehen hatte.

„Oh, was ist los? Waren die Pommes nichts gut?“, rief der Dönermann und bedachte Paul mit einem skeptischen Blick.

„Es war sehr gut,“ antwortete dieser in seiner gewohnt selbstsicheren Art, „aber wir sind bis oben hin voll.“

Der Mann hob einen Arm und gab kurz den Blick auf eine stark behaarte Achselhöhle frei. „Was soll ich jetzt mit den Pommes machen, häh?“

Dann fiel sein Blick auf den älteren Herrn am Nachbartisch. Bevor er abzuräumen begann, kam er mit dem Gesicht den beiden etwas näher und flüsterte spitzbübisch: „Ich weiß es. Ich gebe sie einfach der Mumie dort zum Essen!“ Dann lachte er und ging mit den Tellern Richtung Dönerladen.

Nach einigen Sekunden, in denen sich Paul und Ade wie versteinert anstarrten, kam er mit einem Dönerteller voller Pommes wieder und stellte sie vor den grauhaarigen Herrn.

„Ich glaube, wir stecken gleich gewaltig in der Scheiße!“, wisperte Paul durch zusammengedrückte Zähne Ade zu, nachdem der Türke den beiden vom Laden aus auch noch zugezwinkert hatte. Auch Ades Herz pochte nun schneller, wie er den Alten wie in Zeitlupe die einzelnen Punkte des Essvorgangs abarbeiten sah:

1 Er nahm sich eine Serviette.

2 Er legte sich diese auf den Schoß.

3 Er griff nach seiner Gabel.

4 Er hob damit etwas Gyros zum Mund.

5 Er aß dieses.

6 Er trank einen Schluck Bier.

7 Er griff wieder nach der Gabel.

8 Er hob damit zwei Pommes Frites zum Mund.

9 Er biss darauf.

10 Er brüllte.

Der Türke stürzte aus dem Laden und auf den Herrn zu, dessen Augen wild in ihren Höhlen rollten. Ade krallte sich in seinem Stuhl fest. Auch Paul war blass geworden.

Mit zitternden Fingern griff der Alte in seinen Mund und versuchte, einen Zahnstocher herauszuziehen, der quer in beiden Mundwinkeln steckte.

„Wollen Sie mich umbringen?“, schrie er den Dönermann an, während er mit der Serviette seinen Mundinnenraum betupfte. Zwei weitere Gäste, die sich gerade an einen der hinteren Tische gesetzt hatten, erhoben sich wieder.

Die Buben krallten sich immer fester in ihre Stühle und hofften inständig, die Schimpfkanonade des Alten würde aufhören. Als sich dieser endlich, endlich mit einem „Dreckertes Türkenpack!“ verabschiedet hatte, waren auch die beiden anderen Gäste verschwunden.

Die Buben zitterten wie Espenlaub, als sich der Dönermann mit knallrotem Kopf ihnen zuwandte. Seine Augen waren schmal geworden. Zwei Adern pulsierten in seinem Gesicht. Eine auf der Stirn und eine zum Hals hin.

„Șișko!!“, schrie er und deutete mit einem Finger auf Paul. Jetzt verprügelt er uns, dachte Ade. Erst Paul und dann mich! Doch er irrte sich.

Türkische Flüche vor sich hinbrabbelnd machte der Mann kehrt und lief in seinen Laden.

„Gott sei Dank,“ meinte Paul bebend, „Gott sei Dank! Er hat eingesehen, dass es sein Fehler w...“

„PAUL!!“, rief Ade plötzlich, als der Türke aus dem Laden schoss. In der Hand hielt er den Dönerspieß!

„Ich werde dich aufspießen!“, rief er und kam Paul mit der fetttriefenden Waffe gefährlich nahe.

„AAAHH!“, schrie der und duckte sich, bevor der Spieß über ihm die Luft durchstach.

Ade, der seinen Freund schon hinter dem Fenster des Dönerladens brutzeln sah, war aufgesprungen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Nackte Angst durchfuhr seine Glieder. Am liebsten wäre er vor dem Mann auf die Knie gefallen und hätte ihn um Gnade angefleht. Stattdessen zog er – ohne weiter darüber nachzudenken – den Fünfziger aus seiner Hosentasche und hielt ihn vor das kirschrote Gesicht.

„Funfzig Euro??“, stieß der Türke aus und hörte mit einem Mal auf, mit dem Spieß nach Paul zu stechen. Dann trat eine Pause ein, in der er sich beruhigte und Paul mit einer Hand auf der Brust wie ein Hund japste. Nach einer geschlagenen Minute ergriff der Dönermann das Geld.

„Jetzt sind wir gleich – oder ... wie heißt das?“ meinte er, während seine Miene heiterer wurde.

„Quitt??“, keuchte Paul.

„Ja, genau. Jetzt sind wir quitt!“

Bevor sich die Buben auf ihre zitternden Beine stellen konnten, um diesen Ort für immer zu verlassen, zog der Dönermann zwei Lollis aus der Hosentasche und reichte sie den beiden.

„Servus, bis bald!“, sang er dabei und begann, den Nachbartisch abzuräumen.

„Ich glaube, ich bin dir was schuldig“, meinte Paul, nachdem er lange schweigend neben Ade hergegangen war. „Der hätte mich bestimmt umgebracht.“

„Das passt schon“, antwortete Ade verlegen. Ein tiefes Glücksgefühl, wie er es schon lange nicht mehr gespürt hatte, durchzog seinen Körper. Ganz plötzlich schien ihm alles schön zu sein. Abwesend lächelnd betrachtete er die tanzenden Blätter, die wie ein orangefarbener Wirbelsturm durch die Gassen sausten.

Nachdem sich Paul noch fast eine Stunde lang auf die verschiedensten Weisen bedankt hatte, nahmen die Freunde Abschied voneinander.

Zuvor aber verabredeten sie sich noch für Freitagnachmittag. Schließlich galt es herauszufinden, was es mit dem verborgenen Garten auf sich hatte.

*

Das Schulgebäude war nach seiner Vorderseite hin begehbar, wurde an seiner Hinterseite und der Turnhalle aber von Bäumen und Dickicht begrenzt. Dort hinten sah man manchmal Siebt- und Achtklässler stehen, die ängstlich in alle Richtungen spähten und ihre Zigaretten in der hohlen Hand versteckten. Es war der dafür sicherste Fleck der Schule. Nur selten kamen hier Lehrer vorbei und auch nur dann, wenn vom benachbarten Fußballfeld aus ein Ball ins Dickicht geschossen worden war.

Hinter all dem Gesträuch ging der Fluss, doch weder Ade noch Paul hätten sagen können, ob er direkt dahinter oder doch in einiger Entfernung verlief. Es hatte sie nie dorthin verschlagen. Warum auch? Der Pausenhof, der Sportplatz, die Innenstadt, ja, überhaupt alles, was von Bedeutung war, lag schließlich nach der anderen Richtung. Und zum Rauchen waren die beiden ohnehin zu jung.

Wie man nur so blöd sein kann, seinen Körper derart zu vergiften, dachte Ade, als Paul und er nach der Schule zwei Achtklässlern im Dickicht begegneten.

„Hey, schau mal!“, rief einer von ihnen, als er die beiden kommen sah, und zog an seiner Zigarette. Er hatte fettiges Haar und trug eine Zahnspange. „Ein Liebespaar!“

Der andere wollte lachen, hustete aber stattdessen. Paul scherte sich nicht um die Achtklässler. Er ging an ihnen vorbei, ohne sie nur eines Blickes zu würdigen. Ade hastete hinter ihm her. Er wollte sich keine weiteren Beleidigungen anhören. In seiner Eile blieb er aber mit der Schlaufe seines Schuhs an einem Stock hängen. Er fiel nicht. Aber er strauchelte.

„Hahaha!“, lachte der Zahnspangenjunge. Das Lachen des Zweiten ging wieder in einem Hustenanfall unter.

„Alter, ich glaube, wir haben es hier mit Dick und Doof zu tun!“, fügte der Erste hinzu und klopfte sich vor Lachen auf die Schenkel.

Unter der dicken Hülle seiner Ängstlichkeit spürte Ade – wie schon unzählige Male zuvor – den blanken Hass lodern. Eines Tages, eines Tages würde dieser wie ein Vulkan ausbrechen! Und dann würde er sich Respekt verschaffen!

Plötzlich fiel dem Buben das Gesicht des Teufels wieder ein. Es lächelte ihn freundlich an. Doch gerade als Ade es genauer betrachten wollte, rückte Pauls Gesicht in sein Blickfeld.

„Hier irgendwo müsste der Garten sein“, sagte er und stemmte die Hände in die Hüften. Seine gut gelaunte Stimmung verwirrte Ade dermaßen, dass er den Feuerteufel darüber ganz vergaß. Hatte Paul denn die Beleidigungen der Jugendlichen nicht gehört?

Ade drehte sich zu ihnen um und sah sie gerade noch ihre Zigaretten fortschmeißend aus dem Dickicht klettern. Das Husten des Zweiten hörte er aber noch eine ganze Weile.

„Seltsam“, meinte Paul und betrachtete die graue Wand. Die beiden Freunde standen zwischen verwachsenen Büschen und hohen Eschen. Hinter ihnen, von wo aus man den Fluss rauschen hörte, fiel das Gelände ab. Vor ihnen erstreckte sich eine gewaltige Mauer, die vermutlich bis zur anderen Seite des Schulrückgebäudes reichte.

„Dahinter muss der Garten liegen“, sagte Ade. Er blickte nach oben und sah die verfärbten Kastanienblätter über das hohe, mit Eisenzacken versehene Mauerdach ragen.

„Irgendwo muss doch ein Eingang sein“, entgegnete Paul und ging an der Mauer entlang Richtung Turnhalle. Ade folgte ihm.

Der Weg dorthin war schwer zu begehen, denn die Büsche, die Stauden und die kleinen Bäumchen standen dicht nebeneinander. Es galt manchmal, Umwege zu gehen oder über kleinere Büsche zu springen. Am Rand der Mauer wuchsen brusthohe Brennnesseln, die im Wind schaukelten. Kommt nur her, kommt nur her, wir verbrennen euch, schienen sie zu flüstern.

Während die beiden sich durch das Dickicht kämpften, hörten sie aus dem Garten immer wieder das lärmende Aufschlagen der Kastanien. Bumm! Knack!

Wenn der Herbstwind heftiger blies und sich zum Brausen des Flusses, zum Säuseln der Brennnesseln und zum Knacken der Kastanien auch noch das tosende Rauschen der vielen Baumkronen mischte, überzog die Buben eine Gänsehaut. Mit einem Mal erschien ihnen der Ort gespenstisch, so einsam und dennoch laut, wie er war.

„Stopp!“, rief Paul plötzlich und Ade folgte mit den Augen seinem ausgestreckten Finger. Er deutete auf ein kleines Tor, das von den Brennnesseln beinahe ganz verdeckt wurde. Die beiden gingen darauf zu. Als sie direkt davor standen, drückte Paul die Brennnesseln mit seinem Schuh zur Erde nieder.

Das Tor schien sehr alt zu sein. Sein massives Holz, aus dem es gefertigt war, hatte über viele Jahre hinweg gearbeitet und tiefe Unebenheiten darin hinterlassen. Ein rostiger Knauf saß auf der Holzfläche wie eine rote Nase in einem mund- und augenlosen Gesicht.

„Bingo!“, sagte Paul grinsend und griff nach dem Knauf. Ade sah gebannt zu, wie sein Freund an diesem drehte ...

Doch das Tor öffnete sich nicht.

„Ist wohl abgeschlossen“, warf Ade enttäuscht ein.

„Was heißt da abgeschlossen?“, fragte Paul und musterte das Tor mit einem Stirnrunzeln. „Da ist doch überhaupt kein Schlüsselloch!“

Als die Buben unbefriedigt an der anderen Gebäudeseite, sprich, an der Turnhalle ankamen, klopfte Paul seinem kleinen Freund auf die Schulter.

„Tut mir Leid,“ sagte er, „der Ausflug hat sich wohl nicht gelohnt.“

Plötzlich aber hielt er inne. „Obwohl ...“

Er betrachtete den orangefarbenen Kiesbehälter an der Hinterseite der Turnhalle.

„Schau mal,“ sagte er, während er unbeholfen auf diesen zu klettern begann, „von hier aus kann man unsern Mädchen beim Sporteln zuschauen!“

„Ach, komm“, entfuhr es Ade, ehe er sich beherrschen konnte. Er hatte bei dem Wort „Obwohl“ schon Hoffnungen gehegt. Seinen Mitschülerinnen beim Turnen zuzuschauen, interessierte ihn überhaupt nicht.

„Jetzt komm schon! Sieh dir das an!“, rief Paul von oben. Seine Stimme klang begeistert. Alle geschäftsmäßige Beherrschtheit war verflogen. „Es hat doch wirklich etwas für sich, dass wir an verschiedenen Tagen Sport haben!“

Die Buben der 6a hatten nämlich am Dienstag nach der sechsten Stunde, die Mädchen am Freitag nach der vierten Stunde Sport. Dementsprechend flöteten die Mädchen jeden Dienstag den Buben zu, was sie nachmittags noch alles erledigen würden, während die Buben laut mit ihrem verlängerten Wochenende prahlten.

Ade wollte kein Spielverderber sein. Deshalb kraxelte er ebenfalls auf den Kiesbehälter. Als er aber durch die dicken Scheiben spähte, eröffnete sich ihm ein eigenartiges Szenario.

Die Mädels standen auf die gesamte Turnhalle verteilt, jedes etwa zwei Meter vom anderen entfernt. Alle trugen sie ein weißes Top und eine dunkle Sporthose. Alle hatten sie Keulen in der Hand, die sie in einheitlicher Perfektion nach oben und unten kreisen ließen.

Ade gruselten diese synchronen Bewegungen. Aber er hätte nicht sagen können, warum.

*

„Willst du noch einen Nachschlag? Ein bisschen Pizza wäre noch da“, sagte Ades Mutter an Paul gewandt.

„Sehr gern“, antwortete der. An seinen Mundwinkeln klebte Tomatensoße, was seinen Mund fast doppelt so groß aussehen ließ.

„Ich hol sie schon!“, sagte Ade, als seine Mutter aufstehen wollte, und ging in die Küche. Wie ungewohnt dieses Bild war, dachte er, als er mit dem Pizzastück ins Wohnzimmer zurückkehrte. Paul wirkte so riesig, wie er dort am Tisch Ades zierlicher Mutter gegenübersaß.

„Und wo wollt ihr heut noch hingehen?“, fragte sie, während Paul glückselig in seine Pizza biss.

„So’n bissel von Tür zu Tür“, antwortete Ade.

„Süßigkeiten abstauben“, nuschelte Paul an seinem zerkauten Pizzaklumpen vorbei.

Es war Halloween. Draußen dunkelte es und man konnte von der kleinen Wohnung aus bereits die ersten Kinderbanden durch die Straßen ziehen sehen. Dieses Treffen mit gemeinsamer Übernachtung hatte Paul organisiert. Schon am Vormittag war er in Ades Wohnung erschienen, um seine Pläne mit ihm zu teilen.

„Jeder von uns hat also drei Kostüme“, hatte er erklärt, während er mit übergeschlagenen Beinen auf Ades Schreibtischstuhl gehockt war. „Nachdem wir eine größere Runde durch die Nachbarschaft gedreht haben, ziehen wir uns um und gehen nochmals zu denen, die freigiebig waren. Dann machen wir eine kurze Verschnaufpause und besuchen hernach in der dritten Verkleidung diejenigen, die auch beim zweiten Besuch noch freigiebig waren. Das ist der ultimative Abstaubzirkel.“

„Und als was verkleidet ihr euch dann?“, fragte Ades Mutter, nachdem Paul aufgegessen und sein Gesicht mit einer Serviette gereinigt hatte.

„Einmal als Zombies, einmal als Vampire und einmal als Werwölfe“, entgegnete Paul in einem Tonfall, der keinen Zweifel an der Sinnhaftigkeit seiner Pläne zuließ. Man hörte dem Buben an, dass er das Verhältnis zwischen dem Aufwand und den potenziellen Einnahmen seines Vorhabens schon hundertfach abgewogen hatte.

Ades Mutter schien von Paul und seiner Art nicht weniger fasziniert zu sein als Ade. Die dreiviertel Stunde, in der die drei um den kleinen Stubentisch herumsaßen, füllte der dicke Bub fast ausschließlich mit seinen Erzählungen, Ansichten und Zukunftsplänen, während die anderen mal auflachend, mal staunend lauschten.

„Wenn ihr wieder da seid, können wir ja noch ein bisschen Karten spielen“, bot die Mutter den beiden an, als sie sich im Hausgang von ihr verabschiedeten.

Pauls Abstaubzirkel stellte sich in der Tat als Erfolg heraus. Ade glaubte zwar, skeptische Blicke in den generösen Gesichtern der Hauseigentümer oder Mieter entdeckt zu haben; immerhin war erst ein kleiner und ein großer dicker Zombie, dann ein kleiner und ein großer dicker Vampir und schließlich ein kleiner und ein großer dicker Werwolf vor der Tür erschienen. Dennoch war das Ergebnis beachtlich.

Gegen elf Uhr nachts stauten sich in Pauls Jutesäckchen die wunderbarsten Süßigkeiten. Lutscher, Lakritzschnecken, Gummibärle, Schokoriegel, Überraschungseier, Kaugummis, Guzzis, Butterkekse, Brausepulver und allerlei bunt verpackter Konfekt.

Die beiden Freunde waren bester Laune. Ade hatte zwar kurzzeitig befürchtet, den schönen Abend platzen zu sehen, als er während der Tour glaubte, Justin, Mo und Franz zu begegnen. Weil sie aber in weiße Laken gehüllt waren, konnte er dies nur anhand ihrer Stimmen vermuten. Gott sei Dank, so dachte Ade, waren auch Paul und er zu diesem Zeitpunkt verkleidet und damit anonym gewesen.

„So und daheim teilen wir die Süßigkeiten auf“, beschloss Paul. Dies schien ihm ein wichtiger Punkt auf seiner Tagesliste zu sein. Ein Punkt, den er wohl oder übel abarbeiten musste.

„Halbe, halbe“, fügte er hinzu und Ade erkannte, wie schwer seinem Freund diese Worte fielen.

„Ich brauche nicht so viel“, antwortete Ade. „Wenn du mir ein paar Lakritzschnecken und was von dem Brausepulver gibst, langt das schon.“

„Nein, das kommt nicht in Frage!“, erwiderte Paul energisch. Dennoch konnte man ein hoffnungsvolles Glitzern über seine Augen huschen sehen.

„Aber so richtig gegruselt haben wir uns jetzt nicht“, meinte Ade. Im Grunde hatte er auch gar keine Lust, sich zu gruseln, doch er wollte noch nicht heimgehen.

„Warum sollten wir uns auch gruseln?“

„Na, gehört das nicht zu Halloween dazu?“

Paul überlegte. Ade betrachtete seinen Freund. Es gefiel ihm, wie dieser dastand mit seinem vom fahlen Mondlicht bläulich verfärbten Haar. Wie er grübelte, nur um ihm einen Gefallen zu tun. Ade wusste, dass Paul am liebsten gleich nach Hause gegangen wäre und die Beute aufgeteilt hätte. Dann hätte er bis zum Schlafengehen seinen Teil der Beute versonnen anstarren oder bereits damit beginnen können, ihn aufzuschlecken. Aus Freundschaft, aus ehrlicher Freundschaft tat er das nun nicht. Zumindest nicht sofort.

„Naja,“ sagte Paul langsam und starrte zum Gymnasium hinauf, das sich hinter der nächsten Häusersiedlung in den dunkelblauen Himmel erhob, „wir könnten ja nochmal zum verborgenen Garten schauen ...“

Ade versteinerte. Das wäre ja wirklich gruselig!

„Wir könnten versuchen, eine Räuberleiter zu machen, um wenigstens mal hineinschauen zu können“, fügte Paul hinzu. „Es ist ja einigermaßen hell heut Nacht.“

Wenngleich es Ade bei dem bloßen Gedanken daran schon schauderte, reizte ihn doch die Vorstellung, dem Geheimnis des Gartens gemeinsam mit seinem Freund auf die Schliche zu kommen. Er war ja nicht blöd. Er wusste, dass solche Erlebnisse zwei Menschen sehr fest zusammenschließen können. Um der Freundschaft und seiner Neugier willen stimmte er dem Vorhaben also zu und ignorierte seine Gänsehaut.

Auf dem Weg zur Turnhalle rief er seine Mutter an, die ihm eigens dafür ihr Handy mitgegeben hatte. Sie erlaubte den Buben, sich über die Mitternacht hinaus draußen herumzutreiben, nachdem Ade ihr verkündet hatte, dass Paul schon fast vierzehn Jahre alt war. Überdies schien auch sie den neuen Freund ihres Sohnes als dessen Beschützer anzuerkennen.

„Hat sie dir denn kein schlechtes Gewissen machen wollen?“, fragte Paul, nachdem Ade austelefoniert hatte.

„Nein. Wieso?“

„Ja, sie wollte doch noch mit uns karteln, oder?“

„Das können wir doch wann anders auch noch“, entgegnete Ade. Daraufhin verstummte Paul.

So gingen sie wortlos nebeneinander her, bis sie an der Turnhalle ankamen.

Die Welt hatte sich in den letzten Wochen enorm abgekühlt. In dieser Nacht zwischen Halloween und Allerheiligen erfüllte das Licht eines abnehmenden Mondes den wolkenlosen Himmel. Als die heftigen Herbstwinde für Sekunden ausblieben, konnte man das feuchte Laub am Boden knistern hören, wenn Regenwürmer die Blätter in ihr Erdreich zogen. Neben dem riesigen Quader der Turnhalle stehend lauschten die zwei Freunde abwechselnd auf das zarte Knistern und das tosende Rauschen. Das Dickicht vor ihnen lag in einem weißen Nebel, der vom Fluss her kriechend einen Busch nach dem anderen verschluckte. Als der stachelige Fruchtkörper eines Kastanienbaums auf den Asphalt krachte, fuhren die Buben in sich zusammen.

„Na, ist es dir jetzt gruslig genug?“, fragte Paul. Er lächelte, aber sein Brustkorb bebte. Ade nickte. Die Lust, in das nebelumwobene Gesträuch zu klettern, hatte sich in den letzten Minuten stark verringert.

„Also, dann“, meinte Paul und versuchte, seine Stimme locker klingen zu lassen, „hinein ins Abenteuer!“ Damit stieg er ins Gestrüpp.

Ade blickte ihm nach, nicht fähig, sich zu rühren. Als sein Freund aber in Nebel und Dunkelheit zu verschwinden drohte, befreite er sich aus seiner Erstarrung und eilte ihm nach.

Minutenlang kämpften sich die beiden durch das wilde Unterholz, während hervorspringende Äste ihre Arme zerkratzten. Sie gingen an der Mauer entlang auf der Suche nach einer Stelle, wo keine Brennnesseln waren. Der Vorteil war, dass sie auf diese Weise den Weg nicht verloren. Der Nachteil, dass sie hin und wieder die zischelnden Brennnesseln berührten. Doch all diese Schmerzen hielt Ade aus. Was er hingegen kaum ertrug, waren die sich auftürmende Dunkelheit, das laute Rauschen und Knacken und der dumpfe Nebel, der wie ein Kopfkissen alles unter sich zu ersticken suchte. Auch Paul schien sich zu fürchten. Als in den Wipfeln über ihnen ein Rabe laut schrie, stöhnte sein Freund vor Schrecken auf.

„Ich glaube, ich hab mich seit Jahren nicht mehr gegruselt!“, erklärte er Ade nach einer Sekunde des Luftholens.

Ich mich schon, dachte Ade. Es war ihm aber nicht nach Reden zu Mute. Er nickte nur.

Im selben Moment erkannten die Buben das kleine Tor.

„Vielleicht könnten wir es auftreten“, überlegte Paul. „Eine brennnesselfreie Stelle für eine Räuberleiter scheint es sowieso nicht zu geben.“

Ade ergriff den Knauf. Er wollte daran rütteln, um festzustellen wie fest das Tor in den Angeln saß. Es knackte, als er das rostige Metall drehte. Dann quietschte es und ...

Das Tor öffnete sich!

*

„Es ...“ stotterte Paul, „es ist offen!? Ich hab wohl das letzte Mal nicht energisch genug gedreht.“

Ade hielt den Knauf mit seiner Hand umschlungen, ohne das Tor weiter aufzuziehen. Er war immer noch nicht fähig, etwas zu sagen. Er blickte nur mit großen Augen von Tor zu Paul hin und her. Im tiefsten Innern war er sich unschlüssig, ob er den Garten jetzt – um Mitternacht – ausfindig machen wollte. Er hatte ja nicht wirklich mit einem Erfolg gerechnet. Andererseits nagte nun auch die Neugier an ihm.

„Wollen wir da reingehen?“, fragte Paul. Ade hatte die Bewegung seiner Lippen gesehen, doch es war nicht sein Freund, der gesprochen hatte. Es war die Angst in Person gewesen. Paul, dem plötzlich aufzufallen schien, wie er aus seiner pragmatischen Rolle fiel, schwenkte um.

„Ich meine,“ fuhr er in beherrschter Tonlage fort, „heute wird’s wohl nur die halbe Freude sein. Wir könnten ja morgen früh wieder kommen.“

Ade ließ seinen Blick von dem Türspalt zum Gesicht seines Freundes schweifen. Er sagte nichts.

„Ach, pfeif drauf!“, meinte Paul plötzlich, der den Blick nicht ertrug. „Da wird ja eh nix sein, außer noch mehr Gestrüpp!“

Als Ade das Tor unter fürchterlichem Quietschen aufzog, schien es beinahe, als hätte Paul Recht mit seiner Vermutung. Um den Torrahmen spannten sich dunkle Brombeerpflanzen, die, da der Wind nun durch den Eingang pfiff, mit einem Mal sämtliche Blätter verloren. In ihrer Mitte waren stabile Spinnennetze befestigt. Ade zählte nicht weniger als sieben dicke Spinnen, die ihre acht Beinchen vom Luftzug überrascht an den Leib drückten.

Paul presste die Lippen aufeinander und machte ein undeutliches Geräusch. Dann wischte er mit einem Hieb die Netze beiseite. Als sie zerrissen in ihren Angeln hingen, traten die Buben durch das Tor. Auch dahinter sah es wüst aus. Unterhalb der hohen Kastanien schob sich sprödes Gebüsch in Höhe und Breite. Der Kiesweg, der sich vor ihnen bis ins Innere des Gartens erstreckte, war an seinen Seiten derart von Sträuchern zugewuchert, dass nur mehr ein halber Meter seiner einst vielleicht zwei Meter messenden Breite begehbar war. Dort, wo kein Löwenzahn aus der steinigen Oberfläche quoll, spiegelte sich das Mondlicht. Hätte Ades Herz nicht so in seiner Brust rumort, wäre ihm der glänzende Weg in dieser Wildnis schön, ja, fast romantisch vorgekommen. Im Moment verband er diesen aber nur mit dem Zwang, in das menschenleere Gruselkabinett hineingehen zu müssen. Dass dieser Zwang von ihm selbst ausging, machte das Ganze nicht besser. Wenn er nun plötzlich aufschreien und wegrennen würde, machte er sich vor Paul gleich doppelt zum Narren.

Als die beiden den Kiesweg entlangschritten, raschelte es plötzlich im Gebüsch neben Ade. Bevor einer der Buben aber irgendetwas sagen oder machen konnte, sahen sie schon ein braunes Eichkätzchen aus dem Dickicht hervorschießen und in einer Baumkrone verschwinden.

„Wollen wir vielleicht ...“, flüsterte Ade seinem Freund zu, dann hielt er inne.

„Was denn?“, flüsterte Paul zurück. Seine Augen blickten um sich, wie Wochen zuvor im Indischen Restaurant.

Ade zögerte.

„Ach, nichts“, antwortete er. Er konnte Paul einfach nicht fragen, ob sie sich vielleicht die Hand geben wollten. Das hätte er bestimmt abgelehnt.

Weiter und immer weiter trabten die zwei, während der Kies unter ihnen knirschte. Drei-, viermal zuckten sie noch zusammen, wenn sie ein nahes Knacken oder das laute Rätschen eines Eichelhähers hörten. Dann wurde der Kiesweg von einem zweiten gekreuzt.

Paul und Ade blickten mit zusammengekniffenen Augen durch das hohe Gebüsch hindurch, um herauszufinden, wohin die Seitenwege führten. Am Anfang erkannten sie die vermoderten Steine nicht. Dann kam die Einsicht. Und mit ihr leise die Panik.

Sie befanden sich inmitten eines verwilderten Friedhofs. Die Grabsteine standen schief oder lagen gar auf dem feuchten Boden, der so uneben war, als hätte man die Erde voller Hast über die Leichen geschüttet. An einem Grabstein rechts von ihnen, den das Moos schon ganz überzogen hatte, konnten die Freunde eine Ratte scharren sehen.

Da reichten sich die Buben die zitternden Hände!

„Was ist das??“, wisperte Paul. Seine Augen quollen aus den Höhlen.

„Ein ... ein alter Friedhof“, gab Ade zur Antwort und krallte sich fester in Pauls Hand. Die Gänsehaut überzog jetzt jeden Zentimeter seiner Körperoberfläche. Von Herbstwind und Angst fröstelnd stand er da und betrachtete das Gesicht seines Freundes. Dann wurde es ihm klar: Paul hatte mit seiner Frage nicht den Friedhof gemeint. In seinen Augen spiegelte sich eine weiße Gestalt vor dem Hintergrund der schwarzen Nacht.

Ade schaute auf.

Hinter den letzten Grabsteinen, die in der Dunkelheit noch zu erkennen waren, stand ein bleiches Mädchen in einem weißen Kleid. Es starrte zu ihnen herüber. Seine Haut war bläulich aufgedunsen, die Augen verschwanden hinter zwei faustgroßen, dunklen Flecken auf dem Gesicht. Das rote Haar war nass und zerzaust, Algen und Stöckchen steckten darin. Unvermittelt senkte das Mädchen seinen Blick, bis das Gesicht ganz hinter dem Haargeflecht versteckt war. Es tat einen Schritt und verschwand blindlings in einer Grube. Erst jetzt sahen die beiden, dass die Spukgestalt vor einem ausgehöhlten Grab gestanden war.

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