Kitabı oku: «Weltschmerz und Wahnsinn», sayfa 2

Yazı tipi:

Jack

61 Jahre, Nähe Houston, Texas, USA

27. November 2019

Ich mache meinen stündlichen Rundgang, um zu sehen, ob auch alles seine Ordnung hat. Die Rinder sind schon wieder unruhig und bocken nur. Am liebsten würde ich ihnen allen nacheinander die dummen Schädel durchschießen. Aber am nächsten Tag würde ich es bereuen, da bin ich mir sicher. Eigentlich liebe ich sie doch. Und ich brauche sie, halte sie nicht zum Vergnügen. Meine Farm ist riesig, meine Rinderherde auch. Trotzdem bin ich weit und breit der einzige Mensch hier. Da und dort tummeln sich ein paar Farmarbeiter herum, aber eigentlich bin ich allein. Drei Söhne habe ich in diese gottverdammte Welt gesetzt und keinem dieser Idioten scheint mein Erbe etwas zu bedeuten, keiner dieser Nichtsnutze will meine Farm übernehmen. Nun gut, Benny, meinem Ältesten, sei es verziehen, denn er dient dem Vaterland, riskiert sein Leben als Soldat. Ein richtiger Mann. Aber die anderen beiden – pure Versager. Luke kritzelt irgendwelche Bilder, nennt sich Künstler und verdient nicht einmal genug zum Fressen. Und Josh? Keine Ahnung, wie man das nennen soll, was er da macht. Nimmt sein Leben mit der Kamera auf und irgendwelche Leute, die nichts Besseres im Sinn haben, schauen sich seine Videos im Internet an. Idiotisch. Wenn er wenigstens im Fernsehen wäre. Seit 61 Jahren lebe ich auf dieser Farm, auf der schon mein Vater und Großvater gearbeitet haben, und meinen Söhnen ist das egal. Sobald ich unter der Erde liege, werden sie mein Lebenswerk verkaufen. Die hundert Rinder, die vier Pferde, den Hund, die Katzen, die von selbst immer mehr werden, die Felder, die Ställe, mein Haus. Alles für nichts. Deshalb habe ich sie auch verjagt, will sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Nur von Benny bekomme ich noch ein Lebenszeichen. Hin und wieder, wenn es seine Situation zulässt. Ich drehe um, stapfe ins Haus zurück, neben dem die amerikanische Flagge im Wind flattert. Mein Haus, meine Farm, alles hier ist Amerika, wie ich es liebe. Das alles erinnert an Westernfilme, in denen Cowboys durch die Gegend reiten. Hier bin ich der Cowboy. Oder zumindest war ich es einmal. Vor langer Zeit. Als die Welt noch in Ordnung war. Ich stehe in der dunklen Küche und starre in den Spiegel, der neben dem Kühlschrank hängt. Vor vielen Jahren hatte ihn Sarah dort platziert. Sie brauchte in jedem Zimmer einen Spiegel, musste immer wissen, wie sie aussah. Wie sehr ich es liebte an ihr! Nun schaue ich in diesen Spiegel, sehe nur ein grimmiges, faltiges Gesicht mit einem zerschlissenen Cowboyhut auf dem Kopf. Wie wütend mich dieser Anblick macht! Ich erinnere mich daran, als Josh vor zwei Monaten hier war, wahrscheinlich das letzte Mal in seinem Leben und, genauso wie Sarah damals, in den Spiegel sah. Kurz war ich gerührt. Doch dann fing er an, sich über die Internetverbindung zu beschweren und tobte wie ein Rumpelstilzchen, welche Katastrophe es war, dass er sein Video nun nicht pünktlich „hochladen“ konnte. Wo auch immer er es „hochladen“ wollte. Er meinte, er habe fast vergessen, wie öde es hier war. Nicht so aufregend und glamourös wie in Miami, wo er nun mit seinen Millionen auf dem Konto lebt, wie er immer keck andeutet. Sein Geld war mir egal, seine Videos, sein blondes, langbeiniges Model auch, und sein beschissenes Miami sowieso. Er tippte ständig auf seinem Smartphone, war gar nicht richtig ansprechbar. Wie im Koma. Und als er dann noch meckerte, warum ich nicht einmal ein Smartphone habe, nur einen alten Fernseher und ein Tastenhandy und generell noch im 19. Jahrhundert lebe, packte mich die Wut und ich vertrieb ihn mit allem, was mir in die Hände fiel. Jetzt sehe ich nur mich selbst und mein grausames Leben im Spiegel. Beinahe drohe ich vor Wut zu platzen. Früher hätte mich Sarah angelächelt, mir über den Rücken gestreichelt und alles wäre gut gewesen. Doch sie ist ja nicht mehr da. Das Einzige, das bleibt, sind Fotos. Und meine Rinder. Meine Kehle schnürt sich zusammen und ich verliere mich in meiner Wut, stehe neben mir, wie der Statist meines Lebens. Ich raste aus, schnappe über, hasse alles und jeden. Schlage brüllend mit der Faust auf den Spiegel ein, bis die Scherben sich in meine Haut fressen, die Scherben meines Lebens, die Scherben der Erde. Das Blut läuft mir die Hand hinunter, tropft langsam auf den Boden. Und trotzdem wird es einfach nicht besser.

Amira

7. Dezember 2019

Natürlich weiß ich, dass ich mir selbst den Stress mache, aber die anderen, die anderen sind doch schuld daran. Sie reichen mir den Koffer aus Angst und Stress und ich trage ihn auch noch. Ich Idiotin schleppe ihn einfach mit, ich tue mir keinen Gefallen damit. Doch es wäre unhöflich und unangebracht, den Koffer einfach stehen zu lassen. Ich weiß, ich sollte den Koffer einfach stehen lassen. Aber ich kann nicht, ich kann es einfach nicht. Wenn man es gewohnt ist, immer gute Leistungen zu erbringen, dann möchte, nein, dann muss man dieses Niveau auch aufrechterhalten. Nicht nur, weil man es sich selbst beweisen will, sondern auch weil die anderen es für selbstverständlich halten. Familie, Lehrer. Die Fallhöhe eines Einserschülers auf eine Vier ist doch gewaltiger, länger und schmerzhafter, als von einem Viererschüler auf eine Fünf. Es sind immer Versagensängste im Spiel. Obwohl es doch eigentlich egal wäre, ob man eine Eins oder eine Vier bekommt, positiv ist positiv. Kein Hahn kräht danach. Wie oft ich das höre und gleichzeitig weiß, dass die Realität ganz anders ist. Die Familie sagt mir, dass Noten nicht wichtig sind, dass sie nicht enttäuscht oder gar böse sind, wenn es ein Vierer und kein Einser ist. Und wenn es dann wirklich einmal eintritt, was dann? Dann werde ich angeschrien oder einfach nur enttäuscht angestarrt. Dann bin ich plötzlich schlampig und faul. Tatsache ist, dass ich angefaucht werde, dass ich noch schön schauen werde, wie das mit mir weitergehe, dass die Fünf schon in Sichtweite sei und die Matura eine Katastrophe werden würde, wenn es so bliebe. Kein Aufmuntern, kein Trost, kein Beschwichtigen. Immer nur Angst, Vorwürfe und Druck. Der Druck der kalten Hand auf meinem Rücken, der immer fester wird. Dann frag ich mich, wie es den tatsächlichen „Fünferkandidaten“ gehen muss, die immer auf der Kippe stehen und in den finsteren Abgrund blicken müssen. Vielleicht ist es ihnen egal, denn sie kennen es nicht anders, sie sind es gewohnt. Warum sich vor etwas fürchten, das bereits normal ist, etwas, das man schon tausendmal erfahren hat und auch bewältigen konnte? Unbeschwert und leicht stelle ich mir das vor. Darauf geschissen. Gerne würde ich mitscheißen. Hätte ich es doch von Anfang an getan, jetzt kann ich mich nicht mehr wandeln. Oder ist jeder Schritt, jeder Gedanke, den sie tun, ein einziger Stressakt, ein verzweifelter Schrei, Angst, dass sie keine annehmbare Zukunft haben werden? Und da fragt sich noch irgendjemand, warum es in der Welt so viele Schulabbrecher gibt, die nicht weiter für ihre Bildung kämpfen! Nicht aus Dummheit und Faulheit, zumindest nicht nur. Möglicherweise gibt es auch diejenigen, die ebenfalls diese grausame Hand im Rücken spüren, die sie gegen die Wand drückt, bis die Atemnot eintritt, die sich in ihr Fleisch rammt, bis das Blut spritzt. Irgendwann hat diese Hand die komplette Kontrolle über dein Leben, über dein Überleben. Irgendwann kann man sich ihr nicht mehr fügen, ist jegliche Hoffnung ausgelöscht und man muss sich ihr endgültig entziehen. Wie sehnlichst ich mich ihr entziehen will! Warum denn keine Bildung, kein Wissen ohne diese gewalttätige Hand? Oder mit einer Hand, die dich aufmunternd anstößt und dir auf die Schultern klopft, anstatt dich labil zu schlagen. Wie schön, wie surreal das wäre! Warum nicht einfach lernen, ohne ständig etwas beweisen zu müssen? Schön wäre es, einfach mal weniger beweisen zu müssen. Wenn man nicht ständig unter Stress stehen würde, wäre man dann nicht von selbst ein bisschen wissbegieriger? So stellt sich die kleine Amira die Welt vor. Warum überhaupt die Maturaprüfungen? Warum kann es nicht möglich sein, die Ergebnisse des ganzen Schullebens zu berücksichtigen, Ehrgeiz und guter Wille inklusive? Nach zwölf Jahren Schule muss man ernsthaft noch etwas beweisen, braucht man wirklich diesen angsterregenden Abschlusstest? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was diese Welt wirklich braucht. Es ist Abend und ich laufe durch meine Heimatstadt Bad Ischl. Ich merke, dass ich schon wieder zu viel denke. Denken ist nicht gesund, Denken macht krank, ich wünschte, ich würde nicht andauernd über diese Welt nachdenken. Mein Onkel feiert heute seinen 40. Geburtstag in einem Lokal in der Innenstadt. Und ich bin spät dran. Die Sterne funkeln mich bereits antreibend an. Meine Eltern sind mit meiner siebenjährigen Schwester Mirjam schon vorausgegangen, denn sie wollten nicht auf mich warten. Normalerweise bin ich ja diejenige, die auf alle warten muss, doch wenn ich selbst einmal ein bisschen trödele, ist das unverzeihlich. Deshalb muss ich mich jetzt allein beeilen. Ich eile an den eleganten Häusern vorbei, sauge die eisige Luft in meine Lunge und ziehe dann die große Glastür des Lokals auf. Leicht angespannt trete ich in den mit orangefarbigem Licht durchfluteten Raum. Leise Musik schwirrt durch die Luft und ich sehe schon alle an einem langen Tisch sitzen. Mit einem breiten Lächeln begrüße ich sie, zuerst natürlich meinen Onkel. Dann setze ich mich zu meinen Eltern und zu Mirjam und bleibe weiter unscheinbar. Ich komme, man sieht mich, erkennt mich, vergisst mich. Wir essen, wir trinken, sind fröhlich und lustig. Heimlich beobachte ich meinen Onkel und seine Freunde, wie sie wieder über Politik diskutieren und glauben, sie könnten dadurch irgendetwas Wichtiges, Weltbewegendes erreichen. Mirjam beginnt an meinem Arm zu ziehen und will etwas mit mir spielen, doch ich schicke sie weg, meine, sie soll mit den anderen Kindern spielen, was sie danach auch macht. Ich beobachte weiter. Plötzlich setzt sich die Frau meines Onkels zu mir. Ich mag sie sehr und freue mich, sie redet mit mir und mit ihrer Schwester und irgendwie baue ich mich mit ein. Doch dann kommt die berühmte Frage, die wohl jeder Schüler einer Oberstufe kennt. Wie sehr ich diese Frage hasse.

„Weißt du eigentlich schon, was du nach der Schule machen willst?“

Ich lächle mein verzweifeltes Lächeln und schüttle den Kopf.

„Überhaupt keine Idee?“, bohrt sie weiter nach.

„Nein, nicht wirklich. Ich bin ziemlich unentschlossen. Es gibt viele Sachen, die mich interessieren, aber nichts, was ich für immer machen will“, antworte ich wahrheitsgemäß, aber nicht zu 100 Prozent ehrlich.

Natürlich denkt ein Schüler viel darüber nach, wohin der Weg gehen soll. Aber sich auf einen Weg fixieren, das ist doch unmöglich. Wie sehr ich es hasse, darüber zu diskutieren! Was willst du werden, was willst du machen? Ich habe keinen blassen Schimmer, was die Zukunft bringt. Was ich heute will und was ich morgen will, das sind doch zwei Paar Schuhe. Oft beneide ich die, die von klein auf wissen, dass sie Rechtsanwalt oder Arzt werden möchten. Ein solider anerkannter Beruf, das wünscht sich jeder für sein Kind. Da weiß man, was man studieren will. Doch dann beneide ich sie auch wieder nicht, denn wenn du merkst, dass die Realität doch kein Traum und der Beruf nichts für dich ist, dann kann deine ganze Zukunftsplanung innerhalb eines Tages einstürzen – bloß die Trümmer eines Trugbildes bleiben zurück. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass mein Herz für Literatur brennt. Für das Spiel mit den Worten, für die alte Ausdrucksweise und die vielen Geschichten. Im Moment. Gerade jetzt, ob morgen auch noch, das steht in den Sternen. Ich entdecke Goethe, Schiller, Brecht und Hesse und Hunderte andere und bade in ihren Worten, stelle mir ihre Weltsicht und ihre Erlebnisse vor, in einer vergangenen Zeit. Stürze mich in Bücher, deren Zeilen meine Seele heilen und bin so unendlich gerührt von dieser Kraft, die Worte ausstrahlen können, wenn man weiß, wie man sie richtig platziert. Doch was fängt man mit dieser Leidenschaft an? Kann ich ernsthaft sagen: „Leute, vielleicht studiere ich Literatur, vielleicht verlieb ich mich in Goethe!“

Ich sehe schon die entsetzten Gesichter, das verwunderte Kopfschütteln, das Kräuseln der Lippen der Leute. Literatur? Was soll man damit „werden“? Das ist eine brotlose Kunst! Nein danke, ich erspare mir diese verletzenden Blicke, warte erst einmal die Entwicklung meiner Hirngespinste ab und sage einfach: „Keine Ahnung, was aus meinem Leben werden soll.“ Schließlich ist es nicht gelogen. Denn ich weiß ja selbst nicht, was man damit werden kann. Ist doch eigentlich auch völlig egal. Ich möchte keinen Plan haben und wissen, wie mein Leben ablaufen soll. Möglichst schön will ich es haben. Doch wenn man sich einen Plan macht, ist das nicht garantiert. Pläne sind sowieso krampfhafte Anklammerungen an Träume. Pläne sind leicht zu durchkreuzen und haben ein Ablaufdatum, man weiß bloß nicht, wann es soweit ist. Lieber habe ich keinen Plan und schwimme einfach im Strom meines Schicksals. Dann werde ich auch nicht enttäuscht von unerfüllbaren Wünschen. Ich will im Hier und Jetzt leben und mich nicht mit meiner Zukunft quälen. Sie macht mich nervös, sie macht mir Angst, obwohl es doch nur besser werden kann. Besser als jetzt, besser als Schule, besser als ein Leben, das ohne mich stattfindet. Darum lächle ich meine Tante und ihre Schwester an, nippe an meinem Weißwein und sage, dass ich es noch nicht weiß. Und das Thema ist für mich erledigt. Redet nicht weiter auf mich ein, fragt mich etwas anderes, macht mir bitte einfach keine Angst.

Antonio

24. Dezember 2019

Heiligabend. Und ich bin wieder in Bergamo, bei meiner Familie. Der letzte Besuch hat mich aufgebaut und ich war in ihrer Gemeinschaft wider erwarten ein Stück weit entspannter als zuvor. Auch wenn sie fragten, nach allem fragten, mich mit Fragen bombardierten, lenkte ich unbeholfen ab und blühte nach einer Weile sogar auf. Wie eine Frühlingsblume. Fühlte mich plötzlich wohl, bei meinem Ursprung, bei meinen Wurzeln. Nun sitzen wir an diesem edlen Mahagonitisch, den meine Mutter vor kurzem besorgt hat. Sie hielt den alten, abgewetzten Tisch nicht länger aus und wollte endlich eine Spur Eleganz ins Haus bringen. In der Wohnzimmerecke steht der Christbaum, in voller Pracht mit rot-goldenen Kugeln und echten Kerzen, denn meiner Mutter kommen keine unromantischen, elektrischen Kerzen ins Haus. Die kleinen Flammen tauchen unsere Gesichter in warmes Licht und lassen manch verhärtete Züge ganz weich wirken. Wir essen Salat mit Tomaten und Oliven, danach wird der Wolfsbarsch hereingebracht. Wir sind fast in kindlicher Stimmung, wie früher, als alles gut war. Giorgio und seine Frau, Mama und Papa und ich mit mir allein. Das ist auch oft ein Thema. Meine Mutter will endlich wieder eine Hochzeit in der Familie erleben und mein Vater meckert, dass sie keine Hoffnungen in mich setzen soll, denn das stünde in weiter Ferne. Ich könne ja doch keine Frau halten. Viel zu sensibel, der Junge. Nun ja, zumindest heute werde ich von diesen Sticheleien verschont. Wir sind in Weihnachtsstimmung, sind fröhlich, sind andächtig, fast schon glücklich. Ein seltsames Gefühl. Ich wünschte, es würde nicht so flüchtig sein. Bleib doch noch, bleib! Geh nicht, hör ich mich schon rufen in ein paar Stunden, wenn ich gesegnet bin, vielleicht erst morgen oder übermorgen.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, springt meine Mutter auf und zeigt auf die große Pendeluhr, die sich neben dem Christbaum befindet. „Um Gottes willen! Wir haben beinahe die Zeit übersehen, es ist schon fast 22 Uhr, die Christmette beginnt gleich!“ Sie sprintet aus dem Wohnzimmer in das Vorzimmer. Ich muss ein leises Lachen unterdrücken, während ich ihr nachschaue. Wenn sie durch das Haus wuselt und ihr kurviger Körper auf einmal ungewöhnlich hektisch bebt, muss man einfach grinsen.

„Wäre wohl zu schön gewesen, wenn wir die Zeit übersehen hätten“, nuschelt Giorgio in sich hinein.

Seine Frau stößt ihn empört in die Seite. Die Kirche ist schließlich heilig.

„Kommt, lasst uns gehen! Wir wollen ihr doch keine Schande bescheren, zum Schluss muss sie während der Mette durch die ganze Kirche laufen, um einen Platz zu bekommen“, sagt mein Vater lächelnd und steht auf.

Die Messe ist vorbei, wir gehen wieder heim. Das Glücksgefühl ist immer noch da, auch wenn langsam die Gedanken wiederkommen. Es ist kalt und stockdunkel, nur die Straßenlaternen tauchen unsere Gestalten in ein warmes, orangenfarbiges Licht. Wir huschen durch die hübschen Gassen bis zu unserem Haus. Die Messe war etwas Magisches, meine Mutter schwärmt jedes Jahr zu Weihnachten und zu Ostern von der Messe. So magisch. So überwältigend. Die Orgel, der Chor, die Lichter, die Gemeinschaft. Aber ich gebe zu, es ist jedes Jahr aufs Neue wunderschön, auch wenn es banal scheint. Wir tuscheln über weiße Weihnachten und dass es schon so weit in der Vergangenheit liegt. Die Hoffnung, dass es vielleicht nächstes Jahr klappen könnte, ist naiv. Der Gedanke daran ist unwirklich, kitschig. Weiße Ostern scheinen wahrscheinlicher. Giorgio und seine Frau haben dieses kecke, verliebte Grinsen im Gesicht, und meine Eltern das warmherzige, vertraute Lächeln. Ich schleiche neben ihnen her. Ich bin immer dabei und doch bin ich es nicht. Mein Vater öffnet die Tür und wir treten in das Haus. Giorgio und seine Frau verabschieden sich und huschen eilig in den ersten Stock, wo sie wohnen. Morgen früh werden wir sie wiedersehen, wenn die Geschenke überreicht werden. Mein Vater klopft mir auf die Schulter und meint: „Komm, Sohn! Wir trinken noch eine Glas Wein. Du hast doch bestimmt nichts vor.“

Wie recht er hat. Ich nicke, lege meine Jacke ab und folge ihm. Wir setzen uns an den Mahagonitisch und betrachten schweigend den Christbaum. Giorgio kann immer reden, redet mit unserem Vater über alles und jeden und mir fallen nie sinnvolle Worte ein. Doch zum Glück kommen die Schritte meiner Mutter näher. Sie eilt mit der Weinflasche und den Weingläsern herein und redet schon vor sich hin. Sie setzt sich neben uns, schenkt uns ein. Ich spüre eine leichte Anspannung, höre das nervöse Gefasel, als wollten sie mit mir über ein unangenehmes Thema reden, sich aber nicht trauen.

„Was ist los?“, frage ich.

„Ach, Antonio! Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Eigentlich will ich es gar nicht ansprechen, aber es ist so belastend“, fängt meine Mutter bedrückt zu sprechen an.

Ich befürchte, es hat mit mir zu tun. Vielleicht will sie meinen Zustand ansprechen. Vielleicht haben sie gemerkt, dass ich anders bin, ruhig und traurig. Gott im Himmel, was soll ich ihnen sagen? Ich weiß doch selbst nicht, was los ist mit mir. Vielleicht sprechen sie mich auf meinen Job an, dass womöglich alles zu viel ist, dass ich kein „geborener“ Arzt bin. Viel zu sensibel, der Junge! Oder sie werfen mir vor, mich um die Flüchtlinge gekümmert zu haben, dass sie schuld an meinem Zustand seien, dass ich mir das nie hätte antun dürfen. Das könne doch kein normaler Mensch mitansehen, diese verlorenen Seelen. Damit sollten wir nicht in Berührung kommen, das tut uns doch nur weh, höre ich meine Mutter schon vorsichtig flüstern. Ich rutsche verlegen auf meinem Stuhl umher, trinke aus meinem Weinglas besonders lange und mit winzigen Schlucken. Wie ein kleiner Junge fühle ich mich ertappt.

„Antonio, ich weiß, es ist ein unpassender Moment, es anzusprechen. Heute ist schließlich Heiligabend, aber morgen am Abend willst du ja wieder nach Rom fahren.“

„Ich will nicht, Mama. Ich muss. Übermorgen habe ich schon wieder Dienst!“

„Ja, ja, ich weiß doch! Aber es ist wichtig!“

„Was denn?“ Ich werde ungeduldig.

„Also, ich arbeite viel in meinem Modegeschäft. Du weißt doch, Kleider schneidern, Kleider schneidern lassen und natürlich auch verkaufen“, fängt sie an.

„Natürlich weiß ich das, das machst du schließlich schon dein ganzes Leben!“, lache ich ein wenig verwirrt.

„Genau. Und du weißt doch, dass in der alten, riesigen Fabrikhalle in der Nähe jetzt wieder gearbeitet wird. Für irgendein bekanntes Modelabel. Armani, Gucci oder Chanel oder so. Ist ja auch egal, die sind ja alle gleich.“ „Mama? Auf was willst du hinaus? Komm zum Punkt!“

Ich werde ungeduldig, was will sie bloß?

Sie beginnt zu stottern: „Na ja, also ich bin ja nicht so begeistert von diesen Marken und wie du weißt, finde ich Mode von kleinen Boutiquen viel besser und deshalb bin ich dort vor kurzem hingegangen und habe mich ein bisschen umgesehen.“

Ich greife mir auf die Stirn und verdrehe die Augen: „Mama! Warum? Wozu?“

„Nur um zu schauen! Auf jeden Fall habe ich in die Fabrikhalle hineingeguckt. Es war furchtbar!“

Mein Vater schenkt sich mehr Wein ein und übernimmt das Wort: „In der Halle arbeiten ganz viele Chinesen. Allesamt verdreckt und ausgemergelt. Ganz bestimmt alles Schwarzarbeiter, denn sie leben dort richtig versteckt. Wie die Hunde!“

„Ja! Es ist schrecklich! Sie schlafen dort auf schmutzigen Matratzen, sind völlig verwahrlost. Die Frauen bekommen sogar zwischen den Nähmaschinen ihre Kinder! Und bezahlt werden sie wahrscheinlich nur mit einem Hungerlohn!“

Sie wird ganz emotional, greift sich an die Stirn und schaut in die Ferne. Damit hätte ich nicht gerechnet. Ich werde nachdenklich, doch ich weiß nicht, was ich denken soll. Natürlich tun mir diese Menschen leid, doch was soll ich dagegen tun? Dass die Welt ein grausamer Ort ist, das kann ihnen doch nichts Neues sein. Das Leid der anderen sehen meine Eltern, meines jedoch nicht. Überwältigt lehne ich mich an meinen Sessel und blicke zwischen ihnen hin und her. Wie Detektive fühlen sie sich. Ich sehe es an dem Funkeln in ihren Augen. Der Christbaum glänzt, der Mahagonitisch verleiht dem Haus tatsächlich eine ungewohnte Eleganz, die Pendeluhr läutet ein paar Mal und der Wein hat uns erwärmt.

„Habt ihr es Giorgio erzählt?“, frage ich.

„Nein, was soll er denn dagegen tun?“, antwortet meine Mutter mit einer wegwischenden Handbewegung.

„Aha. Und mir erzählt ihr es? Was soll ich denn dagegen tun?“

Ich bin verwirrt. Was erwarten sie von mir?

„Ich weiß nicht, du bist doch Arzt, du kannst sie dir doch einmal anschauen. Außerdem kennst du dich doch mit Flüchtlingen aus!“

„Das ist doch etwas anderes! Ich werde sie mir sicher nicht anschauen! Ich habe schon genug verzweifelte Menschen gesehen!“, beginne ich plötzlich laut zu werden. Ich erschrecke vor diesem ungewohnten Ton.

„Übrigens“, hole ich erneut aus, „chinesische Arbeiter in der Textilindustrie sind in Italien keine Seltenheit! Ich sag nur Pronto Moda! In Prato arbeiten schon seit Jahren Tausende chinesische Migranten in der Textilindustrie. Und in manchen Städten, ja, da sind auch Schwarzarbeiter. Das kann euch doch nicht ernsthaft schockieren! Chinesen sind billig!“ Ich schreie schon fast.

Wahrscheinlich will ich es wegschreien. Diese grauenhafte Wahrheit, diese Ausbeutung der Schwachen. Warum erzählen sie mir davon, warum quälen sie mich mit der Ungerechtigkeit der Welt? Ich habe bereits erfolglos versucht, dieser Ungerechtigkeit entgegenzuwirken. Jetzt will ich sie nur noch verdrängen. Doch es sei mir nicht vergönnt.

„Es tut uns leid, Antonio! Wir haben es nur gut gemeint. Wir dachten, du willst helfen. Wir dachten, du bist damit vertraut, und dass du die Erfahrung und Kraft hast, dich für diese Menschen einzusetzen“, redet mein Vater plötzlich ruhig auf mich ein.

Doch jetzt ist es zu spät. Meine innere Ruhe ist längst vernichtet. Ich springe auf und der Sessel fällt mit einem Scheppern zu Boden. Wie können sie es wagen zu denken, dass ich für irgendetwas noch Kraft hätte?

„Erzählt es doch einfach dem Bürgermeister, der soll sich darum kümmern! Oder ruft die Polizei! Aber lasst mich damit in Ruhe!“, schreie ich ihnen ins Gesicht.

Schon lange war ich nicht mehr so aufgebracht, schon lange habe ich mir den Schmerz nicht vom Leib geschrien. Sie wollen doch gar nicht helfen. Sie wollen einfach keine Schwarzarbeiter, keine Fremden. Wenn sie Menschen helfen wollen würden, wenn ihnen etwas an Menschenleben läge, würden sie sich doch auch um die Flüchtlinge scheren. Dann sähen sie das Leid, das um sie herum geschieht. Würden sie mir dann nicht auch helfen wollen? Ich renne aus dem Wohnzimmer, schlage die Türen hinter mir zu und verschwinde in meinem Zimmer. Wie ein bockiges Kind. Lasse die beiden am Tisch sitzen, nur ein Gefühl von Wut und Ratlosigkeit bleibt zurück. Das weihnachtliche Glücksgefühl ist verpufft, schneller als gedacht. Ich werfe mich auf mein Bett und starre leer an die Decke, spüre das Leid, von dem ich nie erfahren wollte. Mein Herz schnürt sich gefährlich eng zusammen, der Druck auf der Brust wird immer intensiver. Meine Eltern, meine geliebten Eltern, sehen sie mich überhaupt noch? Sehen sie, wer ich bin und was ich brauche? Sie sollten mich beschützen und nicht an die Front schicken.

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