Kitabı oku: «Eine Schale Getreide verändert die Welt»

Yazı tipi:

Magnus MacFarlane-Barrow

Eine Schale Getreide verändert die Welt

Die hoffnungsvolle Geschichte

von Mary’s Meals

Aus dem Englischen von Susanne Held


Titel der englischen Originalausgabe:

The Shed That Fed a Million Children

Erschienen 2015 bei William Collins, einem Imprint von

HarperCollinsPublishers, London

© Magnus MacFarlane-Barrow 2015


Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

© 2017 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Florian Stocker

Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag, Innsbruck

Lithografie: Artilitho, Lavis (I)

Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien

ISBN 978-3-7022-3589-5 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3607-6 (E-Book)

E-Mail: buchverlag@tyrolia.at

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Dieses Buch ist für Julie, ohne die es nichts gegeben hätte, über das man hätte schreiben können. Ich danke dir, dass du mich liebst.

Inhalt

Prolog


I. Fahrstunden in einem Kriegsgebiet
II. Eine Frau, bekleidet mit der Sonne
III. Kleine Akte der Liebe
IV. Ihr Kinderlein, leidet
V. Nach Afrika
VI. Ein Hungerland
VII. Eine Schale Porridge
VIII. Eine holprige Straße zum Frieden
IX. In einer Glitzerwelt
X. An den äußersten Rändern
XI. Freunde in den oberen Etagen
XII. Freunde ganz unten
XIII. Generation Hoffnung

Epilog

Dank

Prolog

Ich schreibe diese Zeilen im Schuppen meines Vaters. Vom Ben Lui, dessen mit Schnee bezuckerte Berghänge ich durch das Fenster über meinem Schreibtische sehen kann, bläst ein starker Ostwind. Die kalte Luft, die an meiner Wellblech-Behausung rüttelt und um den Schuppen heult, hat einen Weg ins Innere gefunden und streift um meine Füße. Ich kann hören, dass jemand ein Stück weiter weg mit der Motorsäge arbeitet – vielleicht mein Schwager, der Brennholz zuschneidet –, und ab und zu tuckert ein Traktor den Weg hinunter in Richtung Farm.

Wann der Schuppen erbaut wurde, wissen wir nicht genau. Schon lange bevor wir im Jahr 1977 hierher zogen, war er da gestanden. Auf einer Landkarte von 1913 ist er deutlich sichtbar eingezeichnet – die Karte hängt in einem holzgetäfelten Korridor von Craig Lodge, dem Teil des Hauses, den ich am liebsten mochte, als wir noch dort wohnten. Das würde also heißen, dass er schon über hundert Jahre hier steht. Deswegen ist es wohl verzeihlich, dass sich der Schuppen heute ziemlich deutlich in eine Richtung neigt, und es ist auch nicht verwunderlich, dass ich auf dem Dach über mir gerade etwas im Wind scheppern höre.

Nach unserer Ankunft diente er zunächst als Dads Garage und Werkstatt. Er hatte die perfekte Größe, um darin den alten Land Rover abzustellen, mit dem ich eines Tages fahren lernen sollte. Später verwandelte Dad den Schuppen in ein Spielzimmer für uns Kinder. Einmal hatte er zu Weihnachten eine außergewöhnliche Überraschung für uns parat: Als er für uns die Schuppentür öffnete, stand da ein fantastischer Billardtisch. Meine Brüder und ich verbrachten unzählige Stunden mit diesem Geschenk. Hinter dem Schuppen, genau vor meinem Fenster, befand sich unser Fußballfeld. Seumas, Fergus und ich spielten dort jeden Tag stundenlang. Wir schossen auf handgemachte Holztore, und unsere flinken Füße hinterließen am Rasen einen lehmigen Streifen, auf dem kein Gras mehr wuchs. In den Wintermonaten, in denen es so erbarmungslos früh dunkel wurde, schalteten wir regelmäßig alle Lichter im Schuppen und in den anderen Nachbargebäuden ein, um wenigstens für ein paar zusätzliche Minuten weiterspielen zu können. Später, in unseren ziemlich wilden Teenager-Jahren, kamen auch Freunde in den Billard-Schuppen. Manchmal wurde Bier hineingeschmuggelt. Als meine Eltern einmal nicht da waren, kam es dort zu einer katastrophalen Mostverkostung. Ich hatte den Most heimlich mit Äpfeln aus unserem kleinen Obstgarten angesetzt, der sich dort oben befand, wo heute mein eigenes Haus steht. Seit damals kann ich keinen Most mehr trinken.

Später, als wir nicht mehr zu Hause wohnten und Craig Lodge ein katholisches Exerzitienhaus geworden war, wurde der Schuppen für ein paar Jahre als „Rosenkranzfabrik“ genutzt, in der Mitglieder der örtlichen Jugendgemeinschaft Gebetsketten in unterschiedlichen Formen und Farben knüpften. 1992 fragte ich Dad dann, ob ich den Schuppen und auch das Nebengebäude von ihm borgen könnte, um Hilfsgüter darin zu lagern, die als Reaktion auf unseren kleinen Spendenaufruf für Flüchtlinge in Bosnien-Herzegowina hereinkamen. Natürlich war er spontan einverstanden. Er und meine Mum leisteten sowieso die meiste Arbeit, die mit dem Sammeln und Vorbereiten der Hilfsgüter anfiel. Und selbst wenn er damals gewusst hätte, dass er keinen von seinen Schuppen jemals wieder zurückbekommen würde, hätte er sicher trotzdem Ja gesagt: zum einen deswegen, weil er der großzügigste Mensch ist, der mir je begegnet ist; zum andern aber auch, weil er damit einen Grund hatte, neue Schuppen zu bauen. Denn glücklicherweise macht mein Dad das leidenschaftlich gern, man könnte geradezu sagen, dass er ein notorischer „Schuppen-Bauer“ ist.

Nachdem der Schuppen dann einige Jahre lang als Lagerraum für Kartons voller Kleider, Nahrungsmittel, Hygieneartikel und medizinischer Geräte gedient hatte, wurde er unser Büro; zuerst nur für mich als den einzigen Angestellten unserer Wohltätigkeitseinrichtung, später kamen meine Schwester Ruth und dann noch fünf weitere Helfer hinzu. Der Raum war mittlerweile so eng geworden, dass einige von uns ohne Schreibtisch mit dem Laptop auf den Knien arbeiten mussten. Daher wurde der Schuppen nebenan abgerissen, und Dad baute zusammen mit George, einem äußerst begabten Freund, eigenhändig einen speziell an unsere Bedürfnisse angepassten Büroraum aus Holz – ein wunderschönes und zugleich extrem praktisches Bauwerk. Als dann der Zeitpunkt des Umzugs in das fantastische neue Büro gekommen war, beschloss ich, hier in dem alten Schuppen zu bleiben. Das war sicher die richtige Entscheidung. Einigen mag es vielleicht seltsam, womöglich sogar dumm vorkommen, die Hauptverwaltung einer weltweit tätigen Bewegung in diesem alten, sich seitlich neigenden Schuppen in einem abgelegenen Teil Schottlands unterzubringen. Aber hier erinnere ich mich täglich, wie und warum wir mit dieser Arbeit begonnen haben. Außerdem kenne ich Menschen, die in Armut leben und zutiefst dankbar wären, wenn sie ein so großes und sicheres Haus für sich und ihre Familie hätten.

Unter den Fotos und Notizen, die über meinem Schreibtisch an die Wand gepinnt sind, findet sich auch das einer Familie, die in einem Haus lebte, das so klein und noch dürftiger möbliert war als dieser Schuppen. Meine Begegnung mit dieser Familie im Jahr 2002, während einer entsetzlichen Hungersnot in Malawi – zehn Jahre, nachdem wir jene erste kleine Hilfsgütersammlung nach Bosnien-Herzegowina gebracht hatten –, veränderte mein Leben und das von Tausenden anderen Menschen für immer.

Auf dem Bild sind sechs Kinder zu sehen, die neben ihrer sterbenden Mutter sitzen. Sie liegt auf einer Strohmatte. Ich erinnere mich, wie fürchterlich heiß es in ihrem Haus aus Lehmziegeln war. Mein Hemd war klatschnass, und obwohl ich mich so klein wie möglich machte, stieß ich mit dem Kopf an die niedrige Decke. Ich fühlte mich unwohl – wie ein überdimensionierter Eindringling in ihrem kleinen Haus, noch dazu in einem so ganz und gar intimen Augenblick dieser Familie. Aber sie hatten mich herzlich willkommen geheißen, und so kauerte ich mich neben sie hin. Meine Augen hatten sich mithilfe des wenigen Lichts, das durch ein kleines Fenster ohne Scheibe drang, an die Dunkelheit in dem kleinen Raum gewöhnt, und ich konnte sehen, dass Emma, in eine alte, graue Decke gewickelt, ständig ihre Hände rang, während sie zu uns redete.

„Jetzt bleibt nichts mehr zu tun als zu beten, dass sich jemand um meine Kinder kümmert, wenn ich nicht mehr da bin“, flüsterte sie, und leise erzählte sie mir den Grund für ihre Qualen.

Ihr Mann war vor einem Jahr gestorben, AIDS hatte ihn hinweggerafft, dieselbe Krankheit, die jetzt Emmas Kindern die Mutter wegnehmen würde. Sämtliche Erwachsene im Dorf, die sie kannte, kümmerten sich schon zusätzlich zu ihren eigenen Kindern um Waisen. Emma wusste nicht, wer jetzt auf ihre Kinder schauen sollte. Auch körperlich litt sie furchtbar. Die Nachbarin, die für Emma sorgte und unsere Unterhaltung übersetzte, war eine geschulte „häusliche Pflegekraft“, die sich heldenhaft dafür einsetzte, Emmas Qualen zu lindern, aber sie hatte nicht einmal die einfachsten Schmerzmittel, von Medikamenten gegen HIV/AIDS ganz zu schweigen. Aber Medizin hätte in diesem Fall ohnehin nichts genützt, denn damit sie wirken kann, muss sich der Patient ausreichend und gesund ernähren. Emma und ihre Kinder hatten schon seit Langem nicht mehr genug zu essen. Um ihre Hütte erstreckten sich verdorrte Felder, auf denen der Mais in diesem Jahr nicht hatte gedeihen können. Der Bauch von Chinsinsi, dem jüngsten Kind auf der Matte, war aufgrund der Unterernährung deutlich aufgebläht.

Ich begann ein Gespräch mit Edward, dem Ältesten. Er saß ganz aufrecht, als wolle er größer wirken, als er tatsächlich war. Sein schwarzes T-Shirt war ihm mehrere Nummern zu groß, doch im Gegensatz zu den schmutzigen Lumpen, die seine Geschwister um die Hüften trugen, sah es sauber aus. Er sagte mir, dass er 14 Jahre alt war, und erklärte, dass er die meiste Zeit seiner Mutter auf den Feldern oder im Haus geholfen hatte. Vielleicht suchte ich nur verzweifelt nach einem Lichtblick, durch den ich ein bisschen mehr Hoffnung in unser deprimierendes Gespräch bringen konnte, als ich ihn fragte, welche Wünsche und Ziele er habe. Auf keinen Fall rechnete ich mit einer Antwort, die mein Leben und das Leben von Hunderttausenden anderen Menschen verändern würde.

„Ich möchte genug zu essen haben, und ich möchte eines Tages zur Schule gehen können“, erwiderte er mit ruhiger und fester Stimme, nachdem er einen Moment lang nachgedacht hatte.

Als unser Gespräch zu Ende war und die Kinder uns nach draußen in die sengende malawische Sonne folgten, hatten sich diese schlichten Worte – gesprochen in dem Tonfall, mit dem Teenager ihre kühnsten Träume äußern – bereits unauslöschlich in mein Herz eingebrannt. Ein Schrei, ein Skandal, die Bestätigung einer Idee, die bereits konkrete Gestalt anzunehmen begann – ein Aufruf zum Handeln, den man nicht ignorieren durfte: Die Worte des Jungen sollten so vieles für mich bedeuten. In der schrecklichen Familientragödie, die sich in dieser dunklen Hütte abspielte, hatten sich viele Leiden und unlösbare Probleme, mit denen ich es in den vergangenen zehn Jahren unmittelbar zu tun gehabt hatte, gebündelt. Und Edwards Worte bestätigten eine Idee, die erst kürzlich jemand mit mir besprochen hatte; sie waren der Funke, der die bereits glimmende Vorstellung zum Lodern brachte, aus welcher später Mary’s Meals wurde.

An der Schuppenwand hinter mir verkündet ein Poster in großen Buchstaben unsere Vision:

Dass jedes Kind eine tägliche Mahlzeit in der Schule erhält; und dass all jene, die mehr haben, als sie benötigen, mit jenen teilen, denen das Nötigste zum Leben fehlt.

Mit jeder Woche, die in den Jahren seit meiner Begegnung mit Edward verging, wurde diese Vision deutlicher, und die Zuversicht, dass sie umgesetzt werden kann, immer stärker. Wir haben immer wieder neu gesehen, dass die Bereitstellung einer täglichen Schulmahlzeit das Leben der ärmsten Kinder wirklich grundlegend verändern kann, indem die Mahlzeiten ihren unmittelbaren Bedarf an Nahrung stillen und ihnen außerdem ermöglichen, die Schule zu besuchen und eine Ausbildung zu bekommen, mit der sie der Armut entkommen können. Und die Anzahl dieser täglichen Mahlzeiten, die von Freiwilligen vor Ort an arme hungrige Kinder in Schulen auf der ganzen Welt ausgegeben werden, ist in ganz außerordentlichem Maße gewachsen, sodass heute an jedem Schultag über eine Million Kinder Mary’s Meals erhalten.

Meinen Schuppen mag ich wirklich gern. Er bietet mir die stille Umgebung, die ich häufig dringend brauche, und er hat gerade so viel Platz, dass vier oder fünf Besucher mit mir um einen Tisch sitzen, eine Tasse Tee trinken und reden können. Und meine Beschränkung auf dieses Büro gibt meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Abstand, den sie wahrscheinlich von mir – einem unheilbar schlampigen Menschen – brauchen. Außerdem ist er eindeutig der beste Ort, um dieses Buch zu schreiben.

Das Foto von Edward und seiner Familie ist lediglich eines von vielen, die an meiner Wand hängen und entscheidende Szenen unserer Reise zeigen: ein bosnischer Mann, der vor seinem zerstörten Haus mit seinem Hund spielt; lachende Kinder auf einem staubigen afrikanischen Schulhof; ein blinder Mann in Liberia mit einem selbst geschnitzten weißen Stock und einem wunderschönen Lächeln; eine weitere Gruppe von Kindern, diesmal aus Dalmally – darunter auch meine eigenen –, die gerade dabei sind, die Außenwand des Schuppens frisch zu streichen; eine junge Julie am Steuer unseres Trucks, kurz nachdem ich sie kennengelernt habe; eine Julie mittleren Alters und ich bei einer Begegnung mit Papst Franziskus; ein erst kürzlich entstandenes Bild von mir und Hollywood-Star Gerald Butler, wie wir lachend Wassereimer auf unseren Köpfen tragen; ein Foto im Passbild-Format von Attila, einem der ersten unserer rumänischen Kinder, das gestorben ist; eine Karte, auf der Thank you from Texas steht, und um diese Worte herum eine Menge liebevoll handgeschriebener Zeilen von dortigen Schülerinnen und Schülern; eine Postkarte aus Medjugorje; ein einfaches, in Liberia angefertigtes Holzkreuz; und ein Foto von Pater Tom in Haiti, der so tut, als würde er mit jemandem boxen. Über dem Fenster, unter der rostigen Verkleidung einer Neonröhre, hängt ein kleines Kruzifix. Einige große Landkarten zieren die anderen Wände – die Welt, Indien, Malawi, die U-Bahn von New York und andere mehr.

Um meinen Laptop herum liegen jede Menge Briefe und Notizbücher, darunter auch der freundliche Brief des Präsidenten von Malawi (wo wir mittlerweile 25 Prozent der Schulkinder ernähren), in dem er mir für unser letztes Treffen und für unsere Arbeit dankt. Ein anderer Brief stammt von jemandem in Haiti, der uns bittet, mit den Mahlzeiten von Mary’s Meals an einigen Schulen dort, die es bitter nötig hätten, zu starten. Und dann dieser anonyme Brief, bei dem ich weinen musste, als ich ihn zum ersten Mal las:

Liebe Mitarbeiter von Mary’s Meals, beiliegend erhalten Sie einen Scheck über 55 Dollar als Beitrag zur Ernährung eines weiteren Kindes. Das Geld stammt von einem Mann in einem Pflegeheim: Er ist an den Rollstuhl gefesselt, rechtsseitig gelähmt und kann nicht sprechen. Er erhält finanzielle Unterstützung von Medicare und Medicaid. Die 55 Dollar sind alles, was er gespart hat. Er hat das Geld aus zwei verschiedenen Verstecken geholt, als er von Mary’s Meals erfuhr. Ich bin sicher, es wird für einen guten Zweck eingesetzt. Gott segne Sie.

Ich hatte nie die Absicht, diese Art von Arbeit zu tun, und sicher war ich nie erpicht darauf, eine Organisation zu gründen. Als Leiter einer solchen Mission bin ich denkbar ungeeignet. Alles ist ohne mein willentliches Zutun geschehen, durch eine Reihe unerwarteter Ereignisse und Begegnungen und durch freundliche Aufforderungen, auf die Menschen überall mit außerordentlicher Liebe und Ergebenheit reagierten. Die Begegnung mit Edward war entscheidend dafür, dass wir uns ganz auf die Arbeit konzentrierten, die wir heute tun. Andererseits aber war sie lediglich ein Ereignis in einer Kette von Ereignissen, die zu dem Zeitpunkt, als er jene Worte zu mir sprach, bereits zwanzig Jahre zurückreichte. Sie begann sich zu bilden, als ich erst 15 Jahre alt war, in einem entlegenen Dorf mitten in den jugoslawischen Bergen, wo ich einer anderen liebenden Mutter begegnete, die sich um ihre Kinder sorgt.

I.
Fahrstunden in einem Kriegsgebiet

Sei demütig, denn du bist aus Dung gemacht. Sei edel, denn du bist aus Sternen gemacht.

(Serbisches Sprichwort)

Wir wussten, dass die Männer, die von den Bergspitzen über der Stadt den Tod über die Menschen brachten, normalerweise morgens ihren Kater ausschliefen. Deshalb brachen wir früh auf – dann würden wir es schaffen, nach Mostar hinein und auch wieder heraus zu kommen, bevor die schweren Waffen ihr erbarmungsloses Werk wieder aufnehmen und die Häuser, Kirchen, Moscheen, Fahrzeuge und Menschen der Stadt in Stücke reißen würden. Auf den Beifahrersitzen neben mir quetschten sich während dieses letzten Abschnitts unserer Viertagereise von Schottland Pater Eddie, ein untersetzter Priester mittleren Alters, und Julie, eine große, schöne junge Krankenschwester. In den letzten Tagen waren wir drei gute Freunde geworden. Vor zwei Nächten hatten wir auf unserem Parkplatz neben einer Tankstelle in Slowenien bis weit in die Nacht hinein geredet. Pater Eddie überraschte und verstörte uns auch ein wenig, als er erklärte, er habe, bevor er von Schottland aufbrach, das Gefühl gehabt, er werde womöglich nicht zurückkehren, weshalb er praktisch seinen gesamten weltlichen Besitz an die Angehörigen seiner Gemeinde verschenkt hatte. Später berichtete Julie, sie sei wenige Monate zuvor mitten in der Nacht mit dem deutlichen Gefühl aufgewacht, Gott verlange von ihr, ihren Job aufzugeben, um den Menschen in Bosnien-Herzegowina zu helfen. Ihre Geschichte bewegte mich – es kam darin Julies tiefer Glaube zum Ausdruck, außerdem ähnelte das, was sie erzählte, in manchem meiner eigenen Geschichte. Ich schämte mich jetzt ein bisschen, denn als sie mich das erste Mal angerufen und wegen einer Mitfahrgelegenheit nach Bosnien-Herzegowina gefragt hatte, war ich von der Vorstellung überhaupt nicht begeistert gewesen. Mittlerweile jedoch war ich sehr froh, dass sie es geschafft hatte, mich umzustimmen.

Während wir durch die karge bosnische Landschaft mit ihren schartigen Felsen und dem Dornengebüsch fuhren, beteten wir einen Rosenkranz zusammen; dem schloss sich eine nervöse Unterhaltung an, während ich mich auf die enge, gewundene Straße konzentrierte. Bald kamen wir an den Überresten menschlicher Behausungen vorbei. Einige waren nur noch Schutthaufen, andere, die noch standen, hatten sich in ausgebrannte, mit Einschüssen übersäte Ruinen verwandelt. Wir sprachen jetzt nicht mehr. Die Straße begann, sich den Berg hinunterzuwinden, und vor uns tauchte Mostar auf. Die Stadt erstreckt sich entlang der Neretva, dem berühmten Fluss, von dem es häufig heißt, er bilde die Trennlinie zwischen der östlichen und der westlichen Kultur, und der nun die Grenze zwischen den serbischen Streitkräften und dem kroatischen und muslimischen Territorium markierte, durch das wir fuhren. Man konnte jetzt die Minarette der Moscheen im alten osmanischen Viertel sehen, und ich musste kurz an meinen ersten Besuch in dieser Stadt zurückdenken, vor vielen Jahren, als wir durch die kleinen Straßenstände am Flussufer geschlendert waren und jungen Männern zugeschaut hatten, die ihre Tapferkeit bewiesen, indem sie von der berühmten Stari-Most-Brücke herunter ihre tollkühnen Sprünge in die tosenden grünen Fluten vollführten.

Bei der Fahrt in die Stadt hinunter wurden wir an einem Kontrollpunkt angehalten, der mit einigen HVO-Soldaten (Männern der bosnisch-kroatischen Armee) besetzt war. Ein dünner Mann mit einem Maschinengewehr über der Schulter und einer Zigarette im Mund kam zu meinem offenen Fenster und starrte uns mürrisch an. Sein nach Brandy riechender Atem wehte in die Fahrerkabine. Ohne auch nur den Hauch eines Lächelns streckte er seine Hand aus, und wir gaben ihm unsere Pässe und die Zollpapiere für das medizinische Gerät hinten in unserem Lastwagen. Die Ablieferung dieser Gerätschaften war der Grund für unsere Reise, und jetzt, in ungefähr einem Kilometer Entfernung, konnten wir an den Hängen der Stadt unter uns auch schon Mostars Kreiskrankenhaus sehen, unser eigentliches Ziel. Man konnte es unschwer erkennen, und wir staunten über das moderne, glänzende Gebäude, das sich turmhoch über den benachbarten Häusern erhob. Selbst auf diese Entfernung erkannten wir, dass eine Granate ein riesiges, hässliches Loch in eine Seite gerissen hatte.

Der Soldat winkte uns durch, und wir fuhren vorsichtig durch Straßen voller verbogenem Metall, Glasscherben, Trümmerhaufen, ausgebrannten Autos, aufgerissenem Asphalt und hasserfüllten Graffiti. Schließlich erreichten wir das Klinikgelände. Vor dem Krankenhaus waren mehrere Kühllaster mit laufenden Motoren geparkt – Behelfs-Leichenhallen in einer Stadt, die schon lange nicht mehr genug Platz für ihre Toten hatte.

Unter dem Vordach des Haupteingangs hatten drei Leute vom Klinikpersonal in weißen Overalls unsere Ankunft bemerkt und winkten. Jetzt verließ mich meine Angst und machte einem euphorischen Gefühl Platz. Ich setzte dazu an, mir innerlich zu einer Aufgabe zu gratulieren, die ich gut bewältigt hatte, und stellte fest, dass ich mich fragte, ob Julie wohl beeindruckt war. Doch da merkte ich – einen Tick zu spät –, dass das Winken der Leute, die uns begrüßten, sich in dringliche Stopp-Signale verwandelt hatte und ihr Lächeln in Schreckensmienen. Mein Herz klopfte wie verrückt, als ich auf die Bremse stieg – und ein knirschendes Geräusch über meinem Kopf hörte. Das Willkommenskomitee vor uns krümmte sich jetzt vor Lachen, und nun erst kapierte ich, was passiert war: Gerade hatte ihr Krankenhaus einen weiteren Volltreffer abbekommen, diesmal von einem kleinen, verbeulten Lastwagen aus Schottland, dessen dilettantischer Fahrer die Höhe des Vordachs über dem Eingang falsch eingeschätzt hatte, und statt dass er darunter parkte, war er direkt hineingerauscht! Eine schnelle Untersuchung ergab, dass ich in die obere Ecke der Verladebox ein Loch gerissen hatte, wohingegen der Schaden am Vordach des Krankenhauses praktisch neben dem, was dem Rest des Gebäudes widerfahren war, überhaupt nicht ins Gewicht fiel. Den größten, nachhaltigsten Schaden hatte mein Ego abbekommen.

Wir luden die Sachen zügig aus und tranken mit zwei jungen Ärzten rasch eine Tasse Kaffee. Sie schlugen vor, die Stadt zu verlassen, bevor wieder Granaten geworfen würden; wir sollten ihnen hinterherfahren zu einem ungefährlicheren Ort, dort könnten wir reden. In der Nähe von Medjugorje, wo wir übernachten wollten, hielten sie vor einem Motel, das von Gewehrschüssen und Granaten beschädigt war.

Beim Kaffee erklärten uns die Ärzte, wegen des ausgedehnten Schadens an ihrem Krankenhaus könne man nur noch das Erdgeschoss benutzen. Das Gebäude war mittlerweile grotesk überfüllt, und es fehlten selbst die grundlegendsten medizinischen Geräte. Besonders erfreut waren die beiden über die Fixateurs externes, die wir mitgebracht hatten – so viele Patienten kamen mit zerschmetterten Gliedmaßen, und sie baten uns dringend, noch mehr von diesen Haltesystemen zum Ruhigstellen von Gliedmaßen zu bringen. Wir erklärten ihnen, dass Julie mit mir gekommen war, weil sie, eine ausgebildete Krankenschwester, ihre Stelle in Schottland kündigen und hier als Freiwillige arbeiten wollte. Sie antworteten, Krankenschwestern hätten sie genug, aber eben nicht genug medizinische Apparaturen. Sie schlugen vor, Julie solle mich doch bei meinen Bemühungen unterstützen, in Schottland die benötigten Hilfsmittel aufzutreiben, denn mittlerweile hatten sie gemerkt, dass ich nicht nur kein sonderlich begabter LKW-Fahrer war, sondern auch keine Ahnung von medizinischen Instrumenten hatte. Es wäre also dringend nötig, eine Person hinzuzuziehen, die etwas von der Sache verstand, wenn ich für sie von irgendwelchem Nutzen sein wollte. Ich war überrascht, wie erfreulich die Perspektive für mich klang, mit Julie zusammenzuarbeiten, murmelte aber nur, wir könnten ja mal drüber nachdenken. Julie äußerte sich ganz ähnlich, woraufhin ich beschloss, mir lieber keine Hoffnungen zu machen. Dann ging das Gespräch, wie nicht anders zu erwarten, von medizinischen Fragen zur Kriegssituation über.

Die Ärzte berichteten, dass die „Tschetniks“ in den Bergen mittlerweile nicht nur das Krankenhaus beschossen, sondern auch die Krankenwagen. Mehrere Ambulanzen, die mit Patienten zum Krankenhaus unterwegs waren, waren zerstört worden. Mittlerweile hatten unsere Gesprächspartner ihren türkischen Kaffee gegen Sliwowitz eingetauscht (einen regionaltypischen Pflaumenschnaps), und jetzt fingen sie an zu erzählen, wie sie zum Krieg standen. Sie waren voller Hass gegen ihre Feinde, die „Tschetniks“, und die Unterhaltung wurde nun ziemlich beklemmend. Die beiden Ärzte, die uns stundenlang erklärt hatten, was sie brauchten, um schwer verletzte Menschen zu heilen, fingen jetzt an, detailliert zu beschreiben, was sie einem Tschetnik-Soldaten antäten, wenn er ihnen in die Hände fiele. Mit Listen von dringend benötigten medizinischen Geräten verabschiedeten wir uns und versprachen, so bald wie möglich mit weiteren Hilfsgütern zurückzukommen.

Das war der fünfte Trip, den ich innerhalb kurzer Zeit nach Bosnien-Herzegowina unternommen hatte. Bei den Touren davor war ich immer von einem anderen Familienmitglied oder Freund begleitet worden. Jede Tour hatte für einen 25-jährigen Fischzüchter, der nie zuvor in seinem Leben daran gedacht hatte, Fernfahrer zu werden, eine steile Lernkurve bedeutet. Ich entdeckte eine ganze von Fernfahrern bewohnte Welt mit einer ganz eigenen Kultur, die mir nicht immer freundlich entgegenkam und auch nicht immer leicht zu verstehen war. Schon die Sprache war ein Problem. Es gab neue Ausdrücke zu lernen, beispielsweise „Tachograf“ (Fahrtenschreiber, also das Gerät, das die Fahrstunden und die Geschwindigkeit des Fahrers aufzeichnet), oder „Spedition“ (die Leute, die die nötigen Zollpapiere vorbereiten).

Erschwert wurde das Ganze durch den Umstand, dass wir nur Englisch sprachen – und das auch noch mit schottischem Akzent. Eine meiner ersten Touren unternahm ich mit Robert Cassidy, einem guten Freund aus Glasgow, dessen Akzent noch heftiger war als mein eigener Argyll-Zungenschlag. Wir fuhren einen 7,5-Tonner voller gespendeter Kartoffeln nach Zagreb. Es war mitten im Winter und bitter kalt. Wir schliefen hinten im Truck zwischen den Paletten voller Kartoffeln, und eines Morgens wurden wir in der Nähe der österreichisch-slowenischen Grenze wach und mussten feststellen, dass das Wasser in unseren großen Trinkflaschen komplett gefroren war. Ein Thermometer an der Tankstelle zeigte uns an, dass es sechs Grad unter null hatte.

Einer der neuen Spezialausdrücke, die wir uns aneignen mussten, war „Plomb“ (Plombe). Damit wird das kleine Bleisiegel bezeichnet, das die Zollbeamten beim Grenzübergang hinten an den LKWs anbringen; man kann so, wenn man das Land wieder verlässt, nachweisen, dass man durchgefahren ist, ohne den Anhänger geöffnet und Waren zu- oder abgeladen zu haben. Damals wussten wir allerdings noch nicht, was dieser Ausdruck bedeutet, weshalb ein Zollbeamter uns mit zunehmender Irritation wieder und wieder durch die Fensteröffnung seines Kabäuschens das Wort zubellte. „Plomb?“ – Er wollte einfach wissen, ob unser Fahrzeug versiegelt war. Nachdem Robert auf diese Frage mehrmals nur mit einem Blick blanksten Unverständnisses reagiert hatte, antwortete er schließlich in seinem schönsten Glasgow-Akzent: „Nae plums, just tatties. Loads of tatties.“ (Keine Pflaumen, nur Kartoffeln. Haufenweise Kartoffeln.) Worauf nun natürlich der Zollbeamte mit befremdet-amüsiertem Blick reagierte. Er wusste nicht einmal, in welcher Sprache er uns antworten sollte.

Damals waren einige Brücken an der großen Fernstraße entlang der Adria, über die wir die Straße nach Zentral-Bosnien-Herzegowina hinein erreichten, von Granaten zerstört. Man musste daher, wenn man diese Route benutzte, mit einer kleinen Fähre nach Pag übersetzen (einer langgestreckten schmalen Insel, die sich parallel zur Küste erstreckt), die ganze Insel entlangfahren und dann weiter im Süden die Fähre zurück aufs Festland nehmen. Einmal standen mein Schwager und damaliger Beifahrer Ken und ich in einer Schlange mit Hunderten von LKWs, die auf die kleine Aushilfsfähre warteten – auf einer Straße, die garantiert nicht für große, schwere Fahrzeuge gebaut worden war. Da brach plötzlich ein fürchterlicher Sturm los. Die Fähren stellten ihren Betrieb ein, und wie alle Fahrer um uns herum waren wir jetzt in unserer Fahrerkabine gefangen. Draußen heulte ein eisiger Wind um unseren Truck – er rüttelte das Fahrzeug so heftig hin und her, dass wir dachten, wir würden gleich umkippen. Auf der engen Straße war an Wenden nicht zu denken. Uns blieb also nichts anderes übrig als zu warten, bis der Sturm sich legte. Wir hatten in unserer Kabine an Proviant lediglich eine große Schachtel Schokoladenriegel der Marke Twix, die wir in den nächsten 48 Stunden penibel einteilten. Hin und wieder, dem Ruf der Natur folgend, kämpften wir mit der Tür, um hinauszuklettern; draußen rutschte man dann auf einem zugefrorenen Fernfahrerurinstrom aus, der sich vom Gipfel des Bergs zu dem kleinen Landungssteg am Ende der kurvigen Straße zog. Damals nahm ich mir vor, in Zukunft abwechslungsreicheren, gesünderen Proviant für Notfälle einzupacken – oder zumindest eine größere Auswahl an Schokoladenriegeln.

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